Mittwoch, 24. April 2024

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Leistungen für EU-Ausländer
"Eine große soziale Errungenschaft"

Wer betrügt, der fliegt: Wie diese CSU-Parole im Europawahlkampf seien pauschale Ressentiments gegenüber EU-Ausländern oft falsch, sagte Eberhard Eichenhofer, Professor für Sozialrecht an der Universität Jena, im Deutschlandfunk. "Europa hat nämlich ein soziales Gesicht, was selten gesehen wird."

Eberhard Eichenhofer im Gespräch mit Friedbert Meurer | 22.05.2014
    Zwei Männer stehen am 08.01.2014 in Berlin an einer Haltestelle des Zentralen Omnibusbahnhofes Berlin (ZOB) neben einem aus Rumänien eingetroffenen Reisebus.
    Seit Jahresbeginn haben Bürger aus Rumänien und Bulgarien freien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt - das führt zu heftigen Debatten. (picture alliance / dpa / Marc Tirl)
    Es gebe einen Zuwachs an Hartz-IV-Beziehern auch aus Rumänien und Bulgarien; dieser falle insgesamt aber kaum ins Gewicht, sagte der Rechtswissenschaftler Eberhard Eichenhofer an der Universität Jena im Deutschlandfunk. Der Streit im deutschen Sozialrecht konzentriere sich auf die Frage, "ob die Personen, die arbeitssuchend sind und in Deutschland wohnen, eine wichtige Voraussetzung, dann von SGB-II-Leistungen ausgeschlossen sein dürfen, wenn sie Ausländer sind".
    Europas Idee: Wanderarbeiter schützen
    EU-Ausländer kommen nur nach Deutschland, um hier Sozialleistungen abzukassieren statt zu arbeiten: Diese pauschale Annahme sei auch bei der Frage nach der Kindergeldberechtigung falsch. Auch Studenten und Rentner müssten nicht arbeiten, seien aber berechtigt. Das Kindergeld decke zudem nur ein Drittel der effektiven Kosten für ein Kind ab. Auch sei nicht die Staatsangehörigkeit, sondern der Wohnort entscheidend. Eine Ausnahme gelte für Gastarbeiter, deren Kinder im Heimatland leben. Dann zahle die Bundesrepublik - allerdings nur einen Differenzbetrag, wenn der zweite Elternteil im Heimatland arbeitet.
    Es sei die Idee Europas, "dass Wanderarbeit nicht mit sozialrechtlichen Nachteilen verbunden sein soll", sagte Eichenhofer. "Europa hat nämlich ein soziales Gesicht, was selten gesehen wird. Das erste Gesetz, was die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erließ, betraf die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, dazu gehört die Regelung über die Kindergeldzahlungen. Das ist eine große soziale Errungenschaft, die man mehr würdigen sollte, als es zuweilen geschieht."

    Das Interview in voller Länge
    Friedbert Meurer: Es ist ein ziemlich heißes Eisen, die Diskussion über Ausländer, die nur nach Deutschland kommen, um hier Sozialleistungen abzukassieren. Vor allem Rumänen und Bulgaren wird das unterstellt, obwohl die offiziellen Zahlen das bisher nicht hergeben. Die CSU macht Wahlwerbung mit Slogans wie "Wer betrügt, der fliegt". Die Bundesregierung hat gestern angekündigt, die Gesetze verschärfen zu wollen. Wer betrügt, soll fünf Jahre lang eine Einreisesperre nach Deutschland bekommen. Ohne Frage ist der angebliche Sozialtourismus ein wichtiges Thema im Wahlkampf, in Großbritannien, den Niederlanden und auch bei uns. Gestern forderte der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof, wer nur auf Sozialleistungen aus ist, der hat keinen Anspruch. – Professor Eberhard Eichenhofer ist Rechtswissenschaftler an der Universität Jena, forscht zu diesem Gebiet. Guten Morgen, Herr Eichenhofer.
    Eberhard Eichenhofer: Guten Morgen, Herr Meurer!
    Meurer: Um mit Hartz IV zu beginnen: Ab wann haben Ausländer Anspruch auf Hartz IV?
