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"Leitkultur klingt nach etwas Heiligem"

Durak: Vom Leid mit der Leitkultur soll jetzt die Rede sein. Sie kennen die Forderungen: Wer in Deutschland leben will, muss das Grundgesetz anerkennen, soll die deutsche Sprache beherrschen - Hallo Pisa! - soll sich integrieren, integrieren lassen und so weiter und so fort. Ist das falsch, ist das richtig, von beidem etwas? Die Debatte darüber bleibt, muss bleiben, denn die Probleme sind nicht gelöst, auch wenn die Niederlande eben nicht überall sind. Mein Gesprächspartner ist jetzt Joachim Kersten, er ist zur Zeit in Baden-Württemberg, lehrt an der Fachhochschule der Polizei in Villingen-Schwenningen, tat das aber auch in Melbourne und in Tokio, hat Bücher geschrieben, ist Soziologe, Kriminalsoziologe und sagt über sich: "Ich will wissen, worüber ich am Katheder spreche, ich gehe raus mit Polizisten, zum Beispiel in den Einsatz." Dort hat er muslimische Familien kennen gelernt. Schönen guten Morgen Herr Kersten.

    Kersten: Guten Morgen.

    Durak: Was haben Sie denn mit der deutschen Leitkultur zu tun, oder der demokratischen?

    Kersten: Ich habe damit Schwierigkeiten, weil wir Kultur in Deutschland sehr hoch halten und dahinter steckt aber oft ein Kulturbegriff, der nicht so richtig erklärt ist und wo wir nicht so genau wissen, was wir eigentlich meinen. Das ist so etwas Heiliges, Wesensmäßiges. Ich habe insgesamt zehn Jahre im Ausland gearbeitet, dadurch habe ich einen etwas pragmatischeren Kulturbegriff und der unterscheidet sich sehr von den Kulturbegriff, der in dieser Leitkultur verwendet wird.

    Durak: Wenn wir das schon nicht verstehen, wie soll es dann ausländischen Familien gehen, die hier in Deutschland leben? Sie haben solche kennen gelernt.

    Kersten: Ich fand das ganz erfrischend, wie die Australier zum Beispiel damit umgehen. Kultur ist so etwas im Bereich von Körperpflege und Parfum und netter Kleidung aber nicht viel mehr. Wenn man in eine neue Kultur kommt, wenn man sagt, Sie haben eine nette Kultur, toll, was Sie für eine Kultur zu Hause haben, aber hier herrschen andere Regeln. Das erwartet man von jemandem, dass er das merkt. Ich denke, wir haben drei Bereich in Deutschland wo wir merken, dass es mit diesem Kulturbegriff nicht hinhaut. Indem man so einen Begriff wie "Leitkultur" aus der Mütze zieht, ändert sich erst mal gar nichts, sondern man müsste mal darüber sprechen, was man darunter versteht. Ich denke, vor allen Dingen bei türkischen Familien haben wir drei sehr praktische Probleme, da braucht man keinen Kulturbegriff. Die liegen im Bereich Bildung, Sprache, wie Sie sagten, und Gleichberechtigung der Geschlechter und schließlich, aber nicht so wichtig ist, dass wir in unserer Gesellschaft eine Pluralität religiöser Überzeugungen haben, und dass man sich daran zu halten hat. Dass wir das nicht vermitteln, ist einerseits unser Problem, und dass das auf der anderen Seite nicht angenommen wird, das ist das Problem der Migranten. Meine Erfahrungen mit diesen muslimischen Familien sind in der Regel so, dass das Familien sind wie andere auch. Dass es dort zu Problemen kommt, in denen man den Kulturkonflikt erkennen kann, zum Beispiel war ich in einer Familie, wo der Vater den Sohn geschlagen hat und der ist dann zur Polizei gegangen und hat sich darüber beschwert. Da standen die Polizisten nun in der Bredouille, gehen wir dahin, weil Polizisten, die auf der Straße arbeiten wissen, dass das Gewaltaufkommen in diesen Familien häufig höher ist. Es ist nicht überall höher und es ist wahrscheinlich auch nicht in der Mehrheit der Familien höher, aber es ist in einigen Randbereichen erheblich und extrem höher. Deswegen sind auch mehr türkische Frauen in Frauenhäusern, deswegen müssen sie mehr Dienste in Anspruch nehmen für geschlagene und misshandelte Frauen. Das ist in einigen Randbereichen, das gilt natürlich nicht für die Gesamtheit der Migranten. Die Polizisten stehen dann in dem Zwiespalt zu sagen, akzeptieren wir nun diesen deutschen heiligen Kulturbegriff oder gehen wir da hin und tun, was wir tun müssen. Wenn man tut, was man tun muss, dann kann man nicht mit diesem romantischen Kulturbegriff kommen. Dieser Leitkulturbegriff hat so einen Zug ins Fundamentalistische für mich. Man muss darüber reden, was man darunter versteht. Wenn ich jetzt noch mal zurückkomme auf meine Zeit in Australien, da waren meine besten Studenten Leute, deren Eltern noch mit dem Boot aus Vietnam geflohen sind. Das war nicht nur in Kriminologie so, sondern auch in Jura oder in Mathematik oder in solchen Fächern, das war die erste Generation. Die zweite Generation von Migranten macht schon den sozialen Aufstieg, beginnt den durch das Bildungssystem und das funktioniert bei uns nicht.

