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Leitkultur
"Stellvertreter-Debatte für viel wichtigere Debatten"

Was ist typisch deutsch? Taugt das Grundgesetz als Wertekanon? Oder brauchen wir einen zusätzlichen Leitfaden? Nein, sagte Rechtsphilosoph Christoph Möllers von der Humboldt-Universität zu Berlin im DLF. "Eine Großformel, die uns sagt: Wir haben jetzt die Leitkultur, die Antwort auf die Frage - das halte ich für illusorisch."

Christoph Möllers im Gespräch mit Petra Ensminger | 21.05.2017
    Der Staatsrechtler Christoph Möllers (16.3.2016).
    Der Staatsrechtler Christoph Möllers. (imago / Stockhoff)
    Petra Ensminger: Was ist des Deutschen Leitkultur? Seit Jahren kommt die Debatte darüber immer mal wieder hoch. Vor kurzem prangte dann auf der Titelseite der Bild am Sonntag über dem Konterfei des Bundesinnenministers die Schlagzeile: "Wir sind nicht Burka." Ein wenig überspitzt, sicher. Absicht? Eine Debatte provozieren, das wollte der Innenminister ja. Die Initiative kulturelle Integration hat diese Woche ihrerseits 15 Thesen präsentiert, diese Initiative geht auf eine Idee des deutschen Kulturrats zurück. Zeigen, welchen Beitrag Kultur zu diesem Thema leisten kann, das ist hier das Ziel.
    Bei der Vorstellung der Thesen war auch Innenminister de Maizìere dabei. Kam insgesamt alles ganz gut an bei ihm, auch wenn das Wort Leitkultur nicht vorkam. Sie können es von mir auch Leitbild nennen, bemerkte er dazu. Aber brauchen wir all das? Leitbilder, eine Leitkultur oder reicht nicht auch unsere Rechtsordnung? Darauf weisen ja unter anderem auch liberale Politiker immer wieder hin? Also ran an den Rechtsphilosophen, vielleicht kann der weiterhelfen. Christoph Möllers hat sich Zeit genommen. Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Was bedeutet eigentlich für ihn "Deutschsein"?
    Christoph Möllers: Das ist eine gute Frage. Keine Ahnung. Also ich denke, wenn man im Ausland ist, fallen einem immer etliche Sachen ein, die skurril sind, oder man sieht, dass Deutsche irgendwie noch den letzten Winkel eines Landes erforschen oder sonst was. Ich glaube, man hat so Eindrücke davon, aber das synthetisiert sich jedenfalls bei mir nicht zu einer Identität in dem Sinne. Ich könnte glaube ich nicht sagen, ich habe einen Begriff davon, was Deutschsein ist. Ich habe immer Eindrücke davon, was anders ist als in anderen Ländern und die sind immer zersplittert. Und wenn man andere Länder noch besser kennenlernt hat, hat man manchmal auch den Eindruck, dass es dann doch wieder gar nicht so unähnlich ist wie man ursprünglich dachte. Schwierige Frage.
    Ensminger: Aber Sie haben den Begriff der Identität auch gleich mit da rein genommen der vielleicht ein bisschen besser zu identifizieren ist. Auch im persönlichen Gefühl, was würden Sie da sagen?
    Möllers: Für mich auch nicht. Er ist für mich wird da gar keine Identität daraus. Um das wissen zu müssen seriös - auch nur als persönliche Erfahrung - müsste man mit Leuten, die aus anderen Ländern kommen - man müsse die sehr genau kennen und sich sehr genau austauschen darüber, wie sie groß geworden sind was sie erlebt haben und so weiter. Klar ist, dass wenn man ins Ausland fährt, Dinge unterschiedlich sind. Aber auch auf unterschiedliche Art in verschiedenen Ländern und was dann wenn das genuin Deutsche ist. Das finde ich sehr schwer zu beschreiben. Ich habe keine Intuition.
    Etwas, das über die Verfassung hinausgeht
    Ensminger: Ist das ein Bild auch dafür, warum es so schwierig ist, diese Debatte in Deutschland zu führen?
    Möllers: Ja, ich war die Debatte ist ja auch wieder gar nicht so typisch deutsch. Wir haben ja zum Beispiel in Frankreich viel härtere Debatten um Identität und wir haben in vielen anderen Ländern auch im Grunde Diskurse, in denen es darum geht zu fragen: Wer sind wir? Die sind manchmal freundlich und manchmal sind die halt eher aggressiv und sind xenophob. Aber das ist interessanterweise ein globales Phänomen, dass sich alle darüber Gedanken machen, wer sie eigentlich sind.