    Eichenhofer: Wenn sie in Deutschland ihren ständigen Wohnsitz haben, wenn sie in Deutschland beschäftigt sind oder beschäftigt waren. Wenn sie sich dagegen in Deutschland auf Arbeitssuche befinden, haben sie im Grundsatz keinen Anspruch. Das ist die Regel. Das heißt, die Ansprüche auf Hartz-IV-Leistungen setzen zunächst einmal voraus, dass die Personen in Deutschland wohnen. Das heißt, dass sie dort ihren Lebensmittelpunkt haben. Das ist nicht der Fall für Personen, die nur vorübergehend in Deutschland Arbeit suchen.
    Meurer: Aber ist es so schwer, in Deutschland einen ständigen Wohnsitz zu bekommen? Wir haben die Freizügigkeit seit 1. Januar auch für Bulgaren und Rumänen.
    Eichenhofer: Rechtlich ist das ganz einfach, ökonomisch ist das schwierig. Sie wissen alle, dass der Erwerb einer Wohnung sehr teuer ist und dass auch die Anmietung einer Wohnung mit Kosten verbunden ist, vom Umzug ganz zu schweigen. Es gibt allerdings natürlich die Möglichkeit, etwa bei Verwandten, bei Kollegen, bei Nachbarn unterzukommen, und die Rumänen-Fälle, die in der Presse behandelt werden, haben typischerweise diese Gestaltung zur Grundlage. Nachbarn aus einem Dorf aus Rumänien sind nach Deutschland gekommen und nehmen nun ehemalige Nachbarn auf, oder Verwandte leben bereits in Deutschland und nehmen ihre Schwestern und Brüder auf, die dort wohnen. Dann können sie hier einen Wohnsitz begründen und dann stellt sich das Problem, ob sie Hartz-IV-Leistungen bekommen.
    Aufstockungsbeträge sind relativ gering
    Meurer: Das eine Kriterium, sagen Sie, ist der ständige Wohnsitz. Darüber haben wir gerade gesprochen. Das andere, ob jemand hier eine Beschäftigung hat oder hatte. Wie wichtig ist dieser Punkt?
    Eichenhofer: Das ist sehr entscheidend, weil wenn jemand in Deutschland eine Beschäftigung hat, dann stellt sich gegebenenfalls die Frage, ob das Einkommen aufgestockt wird durch SGB-II-Leistungen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der SGB-II-Berechtigten ist ja voll beschäftigt, verdient aber nicht so viel, dass der Lohn zum Lebensunterhalt ausreicht, und dann besteht die Möglichkeit des Aufstockens. Sehr richtig. Die Personen, die aufstocken, die sind im Prinzip auch berechtigt, diese Aufstockungsleistungen in Anspruch zu nehmen, wenn sie ausländische Staatsangehörige sind.
    Meurer: Wie oft gibt es da Zahlen? Wie viele EU-Ausländer, um über die zu reden, bekommen, können ihren Lohn aufstocken in Deutschland?
    Eichenhofer: Es gibt eine kleine Anzahl von Aufstockern. Aber die Zahl der Aufstocker ist relativ groß. Allerdings sind die Beträge, die Aufstockungsbeträge, relativ gering, sodass man sagen kann, die Zahl der Berechtigten ist nicht zu vernachlässigen, aber das finanzielle Gesamtvolumen, das durch Aufstockung ausgelöst wird, ist zu vernachlässigen, weil es sich um Beträge zwischen 100 und 300, 400 Euro pro Monat handelt. Das ist im Einzelfall erheblich, aber fällt insgesamt betrachtet nicht so sehr ins Gewicht.
    Meurer: Herr Eichenhofer, bisher sollen die Zahlen niedrig sein.
    Eichenhofer: Ja.
    Meurer: Aber da ab 1. Januar bei der Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen was geändert wurde, können die Zahlen jetzt nach oben schnellen?
    Eichenhofer: An wenigen Orten gibt es starke Steigerungen, die aber auf einer relativ geringen Ausgangsbasis liegen. Wenn in einem Ort meinetwegen vor 2014 20 Bulgaren lebten und jetzt 60, dann ist das eine Verdreifachung der Bulgaren-Zahl, aber die Zahl ist relativ gering, gemessen an der Gesamtzahl aller Sozialhilfeberechtigten. Wir können einen Zuwachs feststellen. Wir können aber zugleich feststellen, dass die Größenordnung, über die wir sprechen, nicht so groß ist.
