Freitag, 29. März 2024

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Lektor über Zygmunt Bauman
"Für Bauman war die Moderne kein eindeutiger Fortschrittsprozess"

Zygmunt Bauman habe in seinem Werk immer wieder auf die Ambivalenzen und Nebenfolgen des Prozesses der Modernisierung hingewiesen, sagte sein Lektor beim Suhrkamp-Verlag, Heinrich Geiselberger, im Deutschlandfunk. Diesen habe er nicht nur als positiv empfunden.

Heinrich Geiselberger im Gespräch mit Angela Gutzeit | 10.01.2017
    Zygmunt Bauman (1925-2017)
    Zygmunt Bauman (1925-2017) (dpa / picture alliance / EFE / Toni Albir)
    Andrea Gutzeit: Zygmunt Bauman. Er hat mit seinen 91 Jahren, die er jetzt geworden ist, die Zerrissenheit des 20. Jahrhunderts hautnah erlebt und auch durchlitten. Ich habe vor der Sendung mit Heinrich Geiselberger, dem Lektor Zygmunt Baumans bei Suhrkamp gesprochen und ihn zuerst gefragt, ob es insbesondere der Holocaust war, der Baumans Werk geprägt hat.
    Geiselberger: Der Holocaust mit Sicherheit, aber auch der Zweite Weltkrieg insgesamt. Bauman kommt aus Posen in Westpolen und ist nach dem Überfall von Deutschland auf Polen zunächst mal in die Sowjetunion geflüchtet und war dann in Moskau und ist dann später erst wieder nach Polen zurückgegangen. Also er hat wirklich einige große Wenden und Katastrophen der letzten 70, 80 Jahren aus nächster Nähe mitbekommen: den Zweiten Weltkrieg, den Stalinismus und den Holocaust.
    "Bauman hat immer eine Gegenposition vertreten"
    Gutzeit: Furore hat Zygmunt Bauman gemacht mit seinem 1989 erschienenen Buch " Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust". Die Moderne und dann ja die Postmoderne wurden zu Schlüsselbegriffen in Baumans Soziologie, auf den Holocaust angewendet, hat er die europäische Moderne für diesen Zivilisationsbruch verantwortlich gemacht. Wie ist das zu verstehen, weil dieser Moderne-Begriff, der zieht sich ja wirklich durch sein gesamtes Werk, muss man sagen.
    Geiselberger: Ja, das ist richtig. Man muss sehen, dass es zum Zusammenhang zwischen Moderne und Holocaust zwei Grundpositionen gibt: Moderne klingt ja zunächst immer positiv, und wir assoziieren Modernisierung ja auch mit einer positiven Fortschrittserzählung: eine Erzählung von Aufklärung, Wissenschaft, Fortschritt, Emanzipation, oft vom Weg aus dem Dunkeln ins Licht. In diese Fortschrittserzählung passt der Holocaust natürlich nicht. Er gilt in dieser Erzählung immer als die große Ausnahme, die große Katastrophe oder das große Andere der Moderne, die man dann nur erklären kann als Ergebnis eines deutschen Sonderwegs, weil in Deutschland der Antisemitismus besonders hartnäckig verwurzelt gewesen sei.
    Bauman hat immer eine Gegenposition vertreten. Für ihn war die Moderne kein eindeutiger Fortschrittsprozess, sondern ein enorm ambivalenter Prozess – geprägt von einem Willen nach Ordnung, man könnte sagen von einem übersteigerten Willen nach Ordnung, nach Reinheit, nach aufgeräumten Gemeinschaften, geprägt von einem Glauben an die Technik, an die Rationalität, an die Möglichkeit der Kontrolle der Natur, an das arbeitsteilige Regelwerk der Bürokratie. Bauman hat den Holocaust und den Totalitarismus insgesamt dann immer eher als Kind der Moderne interpretiert und nicht als Unfall innerhalb der Moderne, weil er gesagt hat, bestimmte Tendenzen, die westliche Gesellschaften seit 1800 oder 1850 prägen, in gewisser Weise auf so eine Katastrophe wie den Holocaust auch zugelaufen sind – also nicht den Holocaust als das andere Moderne, sondern als ein Kind der Moderne oder Modernisierung. Das hat damals tatsächlich für Furore, auch für große Diskussionen gesorgt.
    Wichtges Thema für Bauman: Die Migration
