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Lehrerverbandspräsident zur Coronakrise
"Es werden Schülergruppen abgehängt"

Bei einer stufenweisen Öffnung der Schulen werde es möglicherweise Klassen geben, die in diesem Schuljahr nicht mehr in den Unterricht zurückkehrten, sagte Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Lehrerverbands, im Dlf. Daher seien Konzepte für Förderung, Wiederholungskurse und Stoff-Kürzungen nötig.

Heinz-Peter Meidinger im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 17.04.2020
Ein Schild «Schule geschlossen!» hängt am Tor des Gutenberg-Gymnasiums in Mainz.
Bei stufenweisen Öffnungen sollen zunächst die Abschlussklassen wieder zurück an die Schule dürfen (dpa / picture alliance / Andreas Arnold)
Als erstes sollen wieder die Abschlussklassen in die Schulen gelassen werden, damit diese auf die Prüfungen vorbereitet werden können. Das seien überschaubare Gruppen und deswegen sei es gut machbar, dass Abstands- und Hygieneregel auch in der Schule eingehalten werden können, sagte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und Schulleiter des Robert-Koch-Gymnasiums im bayerischen Deggendorf, Heinz-Peter Meidinger im Dlf. Problematisch sieht er hingegen, wenn stufenweise wieder mehr Kinder und Jugendliche an die Schulen zurückkehren. Denn um diese in kleinen Gruppen unterrichten zu können, bräuchte es mehr Lehrer. Dabei würden weniger Lehrkräfte zu Verfügung stehen, da gerade ältere Lehrer als Teil einer Risikogruppe aus dem System herausgenommen werden müssten. Daher bedürfe es eines Gesamtkonzeptes, welches über dieses Schuljahr hinausreiche.
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Münchenberg: Herr Meidinger, Bayern macht es ja oft ein bisschen anders als die anderen. Dort soll die schrittweise Öffnung der Schulen erst am 11. Mai erfolgen, eine Woche später, als bundesweit beschlossen. Reicht das zunächst einmal aus Ihrer Sicht als Schulleiter aus, um das Robert-Koch-Gymnasium entsprechend vorzubereiten?
Meidinger: Grundsätzlich ist das natürlich für uns alle eine völlig neue Situation. Das heißt, wir haben im Schulbetrieb viele Dinge, die haben wir schon oft ausprobiert und da wissen wir, die funktionieren. Da ist es natürlich ein bisschen anders. Das sind neue Herausforderungen.
Auf der anderen Seite ist es so: Wir haben jetzt überall einen Vorlauf. Der ist unterschiedlich lang. In NRW ist er relativ kurz, bis dort die Abi-Klassen jetzt wieder einsteigen. In anderen Ländern ist er etwas länger. Der große Vorteil ist natürlich: Wir haben es erst mit einer überschaubaren Gruppe zu tun. Das heißt, es ist natürlich leichter, für ein Zehntel der Schüler, sage ich mal, an einem Gymnasium diese Maßnahmen zu treffen, als wenn wirklich alle Schüler da wären. Dann ist die Geschichte Pausenhof und so weiter, Gänge, eine ganz andere Herausforderung.
05.02.2018, Bayern, Deggendorf: Heinz-Peter Meidinger, Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes und Schulleiter des Robert-Koch-Gymnasiums in Deggendorf. 
Heinz-Peter Meidinger ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und Schulleiter des Robert-Koch-Gymnasiums im bayerischen Deggendorf. (dpa / picture alliance / Armin Weigel)
Häufigeres Händewaschen geplant
Münchenberg: Aber konkret an Ihrer Schule? Wie geht man da vor, zum Beispiel Infektionsschutz, Mundschutz, mehr Platz in den Klassenräumen? Was wird da gemacht?
Meidinger: Konkret an meiner Schule ist es so, dass wir für die Oberstufenschüler, die bei uns am 27. April an die Schule zurückkehren, Räume vorhalten. Wir nehmen jetzt die größten Klassenzimmer. Die werden so bestuhlt, dass eineinhalb bis zwei Meter Sicherheitsabstand sind. Wir lassen diese Räume jetzt auch noch mal reinigen. Die werden auch in Zukunft in engerem Zeittakt gereinigt. Wir haben auch schon Atemschutzmasken zur Verfügung gestellt gekriegt von der Stadt Deggendorf.
Es gibt ja keine Atemschutzmasken-Pflicht bei diesem großen Abstand, aber wir werden es den Schülern und auch den Lehrkräften zur Verfügung stellen, und dann hoffen wir, dass wir da einigermaßen hinkommen. Wir werden auch in kürzeren Abständen die Schüler auf die Toiletten lassen, um die Hände zu waschen. Das sind die Dinge, die wir uns jetzt derzeit überlegen.
