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Leitkultur - "das ist ein Placebobegriff"

Der Grünen-Politiker Omid Nouripour hat den Begriff der Leitkultur scharf kritisiert. Die CDU/CSU wisse selber nicht, wie der Begriff gefüllt werden solle, sagt Nouripour. Den Migranten würde damit vor den Kopf gestoßen, weil verschiedene Kulturen hierarchisiert würden. Zugleich lobte Nouripour die Integrationsarbeit der Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten.

Moderation: Christiane Kaess |
    Christiane Kaess: Heute beginnt die interkulturelle Woche, die auch Woche des ausländischen Mitbürgers heißt, eine Initiative der christlichen Kirchen, die unter anderen von Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und verschiedenen Initiativen unterstützt wird. Das gemeinsame Ziel sind bessere politische und rechtliche Rahmenbedingungen des Zusammenlebens von Deutschen und Ausländern. Omid Nouripour kam mit 13 Jahren mit seinen Eltern aus dem Iran nach Deutschland. Heute ist er Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft MigrantInnen und Flüchtlinge. Anfang diesen Monats übernahm er das Bundestagsmandat von Joschka Fischer, worüber in der "Süddeutschen Zeitung" geschrieben wurde, er sei als Freizeitrapper der Nachrücker für den letzten Live-Rock 'n' Roller und ein Beweis dafür, dass Integration auch funktionieren kann. Guten Tag, Herr Nouripour.

    Nouripour: Ich grüße Sie.

    Kaess: Herr Nouripour, Sie haben neben dem deutschen Pass den iranischen weiter behalten. Das wurde möglich durch die Reform des Staatsbürgschaftsrechts. Wurde Ihrer Meinung nach von Seiten der Politik in den vergangenen Jahren mehr für eine gelungene Integration getan als davor?

    Nouripour: Ja, gewiss. Es gab ja seitens der Politik in den letzten Jahrzehnten nichts. Es gab ja Millionen von Menschen, die nach Deutschland gekommen sind und es gab überhaupt keine Systematik der Integrationen, der Integrationsmaßnahmen. Die ersten Integrationskurse dieses Landes gibt es seit dem 1.1.2005, das muss man sich mal vorstellen. Trotzdem hat diese Gesellschaft immenses geleistet. Trotzdem hat diese Gesellschaft durch die Kirchen, durch die Gewerkschaften, durch die Betriebe, durch die Nachbarschaftsinitiativen die Integration relativ gut hinbekommen.

    Kaess: Aber wie tief oder nicht tief ist denn die Kluft zwischen Migranten und den Deutschen aus Ihrer eigenen Erfahrung?

    Nouripour: Ich glaube, im Alltag, in der Praxis überhaupt nicht groß. Aber im Bewusstsein der beiden Gruppen ist es groß. Ich kann Ihnen sehr viele Geschichten erzählen, wie ich einer älteren Dame die Tür aufhalte in einem Kaufhaus und sie schaut mich an mit einem Kulturschock und kann sich das nicht vorstellen, wie ein Ausländer denn so nett sein kann. Ich kann Ihnen aber auch zig Geschichten erzählen von der anderen Seite, beispielsweise aus dem Bereich Fußball. Wir schauen zusammen Fußball in einem koreanischen Restaurant. Ich bin der einzige, der für Deutschland ist, und die ganzen sich selbst Koreaner nennenden Menschen dort sind völlig empört und sagen mir den Satz, wie kannst du für Deutschland sein, du weißt doch was die für uns tun. Das hat sehr viel zu tun mit der Gesamtdebatte, mit der großen allgemeinen Debatte, die wir immer führen: Multikulti versus Leitkulti. Und das hat sehr viel mit Parolen zu tun, das hat sehr viel mit Kampagnen zu tun, die in der Politik gemacht wurden, gerade auch auf Rücken von Migrantinnen/Migranten. Und das hat was mit dieser Lamoyanz zu tun, die es leider noch gibt. Aber in der Praxis ist die Kluft da sehr, sehr klein. In den Betrieben arbeiten die Kolleginnen und Kollegen alle miteinander ohne jegliche Probleme.

    Kaess: Dass Integration vor allem Aufgabe der gesellschaftlichen Gruppen ist, dieser Meinung sind die christlichen Kirchen und haben deshalb diese interkulturelle Woche zum 31. Mal jetzt ausgerufen. Was bewirken denn solche Aktionswochen?