    Ensminger: Was sich durchhören lässt, ist dass das Ganze sehr viel mit Emotionen zu tun hat. Dass es mit Gefühl zu tun hat. Vielleicht auch deswegen wird in der Debatte um die Werte auch immer wieder die Rechtsordnung bemüht. Brauchen wir einen Leitkulturfaden, wenn wir doch die Verfassung, unser Grundgesetz haben? Vielleicht können wir das einen stabileren Rahmen geben.
    Möllers: Es ist eben ein anderer Rahmen. Also, ich meine, das ist glaube ich - und das hat der Bundesinnenminister ja auch ausdrücklich formuliert in seinen Thesen jedenfalls - er wollte etwas formulieren, was über die Verfassung hinausgeht. Ob das nun gelungen ist, ist die eine Frage. Aber jedenfalls ist klar, dass eine Verfassung eigentlich erst mal nur Rechte und Pflichten begründet und so viel Spielräume lässt, dass da verschiedene Formen von kulturellen Identitäten drunter passen. Insofern glaube ich, ist es nicht so ganz einfach das Grundgesetz zu nehmen und zu sagen: Das ist unsere Leitkultur.
    Das Grundgesetz ist erst mal eine Ordnung, eine Rechtsordnung oder Fundament einer Rechtsordnung und verschiedenste Kulturen können unter dem Grundgesetz existieren. Es ist ja geradezu die Funktion gerade von Grundrechten, diese Verschiedenheit auch zu schützen. Da wird es auch wiederum schwierig. Ich meine, man könnte sich überlegen - gibt es so etwas wie einen besonderen deutschen Stil des Verfassungsrechts zum Beispiel? Die gibt es bestimmt, aber das wird dann sehr technisch, das ist dann eine Sache, über die man sich austauschen kann mit Leuten, die sich für solche Fragen interessieren. Aber das ist sicherlich keine Form von allgemeiner Kultur.
    Darüber nachdenken, was man als das Eigene empfindet
    Ensminger: Julian Nida-Rümelin, der ehemalige Kulturstaatssekretär und Philosoph, sagt, man springt zu kurz. Das haben Sie ja auch schon angedeutet. Wenn man nur auf das Grundgesetz verweist, ist es eine normative Ordnung, Artikel 1 Absatz 1 zitiert er: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist die zentrale Norm dieser Ordnung. Aber es geht eben nicht nur um die Rechtsordnung. Es geht vielmehr um die alltägliche Kultur des Respekts, der Anerkennung, der Kooperation. Dem stimmen sicher viele zu, Sie auch, nehme ich an. Aber anders gefragt: Müssen wir für alles Regeln und Normen vorgeben? Darf sich eine Kultur des Miteinanders nicht auch im Miteinander entwickeln von alleine?
    Möllers: Ja, ich glaube, das ist sogar unbestritten. Und auch das hat de Maizìere selbst auch geschrieben, dass es nicht darum geht, Regeln vorzugeben, sondern darüber nachzudenken, was man sozusagen als das Eigene empfindet, was man an dem Eigenen als bewahrenswert empfindet. Ich glaube, der Witz bei einer Rechtsordnung - gerade bei solchen Dingen wie Menschenwürde oder auch parlamentarische Demokratie - ist, dass sie gerade nicht identitätsbegründend sind. Sie sind ja gerade auf Universalität angelegt. Wir würden ja sagen, die Menschenwürde sollte überall gelten. Wir müssen wahrscheinlich auch sagen, ein parlamentarisches, ein enges demokratische Regierungssystem wäre auch überall am besten. Das soll uns ja gerade gar nicht auszeichnen, sondern wir sehen es ja eher als etwas was woanders auch gelten würde.
    Und umgekehrt muss man sagen, dass dieser ganze Überschuss, nach dem man sich so sehnt, natürlich sehr schnell irgendwie auch bei so etwas endet wie Umgangsformen oder Manierenregeln. Man soll freundlich und respektvoll miteinander umgehen. Da würde man wahrscheinlich sagen: auch überall. Ich weiß nicht, ob das so ein wahnsinnig deutscher Anspruch ist, zu sagen, freundlich im Umgang miteinander zu sein. Das würden wahrscheinlich andere gar nicht so sehen, die aus dem Ausland zum Beispiel nach Berlin kämen. Da wird es schwer, im Grunde, den Anspruch, den man hat, irgendwie auch etwas so Spezifisches wie eine deutsche Identität abzubilden.