    Meurer: Haben Sie einen Vorschlag, wie man Missbrauch unterbinden kann?
    Eichenhofer: Es gibt eine ganze Reihe von rechtlichen Regeln, die bereits jetzt gelten. Zum Beispiel der Fall, der gegenwärtig in Luxemburg verhandelt wird, betrifft eine Frau, der entgegengehalten wird, dass sie nicht arbeiten wolle. Darauf hat sich auch das Votum des Generalanwalts von dieser Woche gestützt. Dieser Fall ist sehr einfach zu lösen. Wer Hartz IV beanspruchen möchte, aber nicht bereit ist zu arbeiten, hat schon nach deutschem Recht keinen Anspruch. Das ist also gar kein Problem des sogenannten Sozialtourismus, sondern das ist ein Grundproblem.
    Wer keine Arbeit sucht, hat keinen Anspruch
    Meurer: Aber er kann es ja behaupten, dass er Arbeit sucht, oder er meldet irgendein Gewerbe an, von dem keiner weiß, was dahinter steckt.
    Eichenhofer: Ja, das ist natürlich immer möglich. Das ist aber auch anders zu beurteilen. Wenn einer ein Gewerbe anmeldet, dann hat er im Prinzip auch die Möglichkeit, gewerblich tätig zu werden. – Was heißt Arbeitssuche? Er muss bereit sein, angebotene Stellen anzunehmen. Wenn jemand wiederholt geeignete Stellen ablehnt, dann sagt man, er hat keinen Anspruch mehr, weil er eben nicht effektiv Arbeit sucht. Es gibt durchaus Möglichkeiten, um nachzuweisen, dass bestimmte Behauptungen vorgeschützt sind.
    Meurer: Gibt es irgendwo eine Lücke im Gesetz, in den Paragrafen?
    Eichenhofer: Es gibt einen Streit. Es gibt nicht unbedingt eine Lücke, sondern es gibt einen Streit, ob die Personen, die arbeitsuchend sind und in Deutschland wohnen – eine wichtige Voraussetzung -, dann von SGB-II-Leistungen ausgeschlossen sein dürfen, wenn sie Ausländer sind. Das ist die geltende Rechtslage und darüber geht der Streit und darüber geht auch der Prozess in Luxemburg.
    Meurer: Ein anderes Beispiel, das gerne angeführt wird: das Kindergeld. Hat ein Ausländer einen Anspruch darauf, der heute mit zehn Kindern nach Deutschland zieht?
    Eichenhofer: Ja, der hat einen Anspruch darauf, weil es für die Frage der Kindergeldberechtigung nicht auf die Staatsangehörigkeit ankommt. Wenn jemand in Deutschland als Mongole oder als Vietnamese lebt und viele Kinder hat, dann bekommt er das deutsche Kindergeld, weil er hier wohnt. Das heißt, für die Frage nach der Kindergeldberechtigung kommt es nicht auf die Staatsangehörigkeit, sondern auf den Wohnsitz an. Das ist aber auch zu erklären, weil ja auch die Steuerpflicht nicht an der Staatsangehörigkeit, sondern am Wohnsitz hängt.
    Meurer: Wir halten fest: Kindergeld gibt es auch für Nicht-EU-Ausländer, die in Deutschland wohnen?
    Eichenhofer: Ja.
    Kindergeld auch für im Ausland lebende Kinder
    Meurer: Ist das Kindergeld irgendwie ähnlich wie Hartz IV an die Frage gekoppelt, ob jemand arbeitet?
    Eichenhofer: Nein. Auch die Studenten oder die Rentner bekommen Kindergeld. Die Studenten sind nicht erwerbstätig, haben aber Kindergeld, falls sie ein Kind unterhalten. Das hängt damit zusammen, dass das Kindergeld im Grunde einen Teil des Elternunterhalts finanzieren und subventionieren soll. Das heißt mit anderen Worten, die Eltern müssen ihren Kindern ja unabhängig davon Unterhalt bezahlen, ob sie Einkommen haben oder nicht, und ein Teil des Unterhalts, den die Eltern den Kindern schulden, wird durch ein staatliches Kindergeld gewissermaßen dazugegeben. Das ist die Überlegung.
