Donnerstag, 28. März 2024

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Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz
"NATO ist nicht hirntot, aber auch nicht kerngesund"

Die NATO sei ein Patient, der läuft und redet, aber nicht so richtig funktioniere, sagte Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, im Dlf. Militärisch funktioniere das Bündnis, nicht zu Unrecht habe sich Frankreichs Präsident aber über fehlende Konsultationen beschwert.

Wolfgang Ischinger im Gespräch mit Christine Heuer | 03.12.2019
Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger im November 2019 in Berlin
Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger im November 2019 in Berlin (picture alliance / AA / Abdulhamid Hosbas)
Die militärische Abschreckung funktioniert nicht schlecht, so die Einschätzung des ehemaligen deutschen Botschafters in Washington. "Der Teil, der nicht funktioniert und über den Macron sich nicht ganz unberechtigt aufregt ist, die Konsultations-NATO." Deutlich werde das daran, dass Verbündete aus dem Fernsehen erfahren hätten, dass die Türkei in Syrien aktiv geworden sei. An dieser Stelle müsse man arbeiten, was aber durchaus machbar sei, betonte Ischinger.
Die Flaggen der Bundesrepublik Deutschland (l), der Nato und der Europäischen Union (r) stehen im Schloss Bellevue nebeneinander. 
NATO-Gipfel in London: Eine Allianz sucht ihre Identität
Die NATO feiert in diesem Jahr ihr 70-jähriges Bestehen. Zur Zeit überwiegen allerdings die Differenzen innerhalb der Militärallianz. Einzelne Mitgliedstaaten haben das Bündnis heftig kritisiert. Der Gipfel in London soll offenbar einen Reflexionsprozess einleiten.

Das Interview in voller Länge:
Christine Heuer: Die Kritik von Emmanuel Macron an der NATO: Hirntot sei sie. Und angesichts der zunehmenden Entfremdung von den USA wirbt der französische Präsident dann auch noch für einen neuen Dialog mit Russland. Mit all dem hat er viele Bündnispartner gegen sich aufgebracht, pünktlich zum Jubiläumsgipfel im 70. Jahr der NATO heute und morgen in London.
Über den NATO-Gipfel spreche ich jetzt mit Wolfgang Ischinger, dem Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz. Guten Morgen.
Wolfgang Ischinger: Guten Morgen, Frau Heuer.
"Militärischen Abschreckungsfähigkeiten funktionieren"
Heuer: Wie halten Sie es mit Emmanuel Macron? Ist die NATO hirntot?
"Konsultationsverpflichtungen nicht hinreichend erfüllt"
Ischinger: Sie ist nicht hirntot. Sie ist aber auch nicht wirklich kerngesund. Das ist so ein Patient, der läuft und redet und was zu sagen hat, aber dem es nicht ganz gut geht. So würde ich das qualifizieren. Die NATO funktioniert, was ihre militärischen Abschreckungsfähigkeiten angeht, ja gar nicht so schlecht, wenn man mal die Tweets von Präsident Trump weglässt. Die NATO hat heute mehr amerikanische Soldaten in Europa, mehr Material als noch vor wenigen Jahren. Das ist nicht der Teil, der nicht funktioniert.
Der Teil, der nicht funktioniert und über den Macron sich aus meiner Sicht nicht ganz unberechtigt aufgeregt hat, ist, ich nenne das jetzt mal, die Konsultations-NATO, die Notwendigkeit, dass man sich abstimmt. Und dass Präsident Macron quasi aus dem Fernsehen erfährt, dass der NATO-Partner Türkei sich in Syrien breit macht, und dass der andere NATO-Partner USA sich aus Syrien zurückziehen will, das kann ich nachvollziehen, dass das zu großer Verärgerung führt. Da werden die Konsultationsverpflichtungen im Bündnis, die auch im NATO-Vertrag stehen, nicht hinreichend erfüllt und da kann man aber auch, wie ich finde, sehr gut nacharbeiten und das verbessern.
"Macron hat Sorgen im Osten vergessen"
Heuer: Um das zu verbessern und um die EU oder die Europäer in der NATO unabhängiger von den USA zu machen, mit denen es eine Art Entfremdung gibt, schlägt Emmanuel Macron ja Verhandlungen oder Gespräche, jedenfalls irgendwie eine vorsichtige Öffnung nach Russland vor. Ist das eine gute Therapie für die politische NATO?