    "Grundrechte lassen den Freiraum, sich gegen die Ordnung zu wenden"
    Ensminger: Kultur ist ja ohnehin nichts Statisches, unterliegt Veränderungen, Bewegungen. Macht es also so betrachtet auch Sinn, die Rechtsordnung als Rahmen tatsächlich nur zu betrachten, in dem die Entfaltung dieser auch vielfältigen kulturellen Entwürfe, die wir ja inzwischen auch ja hier haben, garantiert werden kann?
    Möllers: Ja, und dabei muss man glaube ich schon auch darauf achten, dass das, was eine Rechtsordnung so anbietet - jedenfalls eine liberale, demokratische Rechtsordnung - auch wenn wir noch einmal genau unterscheiden zwischen dem, was der Staat darf und tun muss und dem, was die Bürgerinnen und Bürger tun und dürfen müssen. Dinge wie die Grundrechte sind erst mal eine Norm, die den Staat verpflichten. Religionsfreiheit verpflichtet den Staat. Solche Dinge sind aber nicht allgemeine Werte, die alle binden. Man kann gegen Religionsfreiheit sein aus religiösen Gründen und das waren ja auch die christlichen Kirchen sehr, sehr lange Zeit. Man kann auch gegen andere grundrechtliche Garantien sein …
    Ensminger: Aber gebunden ist man dann schon, sich daran zu halten, dass man das respektiert.
    Möllers: Wäre die katholische Kirche jetzt verfassungswidrig, wenn sie nicht für die Religionsfreiheit eintreten würde, was sie erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil tun - nein wäre sie nicht.
    Ensminger: Aber was dagegen tun würde, in irgendeiner Form bestrafen oder Gewalt anwenden …
    Möllers: Okay, Gewalt darf keiner anwenden, da sind wir uns einig. Aber wenn sie dagegen zum Beispiel einfach nur protestieren würde oder oder polemisieren würde, das wäre sehr wahrscheinlich von ihrer Religionsfreiheit geschützt oder ihrer Meinungsfreiheit. Den Unterschied muss man sich da mal klarmachen. Grundrechte lassen halt auch den Freiraum, sich gegen die Ordnung zu wenden. Das ist vielleicht nicht schön und das stößt auch an gewisse Grenzen, wenn es aggressiv wird, wenn es gewalttätig wird. Aber das gehört eigentlich schon zur grundrechtlichen Freiheit auch dazu und deswegen ist es dann ein bisschen ein Missverständnis zu sagen, der Grundrechtteil ist einer, der uns alle gleich verpflichtet. Der Grundrechtteil ist erst mal auf der Staat zugeschnitten.
    "Das sind Formeln, die uns nicht weiterführen"
    Ensminger: Norbert Lammert, Bundestagspräsident CDU, hat ja schon vor einiger Zeit erklärt, eine Gesellschaft braucht einen Mindestbestand an gemeinsamen Überzeugungen und Orientierungen - das ist klar - ohne die auch ihre Regeln und gesetzlichen Rahmenbedingungen dann auf Dauer nicht funktionieren können. Er dreht es also noch mal von dieser Seite, geht einen Schritt weiter. Nicht nur, dass wir neben dem Grundgesetz Regeln brauchen. Nein - ohne solche gemeinsamen Überzeugungen würde auch das Grundgesetz nicht funktionieren. Gehen Sie da mit?
    Möllers: Ja - ich meine, das ist immer so ein Gemeinplatz, bei dem sich dann alle einig sind und ja, ich würde auch gar nicht widersprechen. Ich glaube nur, es wird verdammt schwierig das dann auch sozusagen auszubuchstabieren. Also kann man sagen: Alle müssen respektvoll miteinander umgehen. Ja, das ist wahrscheinlich so. Dann sieht man sich andererseits die politische Auseinandersetzung an, wo die Leute gerade nicht mehr respektvoll miteinander umgehen. Dann wird man sagen: Ja, es ist jetzt nicht besonders schön, es ist es sicherlich nicht verboten. Es wäre besser, wenn es anders wäre, aber die Welt geht davon auch nicht unter.