    Gutzeit: Da wir jetzt schon bei seinem Moderne-Begriff sind, muss man ja sagen, dass alles auf sein Werk zuläuft "Liquid Modernity". Das ist wohl sein wichtigstes Werk – im Englischen zuerst erschienen, denn Bauman hatte ja im englischen Leeds gelehrt und publiziert, also zu Deutsch "Flüchtige Moderne". Ein besserer Begriff wäre wohl "Verflüssigte Moderne", und mit diesem Begriff ist er wirklich berühmt geworden, wie zum Beispiel auch Richard Sennett mit seinem Begriff des "flexiblen Menschen". Sind die beiden sich ähnlich, meinen sie was Ähnliches mit ihrem Moderne-Begriff?
    Geiselberger: Wo es um den flexiblen Menschen geht, meinen die beiden mit Sicherheit was Ähnliches. Sowohl Bauman als auch Sennett haben ja eine große Sensibilität für so was wie Vereinzelung, für Atomisierung, auch für die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts in dem, was Bauman flüchtige oder flüssige Moderne nennt. Sie sagen, es gibt heute keine klaren Großgruppen mehr, es gibt keine klar vorgezeichneten Karrierewege mehr, man muss jederzeit darauf gefasst sein, dass sich der Karriereweg ändert, dass man in einer völlig anderen Situation landet. Das verunsichert die Menschen. Das meint Sennett mit dem flexiblen Menschen, und das passt sehr gut in das Großpanorama, das Zygmunt Bauman unter dem Begriff der flüchtigen oder flüssigen Moderne entfaltet. Der Ansatz von Bauman ist allerdings weit breiter als der Ansatz, den Sennett – der theoretisch ja noch mal aus einer anderen Ecke kommt in seinem Buch "Der flexible Mensch" – darstellt.
    Gutzeit: Das heißt, er hat sich auch mit zum Beispiel ganzen Menschengruppen, gesellschaftlichen Gruppen beschäftigt, die rausfallen unter den heutigen Bedingungen der Globalisierung, er hat den Konsumismus und so weiter kritisiert, Also das meinen Sie wahrscheinlich jetzt auch mit breit angelegt?
    Geiselberger: Ja. Zygmunt Bauman war ein extrem neugieriger Zeitgenosse, der sich für alle möglichen Phänomene interessiert hat, und in diese Diagnose von der flüssigen Moderne kommen ja die unterschiedlichsten Phänomene und Großtrends mit rein: Globalisierung, Migration, Optionsvielfalt und Überforderung, Beschleunigung, das Ende von Großgruppen, Menschen, die einsam sind, deswegen Antidepressiva nehmen, Überwachung, wie verändert sich die Überwachung – all das fasst er ja unter diesem Begriff der flüchtigen Moderne. Insofern ist er tatsächlich breiter, als Richard Sennett diesen Begriff benutzt. Wie gesagt, Zygmunt Bauman hat immer auf die Ambivalenzen und Nebenfolgen des Prozesses der Modernisierung hingewiesen und ihn überhaupt nicht eindeutig als positiv verstanden. Nun heißt Modernisierung in der Regel auch kapitalistische Modernisierung, und in dem Moment, wo Menschen im neoliberalen Kapitalismus immer stärker auf ihre ökonomische Rolle reduziert werden, gibt es natürlich auch Menschen, die aus ökonomischer Perspektive überflüssig sind, weil man mit ihrer Arbeitskraft keinen Profit mehr generieren kann. Und dieser Begriff der Überflüssigen war bei Bauman zuletzt relativ wichtig. Er hat das an mindestens zwei Stellen diagnostiziert: in westlichen Industriegesellschaften, wo es Leute gibt, die abgehängt werden, gleichzeitig aber auch in anderen Kontinenten wie in Afrika, wo Leute komplett überflüssig werden, weil die Wirtschaft, in der sie mal gearbeitet haben, zusammenbricht und man sie nicht mehr braucht, weil der globale Kapitalismus sie gar nicht mehr ausbeuten will oder ausbeuten kann – was wiederum einer der Hauptmotoren der Migration ist, was ein anderes wichtiges Thema ist, was Zygmunt Bauman bis zuletzt sehr intensiv beschäftigt hat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.