    Durak: Wehalb nicht?

    Kersten: Das liegt an zwei Sachen. Einmal ist in unserem Bildungssystem, was zu geschlossen ist, was zu wenig Wert darauf legt, dass die Kinder des Deutschen wirklich mächtig sind. Das liegt nun wirklich nicht an den Grundschullehrerinnen, die tun da ihr Bestes. Da ist eine gründliche Systemumwälzung notwendig, um das zu verstärken, dass der Spracherwerb im Grunde genommen zur Pflicht wird. Man kann Kindern keine Sprache beibringen, wenn die Mütter keine Sprache können. Wenn wir türkische Mütter haben, die zwar türkisch können, aber türkisch weder schreiben noch lesen, weil sie Analphabetinnen sind...

    Durak: Herr Kersten, liegt das an der deutschen Gesellschaft, dass diese Frauen nicht Deutsch lernen?

    Kersten: Dieser heilige Kulturbegriff ist gegenseitig. Das unterscheidet uns von einer Einwanderungsgesellschaft. Wir glauben, dass unsere Kultur so etwas Heiliges ist, dass andere das gar nicht...

    Durak: Glauben nur wir das, Herr Kersten oder glauben das auch die Einwanderer?

    Kersten: Japaner glauben das auch. Das ist aber für mich kein Vorbild. Die Japaner haben Leute, die sie während des Krieges zwangsverschleppt haben, die Koreaner und Chinesen sind bis heute nicht integriert. Weder sie noch ihre Urenkel.

    Durak: Ich meine jetzt nicht die anderen Gesellschaften fernab, sondern ich meinte die so genannten Parallelgesellschaften, die es hier in Deutschland geben soll. Es ist ja wohl so, dass auch Deutsche, wenn sie Probleme für die Kinder türkischer Familien klären wollen, in den türkischen Familien gar nicht gerne gesehen sind, weil man das als Einmischung auffasst.

    Kersten: Das ist die andere Seite dieser Gleichung. Da muss man radikal auf beiden Seiten auflösen. Wir müssen sagen, was wir erwarten. Das kann man nicht mit so einem Begriff wie "Leitkultur" sagen, sondern mit Sprache, Bildung, das bieten wir, das erwarten wir von euch. Es ist undenkbar, dass Eltern, die hier seit 30 Jahren leben, dass die kein Deutsch sprechen, das geht nicht. Das gibt es zwar in anderen Einwanderungsgesellschaften auch, aber nicht in dem Maße wie hier. Was ich auch sehe im Bereich Familie ist, dass wir eine Gleichberechtigung der Geschlechter zwar längst noch nicht haben, aber wir streben sie an. Die Ungleichheit der Geschlechter ist nicht mehr so selbstverständlich wie in den Kulturen, wo die Leute herkommen.