    Ich glaube, das sind so Formeln, die uns eigentlich nicht wirklich weiterführen. Wir haben spezifische Probleme, wir haben Probleme vielleicht mit Migration. Wir haben Probleme mit Intoleranz und wir müssen gucken, wie wir an diese Probleme rangehen und das werden wir - glaube ich - nicht dadurch lösen, dass wir Super-Formeln entwickeln, über das, worüber wir uns alle einig sind, was unsere Wertegemeinschaft ist und so weiter. Das sind dann eigentlich immer nur am Ende doch nur Phrasen, unter denen sich alle versammeln können, aber mit denen die Probleme eher verdeckt werden.
    Ensminger: Was würden Sie denn dann als Formel vorschlagen oder als Lösungsweg auch aus einer Jahre dauernden Debatte heraus?
    Möllers: Na ja ich würde gerade sagen, das es die falsche Debatte ist. Ich würde sie nicht lösen wollen, sondern es gibt keine Lösung. Es ist eine eigene Stellvertreter-Debatte für viele wichtigere Debatten, die auch geführt werden durchaus und die damit zu tun haben, wie wir mit gesellschaftlicher Diversität umgehen. Und gesellschaftliche Diversität in ganz verschiedenen Arten und Weisen. Und da können wir uns auch darüber streiten. Ich glaube, da werden wir dann, wenn die Debatte konkret wird, auch gar nicht einig. Nein, da müssen wir irgendwie Kompromisse finden. Aber so eine Großformel, die uns sagt: Wir haben jetzt die Leitkultur, die Antwort auf die Frage - das halte ich für illusorisch.
    Ensminger: Also kein Leitfaden ergänzend zum Grundgesetz?
    Möllers: Nein, kein Leitfaden in Ergänzung zum Grundgesetz, sondern eben eine Debatte, in der man sich über konkrete Probleme streitet.
    "Wer liest denn so einen Katalog?"
    Ensminger: Sollte es im Anschluss an eine solche Debatte tatsächlich so etwas wie einen Katalog geben sollen, was müsste denn aus Ihrer Sicht auf jeden Fall dann drin stehen?
    Möllers: Ach, ich würde eigentlich nicht gern eine Antwort auf die Frage geben. Ich würde mal sagen, da kann man Dinge reinschreiben. Aber die Dinge, die man reinschreibt sind ja gerade Dinge, über die man sich einig ist. Und Dinge, über die man sich einig ist, sind auch kein Problem. Und die Dinge, die kein Problem sind, für die braucht man ja eigentlich auch keinen Katalog.
    Ensminger: Wobei de Maizière und seinen Mitstreitern ja sicherlich nicht unbedingt darum geht, was hier schon Konsens ist, sondern darum, dass das nach außen gezeigt wird für diejenigen, die nach Deutschland kommen und hier möglicherweise integriert werden sollen, hoffentlich - an diese Adresse braucht es für Menschen, die neu nach Deutschland kommen möglicherweise einen solchen Katalog?
    Möllers: Aber was machen Sie mit einem traumatisierten syrischen Bürgerkriegsflüchtling? Sagen sie dem dann noch mal, dass wir ein nicht-instrumentalistisches Bildungsverständnis haben - das also steht da drin - oder sagen wir dem, dass wir gerne die Hand geben? Kann man machen, aber ich glaube, das wird irgendwie das Problem nicht lösen.
    Ensminger: Womöglich können wir einheitlich an einem Strang versuchen das zu vermitteln.
    Möllers: Ja, natürlich können wir das machen. Aber ich denke, die Leute die ansprechbar sind für sowas, die werden auch die Sensibilität haben, sich das abzugucken. Es ist ja nicht so, dass wenn ich in die USA gehe oder auch nur nach Wien fahre und die Leute schon etwas anders kommunizieren als wir, ich mir erst mal ein Prospekt durchlese. Sondern ich versuche zu sehen, dass ich mich da irgendwie einfüge. Die Bereitschaft sich einzufügen - wenn man ihr hat - dann hat man auch die Sensibilität zu sehen, wie das so läuft. Und wenn man mal aneckt, kann man das korrigieren. Wer liest denn so einen Katalog? Also die Leute, die es lesen, brauchen es nicht und die Leute die es brauchen, brauchen die vermutlich was anderes.
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