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Leidenschaft für Reportagen

Der einstige Spiegel-Autor Martin Pollack hat Glanzstücke der polnischen Reportagekunst gesammelt, übersetzt und jetzt in deutscher Sprache herausgebracht. Brigitte van Kann hat ihn besucht.

18.07.2006
    Martin Pollack:
    "Wenn man sich in der polnischen Presselandschaft umschaut – die ist ohne Reportage einfach gar nicht denkbar."

    Keine überregionale Tageszeitung in Polen, die nicht ein eigenes Ressort für die journalistische Königsdisziplin unterhielte.

    "Es gibt einfach soviele wunderbare Reportagen, die mit Recht literarische Reportagen genannt werden können ..."

    Von der Reportage kommen Reiseschriftsteller wie Ryszard Kapuściński oder die vielgeehrte Hanna Krall, deren Erzählungen allesamt dokumentarisch, das heißt: verdichtete Geschichten aus dem wahren Leben sind. Die beiden gelten als Begründer des polnischen Reportagestils und sind eng mit der renommierten Gazeta Wyborcza verbunden, die es auf stolze 300 große Reportagen im Jahr bringt: Hanna Krall war die erste Chefin des Reporterteams der Zeitung und Kapuściński lässt dort die meisten seiner Bücher als Vorabdruck erscheinen.

    Elf meisterhafte Reportagen aus der Gazeta Wyborcza – der Zeitraum erstreckt sich von 1992 bis 2005 – hat der österreichische Übersetzer und Autor Martin Pollack ausgewählt und in deutscher Übersetzung herausgebracht.

    "Die Reportage in dieser Form, die große, analytische Reportage, hat in Polen eine großartige Tradition. Was mich immer verblüfft hat, warum ist das in Polen so, warum funktioniert das in Polen, und bei uns nicht."

    Martin Pollack war vor 22 Jahren der erste, der mit seinem Buch "Nach Galizien" eine literarische Sehnsuchtsreise gen Osten unternahm, in eine gleich mehrfach versunkene, vergessene Welt. Damals war sein Galizien noch ein imaginäres, aus der Literatur gespeistes – heute sind die Grenzen durchlässig und es gibt viele Möglichkeiten, sich mit Osteuropa, seinen Menschen und seiner reichen Geschichte vertraut zu machen. Pollacks Sammlung polnischer Reportagen ist eine besonders reizvolle, denn in kaum einem anderen Polen-Buch der letzten Zeit erfährt man so viel und aus erster Hand über unsere östlichen Nachbarn.

    Der Titel "Von Minsk nach Manhattan" vermisst den neuen Aktionsradius, die ungeheure Dynamik, die das polnische Leben seit dem Ende des Kommunismus bestimmen. Ein großer Teil der hier versammelten Texte gilt denn auch den Erschütterungen, die die neue Zeit für den Einzelnen mit sich bringt. Die Gewinner von Turbokapitalismus und Globalisierung überlassen die Autoren den Hochglanzmagazinen, sie interessieren sich mehr für die Verlierer und ihre zerstobenen Träume.

    Reporterin Irena Morawska geht dem Schicksal polnischer Schwarzarbeiter in Manhattan nach und erfährt von Menschen, die vor Verzweiflung und Einsamkeit Selbstmord begehen, die, arbeitsunfähig nach schweren Unfällen auf schlecht gesicherten Baustellen, sich selbst nur noch als "Garbitsch", als Abfall bezeichnen, die für Spottlöhne schuften und in Kellerlöchern kampieren, während zu Hause Ehe und Familie in die Brüche gehen – die Wirklichkeit des "polnischen Schwarzarbeiters", der oft als kollektiver Konkurrent und Lohndrücker gesehen, aber kaum als Mensch wahrgenommen wird. Piotr Głuchowski lässt junge Polen zu Wort kommen, die als sogenannte Sales Supervisor arbeiten und Markenprodukte, vom Hundefutter bis zur Zigarette, in polnischen Supermärkten platzieren – kein Traumjob trotz ordentlicher Bezahlung und Firmenwagen, sondern gnadenloser Druck und Hetzerei von Ort zu Ort im Dienste der Konzerne.

    Tomasz Patora und Marcin Stelmasiak deckten eine Reihe perfider Verbrechen auf. Tatort: der neu entstandene Markt konkurrierender Bestattungsunternehmen. Für jede gelieferte "Haut", so heißen die Leichen im Insider-Slang, bekamen Besatzungen von Rettungswagen und Notärzte Geld von den Bestattern. Anstatt zu helfen, beförderten die Helfer ihre Opfer auch schon mal mit einer Spritze ins Jenseits. Eine Reportage, die ganz Polen erschütterte und die zuständigen Behörden zum Handeln zwang.