    Nouripour: Diese Wochen sind relativ rituell, dass muss man einfach so sagen. Aber Rituale werden in diesem Land sowieso unterschätzt. Ich glaube, dass diese Veranstaltung einen immensen Beitrag leisten kann für das Schaffen von Bewusstsein, dass es eine Vielfalt in diesem Land gibt, in erster Linie bei der so genannten Mehrheitsgesellschaft. Ich glaube, dass es bei den abgeschotteten aus der Minderheit keine große Rolle spielt. Aber gerade wenn die Kirchen da voran gehen - noch mal: die Kirchen haben in den letzten Jahrzehnten immenses geleistet, was Integration in diesem Land betrifft - und gerade wenn sie vorangehen ist das ein herausragendes Beispiel, mit dem man auch die Politik quälen kann indem man sagt, schaut doch mal, die Kirchen gehen voran, jetzt müsst ihr endlich nachgehen.

    Kaess: Die Kirchen kritisieren auch die Politik, zum Beispiel das Zuwanderungsgesetz von 2005 und da zum Beispiel die so genannten Kettenduldungen, dass dieses Problem nicht gelöst worden ist, was so viel bedeutet, also Kettenduldung, die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung, dass diese immer wieder erneuert wird, aber man keine Aufenthaltsgenehmigung erhält. Warum ist es so schwer, solche Regelungen zu ändern?

    Nouripour: Wir haben ein Gesetz hinbekommen mit vier Parteien, weil die Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat verschiedene waren. Also Rot-Grün ist beteiligt an dem Gesetz gewesen, aber auch FDP und CDU. Und wir als Grüne mussten leider in bestimmten Punkten einfach nachgeben, damit es überhaupt ein Gesetz gibt. Und wir haben einen der zentralen Punkte und eines der zentralen Ziele, die wir hatten, nicht erreicht, das war die Abschaffung der Kettenduldungen, weil die Union, die damals eine große Mehrheit hatte im Bundesrat, gesagt hat, das machen wir auf keinen Fall mit, das sei ja durch die Hintertür Legalisierung von Illegalen, was völlig absurd ist und was gerade dem Stand der Integration in diesem Land überhaupt nicht gerecht wird. Aber jetzt erlebe ich gerade, dass es ein Umdenken gibt. Vorgestern haben ja Wolfgang Schäuble und einige Landesinnenminister sich zusammen gesetzt und unterhalten über die Frage, wie man das denn schaffen kann, wie man eine Bleiberechtsregelung hin bekommen kann, wie man denn Menschen, die hier seit wirklich langer, langer Zeit leben, deren Kinder nur hier die Sprache Deutsch können, die hier zu Schule gehen, die die volle Integrationsleistung gebracht haben, dass die einen Aufenthaltsstatus bekommen, der gesichert ist.

    Kaess: Noch mal zurück zur Rolle der Kirche. Welchen Einfluss kann sie denn überhaupt mit solchen Appellen auf die Politik nehmen?

    Nouripour: Fakt ist, dass vor allem in den konservativen Parteien es Menschen gibt, die in erster Linie direkt gewählt worden sind. Es gibt ja sehr viele Direktmandate, wie beispielsweise die CDU/CSU, vor allem die CSU immer wiederholt in der Wahl zum Bundestag. Und da hören die Menschen nicht nur auf den CSUler, sie hören auch sehr stark auf das, was der örtliche Pfarrer sagt. Und wenn der örtliche Pfarrer da Druck macht, dann müssen die Abgeordneten sich auch überlegen, auch gerade weil sie wieder gewählt werden wollen, müssen sie sich genau überlegen, ob sie nicht im Sinne der Humanität, wie es beschrieben wurde vom geistlichen Handeln, und nicht einfach sich unterordnen komplett einer Parteiraison, die von oben kommt. Also die Kirchen können da sehr, sehr viel bewegen. Wir erleben das in diversen Bundesländern, beispielsweise bei der Frage Anerkennung von Härtefällen, dass der Druck der Kirchen auf vor allem CDU/CSU tatsächlich was erreichen kann.

    Kaess: Sie haben die Diskussion um die Leitkultur angesprochen. Wie dienlich beziehungsweise nicht dienlich ist die in Bezug auf die Integration?