Sorgen, wenn mehr Schüler zurückkommen
Münchenberg: Deggendorf kümmert sich, hat man den Eindruck. Bei Brennpunktschulen, zum Beispiel an Schulen, die finanziell nicht so gut ausgestattet sind, dürfte das sicherlich anders sein. Wie ist da Ihre Einschätzung? Ist eine Schulöffnung jetzt für Prüfungsklassen ab dem 27. April organisatorisch überhaupt zu schaffen?
Meidinger: Für die Prüfungsklassen, für diese überschaubare Gruppe glaube ich, dass wir das hinkriegen werden. Natürlich haben Schulgebäude teilweise andere Bedingungen, engere Gänge, weniger Waschgelegenheiten, schlechten Zustand der Toiletten und was sonst noch. Aber für diese überschaubare Gruppe, glaube ich, ist das jetzt stemmbar. Was mir vor allem Sorgen macht ist, wenn dann mehr Schüler in die Schule zurückkommen bei der stufenweisen Öffnung. Da wird es natürlich im dynamischen Schulgeschehen vor allem immer schwieriger.
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Münchenberg: Sie haben vorhin auch schon angesprochen: Es geht um die Ausstattung mit Masken, um Desinfektionsmittel. Das sind ja gerade Produkte, die weltweit, muss man sagen, nachgefragt werden. Da werden auch die Kommunen, die sich darum kümmern müssen, sehr schnell an Grenzen stoßen, weil sie die Sachen einfach nicht bekommen.
Meidinger: Da bin ich mir nicht ganz so sicher, weil im Grunde genommen geht es nicht um die medizinischen Atemschutzmasken, sondern um einfache Atemschutzmasken. Es wird auch keine Pflicht geben. Wir werden sie den Schülern zur Verfügung stellen und den Lehrkräften. Ich hoffe schon, dass wir da an Material kommen, auch bei den Desinfektionsmitteln.
Es ist ja ein Vorlauf da, es ist eine überschaubare Gruppe. Ich hoffe schon, dass wir in den Schulen einigermaßen vergleichbare Bedingungen hinkriegen. Natürlich wird es keinen hundertprozentigen Schutz geben. Den haben wir natürlich auch in den Supermärkten nicht und sonst wo. Aber wir werden alles tun, damit eine gewisse Sicherheit da ist.
Und natürlich: Es gibt Hochrisiko-Personen, Lehrer mit Vorerkrankungen, ältere Lehrkräfte, aber auch Schüler. Die müssen wir eventuell aus dem System rausnehmen beziehungsweise auch einzeln Prüfungen schreiben lassen. Da gibt es ja verschiedene Modelle. Hessen und Rheinland-Pfalz haben ja schon Abiturprüfungen geschrieben. Die haben das dann auch bereits getestet.
Münchenberg: Haben Sie denn auch eine Zahl, eine Übersicht, wenn Sie von den Risikogruppen sprechen, gerade ältere Lehrer, die krankheitsbedingt oder altersbedingt gefährdet sind? Gibt es da konkrete Zahlen?
Meidinger: Es gibt da nur Schätzungen. Das kommt natürlich auf die Kriterien an. In Baden-Württemberg hat die dortige Ministerin jetzt mal geschätzt, das könnten bis zu 25 Prozent der Lehrkräfte sein. Bei den Schülern wird die Zahl natürlich deutlich niedriger liegen. Wobei ich jetzt auch schon Rückmeldungen habe von Lehrkräften, die über 60 sind und sagen, bitte, bitte, ich möchte meine Abi-Schüler nicht im Stich lassen, bitte nehmt mich aus dem System nicht raus, ich bin top fit. Das wird auch immer eine Einzelfallprüfung sein.
Neue Unterrichtsmodelle nötig
Münchenberg: Aber trotzdem stellt sich die Frage, wenn die Schulen sukzessive immer mehr geöffnet werden, gleichzeitig manche Lehrer gar nicht zurückkommen aus Sorge, sich anstecken zu können, gleichzeitig soll es kleinere Klassen geben. Wie soll das in der Praxis funktionieren?
Meidinger: Das funktioniert jetzt, weil wir nur einen Teil der Lehrer brauchen, weil wir genügend Räume haben. Aber in der Tat: Wenn man sich vorstellen würde, alle Schüler kommen zurück an die Schulen, stufenweise, was weiß ich, dann im Juni, dann wird das jetzige System nicht funktionieren. Halbe Klassen mit Lehrern in der Schule, da bräuchten wir doppelt so viele Lehrer, wir bräuchten doppelt so viele Räume. Die haben wir nicht. Dann brauchen wir andere Modelle, etwa ein Modell, dass dann nur die Hälfte des Unterrichts in der Schule erteilt wird, oder nicht mal die Hälfte, weil wir auch dann auch auf einen Teil der Lehrer verzichten müssen.