    Durak: Herr Kersten, Sie bilden ja Polizisten aus an der Fachhochschule in Baden-Württemberg. Wie wirkt es sich aus, wenn immer mehr Polizisten in den Dienst kommen, auch auf die Straße gehen zu den ausländischen Familien, wenn sie selbst ausländischer Herkunft sind?

    Kersten: Das haben wir nicht so. Da sind andere Gesellschaften, die viele andere Probleme haben, aber die haben zumindest im Körper der Polizei eine gewisse Repräsentanz von Minderheitenangehörigen, eine stärkere von Frauen und eine stärkere von Minderheiten. Das haben wir überhaupt nicht, jedenfalls nicht in dem Maße wie andere europäische Gesellschaften, von den USA oder Australien gar nicht zu sprechen.

    Durak: Das könnte aber helfen?

    Kersten: Nein. Das ist wiederum etwas, was man auseinander halten muss. Wenn die Polizei pluralistisch organisiert ist, heißt das nicht unbedingt, dass sie bei den Minderheiten lieber gesehen wird. Im Gegenteil, es ist bei den Minderheiten so, dass sie es gar nicht so toll finden, wenn Leute in der Polizei sind, die ihre Sprache verstehen. Ich halte das einfach für notwendig, so wie man sich bei kaltem Wetter warme Socken anzieht. Davon kann man aber nicht erwarten, dass es draußen wärmer wird, sondern man hat einfach wärmere Füße. So müssen wir unsere Polizei pluralistischer machen, mehr Frauen in der Polizei, mehr Minderheitenangehörige in der Polizei heißt nicht unbedingt besseres Verhältnis der Gesellschaft zu den Minderheiten aber es ist zumindest ein Schritt, den wir machen müssen. Was ich im Moment sehe, ist dass viele Beamte, die so ein Wort wie Leitkultur noch nicht mal dreifach verpackt in den Mund nehmen würden, dass die auf der praktischen Ebene durch ihre Berufserfahrung sehr wohl mit diesen Migrantenfamilien gut umgehen können, die Regeln kennen, deren Selbstverständlichkeiten kennen und versuchen, Schaden abzuwenden oder das Schlimmste zu verhindern oder Opferschutz zu betreiben.

    Durak: Also käme es darauf an, diese Erfahrungen weiter zu verbreiten unter den Bürgern, aber auch unter Politikern, Politikberatung von unten.

    Kersten: Die Bürger sind ja auch nicht so blöd, wie sie manchmal dargestellt werden. Leute, die mit Migranten zusammenleben müssen, weil sie die gleichen Wohnbezirke teilen, wissen da oft mehr drüber als Leute, die in Talkshows darüber reden. Also wenn man in die Polizei investieren will, muss man genau das machen, was Sie gesagt haben. Man muss die Kompetenz in den Wohnungen stärken und es reicht nicht aus, ein paar türkischstämmige Polizisten einzustellen, sondern man muss unsere Polizisten, egal wo wir herkommen, aus welchem Land und aus welcher Familie sie stammen, die muss man in den Stand setzen, damit umzugehen.

    Durak: Gibt es denn dafür eine Bereitschaft bei den Polizisten?

    Kersten: Zwangsweise ja, weil sie ja täglich und nächtlich rausfahren müssen und einige sind - von denen jemand wie ich das gar nicht erwartet, ich mache das ja nun seit zehn Jahren - da war ich überrascht, wie kompetent und professionell die das können. Es gibt auch Situationen - mehr auf der Straße als in den Wohnungen - wo man auf die immergleichen Barrieren stößt. Wenn jemand türkischer Herkunft sagt, ich werde nur angehalten, weil ich ausländischer Herkunft bin, dann ist das Gespräch zu Ende, jedenfalls von Polizistenseite. Über die Tatsache, dass er nicht angeschnallt war, oder zu schnell gefahren ist kann man nicht mehr reden, weil dieses Kulturzeug, diese Türkenflagge hinten drin, die überlagert alle Kommunikation. Das muss eingestellt werden, so etwas hat keinen Sinn.

    Durak: Professor Joachim Kersten, Kriminalsoziologe an der Hochschule der Polizei in Baden-Württemberg. Besten Dank Herr Kersten für das Gespräch.

    Kersten: Gerne, auf Wiederhören.