    Meurer: Das Kindergeld ist ja hier, ich glaube, 184 Euro, steigt dann mit dem dritten, vierten Kind.
    Eichenhofer: So ist es.
    Meurer: Ist das nicht eine ziemlich attraktive Sache, die dann doch zum Missbrauch verleitet, oder zum Gebrauch verleitet?
    Eichenhofer: Ja. Nun ist es natürlich so: Sie wissen auch, dass die Lebenshaltungskosten in Deutschland hoch sind und dass der Anteil des Kindergeldes an dem Kindesunterhalt etwa zwischen 30 und 40 Prozent der effektiven Kosten beträgt.
    Meurer: Aber da haben wir jetzt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, dass Ausländer auch Kindergeld bekommen, wenn die Kinder in der Heimat leben, nicht in Deutschland.
    Eichenhofer: Ja. Das gilt seit über 50 Jahren nach europäischem Recht. Das ist richtig. Und das ist ein Fall, der die Gemüter sehr stark erhitzt. Personen, die in Deutschland beschäftigt sind, bekommen auch für ihre in ihrem Herkunftsland lebenden Kinder Kindergeld. Der klassische Fall: Ein italienischer Bauarbeiter arbeitet in Deutschland bei einer deutschen Bauunternehmung und hat 20 Kinder in Sizilien, sei es ehelich und nichtehelich. Dann sieht das europäische Recht vor, dass aufgrund der Beschäftigung in Deutschland deutsches Kindergeld für die in Italien lebenden Kinder an den in Deutschland Beschäftigten zu zahlen ist. Allerdings ist in diesem Falle ein konkurrierender Anspruch nach dem Recht des Wohnstaates der Kinder vorrangig. Das heißt, wenn die Mutter auch noch in Italien arbeitet, bekommt sie italienisches Kindergeld, und dann hat zunächst Italien zu zahlen und nur der Differenzbetrag zwischen der italienischen und deutschen Leistung ist dann von Deutschland zu bezahlen. Das ist relativ kompliziert, aber so ist die Rechtslage.
    Wanderarbeiter sollen geschützt werden
    Meurer: Ganz kurz an Sie die Frage: Ist diese Regelung mit dem Kindergeld okay?
    Eichenhofer: Ja! Das hängt damit zusammen, dass man die Wanderarbeitnehmer schützen muss. Das ist sehr kompliziert, aber das ist die Idee, dass Wanderarbeit nicht mit Rechtsnachteilen, auch nicht mit sozialrechtlichen Nachteilen verbunden sein soll. Das ist eine große Errungenschaft Europas. Europa hat nämlich ein soziales Gesicht, was selten gesehen wird. Das erste Gesetz, das die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erließ, betraf die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Dazu gehörte auch die Regelung über die Kindergeldzahlungen. Das ist eine große soziale Errungenschaft, die man mehr würdigen sollte, als das zuweilen geschieht.
    Meurer: Bei den Saisonarbeitern, Wanderarbeitern gilt der Kindergeldanspruch für die Dauer der Beschäftigung, beispielsweise für die Erntephase, oder auch darüber hinaus?
    Eichenhofer: Nein, nur für die Erntephase. Das ist eine Entscheidung, die erst vor Kurzem ergangen ist, und der dafür zuständige Bundesfinanzhof hat vor wenigen Monaten erst die Rechtsgrundlagen präzisiert. Das heißt, wenn meinetwegen ein polnischer Staatsangehöriger in der Pfalz für drei Monate bei der Ernte hilft, dann bekommt er auch Kindergeld für seine in Polen lebenden Kinder, allerdings nur für den Zeitraum der Beschäftigung, im Beispiel also für drei Monate.
    Meurer: Welchen Anspruch haben Ausländer in Deutschland auf Sozialleistungen? Hitzig diskutiertes Thema. Ich sprach darüber mit Professor Eberhard Eichenhofer, Jurist an der Universität Jena. Danke, Herr Eichenhofer, für die Zeit, die Sie sich genommen haben. Auf Wiederhören!
    Eichenhofer: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.