    In Umbruchszeiten bieten Reportern erfahrungsgemäß reichen Stoff. Doch die polnische Leidenschaft für Reportagen ist älter als das Ende des Kommunismus.

    "Die polnische Reportage hat während des Kommunismus eine ganz gene Funktion erfüllt. Es war den Reportern möglich, eine Kritik zu üben, die andere nicht hätten üben können. Das erklärt sich aus der Reportage heraus, die ja immer den Einzelfall nimmt, das Einzelschicksal beschreibt – und das war zulässig. Anhand des Einzelschicksals konnte man Kritik üben. Und die Leser haben das im Kopf umgesetzt und gesagt: Aha, der meint ja nicht den Einzelnen, der meint das System insgesamt, der meint die allgemeine Erscheinung - und das hat funktioniert."

    Mit dem Anbruch der Demokratie wurde die Reportage in Polen nicht etwa obsolet, auch wenn sie nun keine politische Contrebande mehr schmuggeln musste. Die Leser waren an die großen, vielfach glänzend geschriebenen Stücke gewöhnt, ihr Inhalt, aber auch ihre Machart, ihre literarischen Qualitäten sind immer noch Gegenstand der Unterhaltung, wenn sich Leser ein und derselben Zeitung begegnen.

    "Ich glaube, dass die Polen sich einfach selbst unter Druck setzen: dadurch, dass die Polen so eine breitgefächerte Reportage haben, müssen die Leute einfach unheimlich gut schreiben, damit sie überhaupt noch bemerkt werden. In Polen, damit sie wirklich hervorstechen, müssen sie sich ständig etwas Neues überlegen – die müssen ständig die Reportage neu erfinden."

    Junge polnische Reporter streben in die Literatur – alle in Martin Pollacks Band versammelten Autoren haben inzwischen eigene Bücher veröffentlicht. Ein Teil ihrer Reportagen wendet sich der nicht vergangenen Vergangenheit zu, zum Beispiel Jacek Hugo-Baders "Die Revolution sollte doch eine Freude sein" über die betrogenen Hoffnungen der Juden unter dem Sowjetstern; Paweł Smoleński rekonstruiert ein Stück der tragischen polnisch-ukrainischen Geschichte, deren Tote noch immer nicht beerdigt sind.
    Doch im Grunde beackern die Reporter das Feld der Gegenwart: Aus Anlass des hundertsten Geburstags des jiddischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer stellt Tomasz Kwaśniewski die provozierende Frage "Was weißt du über Singer?" Er stellt sie in Singers Geburtsort, wo niemand den Dichter so richtig würdigen mag. Formal die dichteste Reportage, denn Kwaśniewki entbietet seine Gespräche mit den Verantwortlichen des Orts kommentarlos in Form eines absurden Theaterstücks.

    Das Juwel der Sammlung ist zweifellos Mariusz Szczygiełs Reportage "Reality", die Geschichte einer Frau, nach deren Tod die Angehörigen entdecken: sie hat jede Minute ihres Daseins protokolliert und nummeriert: wen sie gesehen, wen sie gegrüßt, welche Geschenke sie empfangen oder gemacht hat, was sie zum Frühstück, zu Mittag und zu Abend gegessen hat. Das Stenogramm eines unauffälligen Lebens, notiert scheinbar ohne jede emotionale Beteiligung in hunderten von Heften, lückenlos über vierzig Jahre lang. So sehr sich der junge Reporter bemüht und die Beweggründe der Protokollantin zu ergründen sucht – ihre Person und ihr Tun bleiben ein Rätsel. Eindringlich wird die Geschichte durch ihren knappen, puristischen Stil, in dem es keinen überflüssigen Satz, kein unnötiges Wort gibt.

    Zum Lesen dieser großen Reportagen braucht man Zeit und Besinnung – manche der Texte sind zwanzig, dreißig Buchseiten lang. Wie anders die Uhren in Polen trotz aller stürmischen Westangleichung immer noch gehen, wurde bei einer Lesung im Hamburger Literaturhaus deutlich: Eine junge Zuhörerin maulte, derart lange Zeitungstexte könne sie erst nach ihrer Pensionierung lesen. Elegant konterte einer der auf dem Podium versammelten polnischen Reporter mit einem Witz:
    "Der Besucher einer Fabrik beobachtet einen Arbeiter, der die ganze Zeit hektisch mit einer leeren Schubkarre auf dem Gelände herumfährt. Auf die Frage, warum er denn mit einer leeren Schubkarre fahre, sagt der Arbeiter: Wir haben so viel zu tun, dass wir gar keine Zeit haben, die Karre zu beladen!"