Ischinger: Viele unserer östlichen NATO-Partner – fangen wir an mit unserem Nachbarn Polen, mit den drei baltischen Staaten -, aber auch andere unserer östlichen Nachbarn halten unter den derzeitigen Umständen nichts von dem Angebot an Russland, so wie es Macron formuliert hat. Ich glaube, Präsident Macron hat übersehen, dass die Sorgen und Nöte unserer östlichen Nachbarn gegenüber Russland nicht nur, aber vor allem natürlich auch wegen des russischen Vorgehens in der Ukraine-Krise ganz erheblich sind. Das heißt: Wenn man die NATO in Richtung Gespräche und Verhandlungen und eine neue ausgestreckte Hand nach Russland in Bewegung setzen will, dann muss man diese NATO-Partner mitnehmen, und die wird man nur mitnehmen können, wenn man das Ganze auf der Basis einer Perzeption und der Tatsache eigener Stärke macht. Erst mal muss die NATO zeigen, dass sie sich selbstbewusst benehmen kann, dass sie sich stark genug fühlt, um mit Russland auf Augenhöhe über die gegenwärtige Lage zu sprechen. Da hat Macron nach meinem Gefühl vergessen, wie groß die Sorgen im Osten sind.
Heuer: Das klingt für mich so, als finden Sie, Macron hat in der Sache eigentlich recht, aber schießt ein bisschen übers Ziel hinaus.
Ischinger: Ja! Ich finde, gerade wir Deutsche müssen jedes Interesse daran haben, dass jede sich bietende Gelegenheit genutzt wird, um mit Russland wieder ins Gespräch zu kommen. Es kann weder unser politisches, noch unser militärisches Interesse sein, mit Russland dauerhaft im Konflikt uns zu befinden. Aber wer das mit den NATO-Partnern gemeinsam auf der Basis einer gemeinsamen Haltung machen möchte, der muss diese östlichen NATO-Partner mitnehmen, und das ist in diesem Fall nicht geschehen. Deswegen maulen die und schimpfen, und das kann ich nachvollziehen. Ich glaube, da ist die deutsche Haltung, so wie sie auch durch die Bundeskanzlerin geäußert worden ist, realistischer. Wir wollen auch das Gespräch mit Russland führen, aber bitte auf der Basis einer gemeinsam verabredeten Strategie.
Heuer: Wenn Macron in der Sache recht hat und vielleicht nur ein bisschen sich im Ton vergreift oder sich zu wenig abstimmt vorher, was erwarten Sie dann von den Bündnispartnern, die ihn ja nach dieser Kritik ganz heftig angegangen sind, vielleicht auch jetzt beim NATO-Gipfel? Was erwarten Sie von denen, welches Entgegenkommen?
Ischinger: Der NATO-Gipfel wird nun nicht ein Gipfel des Auseinanderbrechens des Bündnisses werden.
"9. Dezember ist der Lackmustest"
Heuer: Aber die reden ja miteinander auch am Rande. Was sollen denn die anderen Frankreich signalisieren in dieser Situation, wo es so viel Ärger gegeben hat?
Ischinger: Ich denke, ein Punkt, den Macron sich immer wieder wird anhören müssen, wird die Frage sein, jetzt warten wir doch erst mal den 9. Dezember ab. Was passiert denn am 9. Dezember? – Am 9. Dezember - das ist ja nur noch eine Woche hin - treffen sich in Paris die Herrschaften Putin, Selenskyj - das ist der ukrainische Präsident - und Macron und die deutsche Bundeskanzlerin, um den Versuch zu unternehmen, in der Ukraine-Frage einen Schritt voranzukommen. Das ist das sogenannte Normandie-Format. Wenn, die Hoffnung kann man ja haben, wenn Russland imstande ist, in diesem Normandie-Format einen Schritt nach vorne anzubieten, einen Lösungsweg anzubieten, wie man zu einem dauerhaften Waffenstillstand in der Ostukraine kommt, wie man weiterkommt, um das sogenannte Minsk-Abkommen umzusetzen, dann wird sich natürlich die Bereitschaft auf Seiten der NATO verstärken müssen, mit Russland über nächste Schritte zu reden. Aber ich denke, das ist der Lackmustest. Der 9. Dezember wird zeigen, ob auf russischer Seite die Bereitschaft besteht, mit dem Westen, mit den USA, mit der NATO, mit uns ein Gespräch zu führen, dass es zu einer Normalisierung, zu einer Deeskalation im Zentrum Europas kommt. Deswegen würde ich sagen, erst mal den 9. Dezember abwarten und dann wird man weitersehen.