    Nouripour: Die macht überhaupt keinen Sinn. Das ist ein Placebobegriff. Leitkulti ist nicht gefüllt mit Inhalt. Ich weiß nicht, was das sein soll. Ich weiß nicht, was über die Verfassung hinaus für eine Relevanz spielen sollte und das kann auch die Union selber nicht. Die haben bisher nicht gesagt, was sie meinen unter Leitkultur und die werden es auch in absehbarer Zukunft, glaube ich, nicht tun, weil einfach dieser ganze Kulturbegriff in Zusammenhang gesetzt mit Integration wahnsinnig schwammig ist. Das Hauptproblem ist nur, dass diejenigen, die so genannte Zielgruppe sind, also den Migrantinnen/Migranten, völlig vor den Kopf gestoßen werden, weil der Begriff der Leitkultur Kulturen hierarchisiert. Da heißt es, es gibt eine Leitkultur, es gibt einen Hauptstamm, das ist ganz oben, das sind wir Deutsche und alles andere ist minderwertig. Und das ist absolut kontraproduktiv, weil eben durch diese beschriebene Kluft des Bewusstseins zwischen denen und uns dadurch gestärkt wird.

    Kaess: Was sollte denn für eine gelungene Integration von den Migranten gefordert werden und was von den Deutschen?

    Nouripour: Es gibt bestimmte Bereiche, die sich überhaupt nicht unterscheiden zwischen den beiden. Es ist immer so, dass wenn eine Mehrheit und eine Minderheit sich aufeinander einlassen wollen, dass die Minderheit den größeren Schritt tun muss. Das ist überhaupt keine Frage. Das tun Menschen sowieso aber auch indem sie immigrieren. Die lernen eine neue Sprache, die kommen in ein neues Land, müssen sich völlig neu zurechtfinden. Also das mit der Sprache hoffen wir zumindest, es ist zumindest erwünscht. Es gibt zwei zentrale Punkte, die die Minderheit bringen muss. Das Eine ist, sie muss sich an die Gesetze halten, das muss die Mehrheit auch, aber die Minderheit muss sich komplett im Rahmen des rechtlichen Systems bewegen. Das Zweite ist, dass nicht verstoßen werden darf gegen eigene oder andere sozialer Chancen. In der Bundesrepublik, gerade mit unserem unsozialen Bildungssystem ist es so, kann man die deutsche Sprache nicht, hat man keine Bildungschancen, hat man keine Bildungschancen, hat man keine soziale Perspektive. Das sind die beiden zentralen Punkte, die man benennen muss, die seitens der Minderheit auch anerkannt werden müssen. Die Mehrheit muss aber verstehen, dass darüber hinaus es eine kulturelle Selbstbestimmung geben kann. Das Abendland geht nicht unter, wenn jemand in seinem Laden ausschließlich türkische Produkte verkauft. Da kann man ökonomisch sich darüber unterhalten, ob das Sinn macht oder nicht. Aber kulturell ist das überhaupt kein Problem. Und diese kulturelle Toleranz, die muss man von der Mehrheitsgesellschaft auch verlangen können.

    Kaess: Sie haben einmal den Vorschlag gemacht, unter den jungen Migranten systematisch Vorbilder auszubilden, die sich für die Verständigung einsetzen. Soll das eine Art Elitenförderung sein?

    Nouripour: Nein, auf keinen Fall, darum geht es nicht. Es geht darum, dass gerade die Jungs oder die jungen Männer die schlechteren Chancen derzeit haben, die schlechteren Abschlüsse machen, von der sozialen Leiter wirklich runterfallen. Gleichzeitig daraus resultieren dann die jungen Frauen und die Mädchen aus dem familiären Umfeld mit runterziehen, weil denen dann nicht gesagt wird, du warst klüger, geh du auf die Uni, sondern da heißt es, du bist ein Mädchen, du darfst nicht. Und die prägen sehr stark das negative Bild von Migration, weil die diejenigen sind, die sozusagen auf der Straße herumhängen. Ich habe gefordert, dass wir schauen, dass positive Vorbilder für diese Jungs existieren und zwar überall. Da geht es nicht darum, dass wir sagen, wir nehmen jetzt ein paar und stecken die alle in ein Internat, sondern da geht es um Quartiersmanagement. Diese Jungs haben doch alle Bezugspersonen. Die Bezugsperson kann der Imam in der Moschee sein, das kann der Gemüsehändler sein, das kann der Sozialarbeiter sein, das kann aber auch der Chef sein der Clique. Und ich sage, wir müssen dann an diese Bezugsperson heran gehen und mit ihnen ins Gespräch kommen, damit sie das Richtige vermitteln. Weil über die traditionellen Wege der Vermittlung, Zeitung und andere Medien, da kommen wir nicht ran an diese Leute. Das zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre eigentlich sehr deutlich.

    Kaess: Zum Start der Interkulturellen Woche war das Omid Nouripour, Bundestagsabgeordneter der Grünen und Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft MigrantInnen und Flüchtlinge. Vielen Dank.

    Nouripour: Ich danke Ihnen.