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Münchenberg: Auf der anderen Seite sagen Experten, je länger Kinder, zum Beispiel gerade aus schwierigen oder sozial benachteiligten Familien nicht in die Schule gehen, desto größer ist die Gefahr, dass sie auch weiter abgehängt werden. Ist der Druck nicht auch von dieser Seite groß, dass man auch deshalb sagen muss, man muss die Schulen so schnell wie möglich öffnen?
Meidinger: Ja, es ist ein riesiges Dilemma, das wir derzeit haben. Einerseits der Gesundheitsschutz ist klar. Auf der anderen Seite merken wir natürlich: Je länger Schule zu ist, trotz aller Erfolge des Home Schoolings und der digitalen Möglichkeiten, es werden Schülergruppen abgehängt – genau die, die keine elterliche Unterstützung haben, schlecht Deutsch sprechen, Sprachförderung brauchen, speziellen Förderbedarf haben, Inklusionskinder und so weiter.
Diese stufenweise Öffnung heißt ja eigentlich auch, dass manche Schüler vielleicht in diesem Schuljahr überhaupt nicht mehr zurückkehren in die Schule, bestimmte Klassenstufen, oder sehr spät. Da müssen wir uns sehr gute Konzepte überlegen – das kann wahrscheinlich in diesem Schuljahr nicht mehr erfolgen; das wird sich weit ins nächste Schuljahr erstrecken -, wie wir diese Lücken schließen. Bestimmte Förderung, Zusatzunterricht am Nachmittag vielleicht. Da werden wir Wiederholungskurse, wir werden auch wahrscheinlich den Stoff kürzen müssen vorübergehend an der Schule und uns auf das Wichtigste konzentrieren. Da sind gute Konzepte gefordert.
Verkürzung von Sommerferien geht fehl
Münchenberg: Ist denn ein Konzept vielleicht, dass man sagt, man verkürzt die Sommerferien, damit auch mehr Stoff nachgeholt werden kann?
Meidinger: Ich glaube, zum jetzigen Zeitpunkt eine Diskussion um eine Verkürzung von Sommerferien zu führen, geht eigentlich fehl. Ich glaube auch, dass das gar nicht mal den großen Effekt hat, sondern es braucht ein großes Gesamtkonzept. Wie das dann aussieht, da biete ich auch den Ministerien die Zusammenarbeit mit den Lehrerverbänden an. Das muss man dann mal sehen.
Münchenberg: Wie groß ist denn Ihr Zutrauen in die Kultusminister, dass man sich tatsächlich auf ein Gesamtkonzept einigen kann?
Meidinger: Ich bin ja bekannt dafür, dass ich die Kultusminister gerne auch hart kritisiere.
Münchenberg: Bitte schön!
Meidinger: Wir haben natürlich jetzt eine Sondersituation, wo wirklich gefordert ist, dass wir alle zusammenstehen. Die Schulfamilie muss jetzt zusammenstehen, sowohl die Politik als auch die Lehrer, die Eltern, die Schüler. Wir müssen diese Herausforderung gemeinsam meistern, übrigens ganz konkret auch. In der Schule müssen natürlich auch die Kinder selber aktiv werden, um den Abstand einzuhalten, auf den Pausenhöfen, an den Schulbus-Haltestellen. Jedem muss bewusst sein, dass er eine große Verantwortung hat. Die Kultusminister, glaube ich, haben das auch verstanden. Sie haben sich jetzt nach Langem zusammengerauft, erst einmal bei den Prüfungen, jetzt auch beim Schulbeginn, und ich hoffe, dass sich das dann fortsetzt.
"Großes Engagement der Lehrkräfte, Schüler auf digitalem Weg zu begleiten"
Münchenberg: Aber noch mal zu den sozial benachteiligten Schülern, um auf die zu sprechen zu kommen. Sie haben gesagt, wir brauchen da wahrscheinlich ein Nachlernen. Dazu sind die Lehrer dann auch bereit?
Meidinger: Wir helfen da auf jeden Fall mit. Es ist ja auch jetzt schon so, dass ein großes Engagement der Lehrkräfte da ist, die einzelnen Schüler auf digitalem Wege zu begleiten beziehungsweise auch in der Kommunikation zu sein. Das wird sich mit Sicherheit fortsetzen.
Münchenberg: Noch eine letzte Frage mit der Bitte um eine kurze Antwort. Die Bildungsgewerkschaft GEW hat einen Corona-Bonus für die Prüflinge ins Spiel gebracht. Ist das sinnvoll?
Meidinger: Die jetzige Prüfungsgeneration darf nicht benachteiligt werden. Ich würde sagen, jetzt sollen mal die Prüfungen geschrieben werden. Wenn sich herausstellt, dass da tatsächlich eine besondere Situation war, die zu schlechteren Ergebnissen geführt hat, dann muss man sich wirklich diese Geschichte anschauen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.