"Die militärische NATO funktioniert"
Heuer: Jetzt haben Sie die USA erwähnt, ein bisschen auch der Elefant im Raum. Wieviel Verlass ist denn aus Ihrer Sicht noch auf die USA in der NATO mit diesem Präsidenten?
Ischinger: Na ja, das ist ein kleines bisschen schizophren. Das Glas ist halb voll und gleichzeitig halb leer. Militärisch betrachtet, aus der Sicht des Pentagon, verteidigungspolitisch betrachtet, steht die NATO heute, wie ich vorhin ja schon sagte, gar nicht so schlecht da.
Heuer: Militärisch.
Ischinger: Weit mehr Soldaten in Europa als noch vor wenigen Jahren. Die militärische NATO funktioniert. Der große Verunsicherer, der große Disruptor Donald Trump hat aber natürlich schwere Verwerfungen hervorgerufen, weil er die Glaubwürdigkeit der Beistandsgarantie – das ist der berühmte Artikel fünf – mehrfach in Frage gestellt hat. Und ich denke, die größte Sorge mancher der anreisenden Staats- und Regierungschefs wird sein, hoffentlich sagt der das nicht noch mal, weil damit umzugehen, wie sollen wir weiter an die NATO glauben und wie sollen wir erwarten, dass unsere möglichen Gegner sich vor der NATO fürchten, sich abgeschreckt fühlen, wenn die Führungsmacht des Westens diese Abschreckungsfunktion selbst in Frage stellt, das ist eine berechtigte Frage vieler, gerade auch wieder der östlichen NATO-Mitgliedsstaaten. Ich denke, die beten zum Himmel, dass Trump das nicht sagen wird, heute oder morgen.
Ischinger: Können die Türkei nicht aus der NATO werfen
Heuer: Dann schauen wir mal, ob diese Gebete erhört werden. Wir haben nicht mehr so viel Zeit. Ich möchte Sie aber noch kurz nach der Türkei fragen, nach dem Einmarsch in Syrien, der ja auch nicht wirklich abgestimmt war mit den NATO-Bündnispartnern - nach den Avancen oder der Kooperation mit Russland, nach der Drohung, den Flüchtlingspakt aufzukündigen gegenüber der EU, nach all diesen Alleingängen und auch militärischen Alleingängen vor allem. Ist die Türkei noch gut aufgehoben in der NATO?
Von der Türkei unterstützte syrische Milizionäre beobachten Rauchsäulen von Kämpfen in der Nähe der Stadt Ras al-Ein
Von der Türkei unterstützte syrische Milizionäre beobachten Rauchsäulen von Kämpfen in der Nähe der Stadt Ras al-Ein (AFP/Nazeer Al-khatib)
Ischinger: Darüber kann man lange diskutieren und man kann schimpfen und sich beschweren über das Verhalten des türkischen Präsidenten. Das sind alles nicht unberechtigte Vorwürfe. Tatsache bleibt: Die Türkei ist in der NATO. Wir können sie auch nicht rauswerfen. Es gibt keine Klausel im NATO-Vertrag, die es erlauben würde, ein unliebsames Mitglied vor die Tür zu setzen. Und im Übrigen darf ich vielleicht auch daran erinnern: Wir hatten in der grauen Vorzeit, in der Zeit des Kalten Krieges ja auch mal NATO-Staaten, die Diktaturen waren, und mit denen musste man auch irgendwie umgehen und darauf hoffen, dass aus Diktaturen Demokratien werden. Das ist ja im Falle Spaniens beispielsweise dann auch geschehen. Das ist im Falle Griechenlands geschehen, wo aus einer obristen Diktatur dann auch eine Demokratie wurde. Da würde ich sagen, strategische Geduld, mit Erdogan reden. Wie zu hören ist, soll ja am Rande des Gipfels auch ein Sondergespräch stattfinden, an dem die Bundeskanzlerin auch teilnimmt, mit dem türkischen Präsidenten, um ein kleines bisschen mehr Frieden in die Hütte zu bringen. Anders geht’s nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.