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Lemberg
Stadt ohne Gedächtnis

Einst lebten in Lemberg – dem heutigen Lwiw in der Ukraine - Polen, Juden, Ukrainer und Deutsche zusammen. Während des Zweiten Weltkriegs verlor die Stadt fast alle Einwohner und damit auch die Erinnerung. Der Historiker Lutz C. Kleveman geht in seinem Buch der Vergangenheit auf den Grund und gibt der Stadt ihr Gedächtnis zurück.

Von Sabine Adler | 24.07.2017
    Eine alte Frau ist am 18.02.2016 im ukrainischen Lemberg (Lwiw) vor einer städtischen Skulptur zu sehen.
    Lemberg wird als Perle aus der Habsburger Zeit bezeichnet. (dpa / Friso Gentsch)
    Lemberg besticht, zumal im Sommer, mit seinem Charme. Vom Billig-Flug-Tourismus wird die Perle aus der Habsburger Zeit bislang noch nicht heimgesucht, was eher von Vorteil ist. Die westukrainische Metropole ist gepflegt und lebendig, aber nicht bis zur Unkenntlichkeit geliftet. Lutz Kleveman findet sie faszinierend.
    "Es ist eine ungewöhnlich schöne Altstadt, sie ist auch UNESCO-Weltkulturerbe. Und man hat das Gefühl, man sei viel weiter im Westen, als das die Landkarte vermuten lässt. Man denkt an Krakau, man denkt an Prag. Es ist eine unmittelbar mitteleuropäische Stadt. Sie haben Kopfsteinpflaster, Straßenbahnen, die da auf unheimlich krummen Gleisen umherquietschen. Und dann natürlich dieses architektonische Erbe aus dem 19., frühen 20. Jahrhundert. Und davor noch Barock, Klassizismus und ganz viel Jugendstil."
    Dreifache Katastrophe
    Ausgerechnet in diesem 600 Jahre alten Ort mit seiner überaus bewegten Vergangenheit herrscht auffällige Geschichtsvergessenheit. Der Zweite Weltkrieg markierte das Ende der Blüte und brachte eine gleich dreifache Katastrophe über die Stadt, in deren Folge es fast keinen gebürtigen Lemberger mehr gibt.
    "Durch den Zweiten Weltkrieg, durch die stalinistischen Deportationen, durch den Holocaust, durch die Vertreibung der Polen wurde die Stadt fast völlig entvölkert, verlor 90 Prozent der Bevölkerung und verlor damit auch ihre kulturelle Identität und verlor ihr Gedächtnis. So dass eigentlich aus dieser Blütezeit nur noch die Gebäude stehen und die Einwohner der Stadt so gar nicht richtig dazu passen."
    Lemberger Moderne
    Lutz Kleveman setzt bei den 1930er-Jahren an. Aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen entwirft er ein Stadtporträt, das plastisch das Leben hinter den Fassaden beschreibt. Wir lernen begabte und skurrile, weltoffene und erstaunlich interdisziplinär interessierte Wissenschaftler kennen, Mathematiker, Schriftsteller wie das Autorenpaar Bruno Schulz und Deborah Vogel, die in den Cafés nicht nur aßen und tranken, sondern debattierten und arbeiteten.
    Sie machten die Lemberger Moderne aus, wie es sie ähnlich in Berlin und Wien gab. Kazimierz Twardowski hatte Lemberg zu einer Hochburg der Philosophie ausgebaut und tauschte sich vorzugsweise mit dem Arzt und Bakteriologen Ludwik Fleck aus. Lebendig schildert Kleveman die skurrile Freundschaft des Forscherpaares Rudolf Weigl und Ludwik Fleck, wie sie einen Impfstoff gegen Fleckfieber entwickelten und obendrein in ihrem Lemberger Labor Dutzende von Juden retteten, die mit ihrem Blut Läuse fütterten, die wiederum für die Herstellung des Impfserums benötigt wurden. Kleveman gibt der Stadt ihre Geschichte zurück, die sie selbst so gut wie vergessen hat.
    Erinnerungsprobleme
    "Also die Stadt hat ein Problem in der Erinnerung an alles, was nicht ukrainische Geschichte ist. Es ist eine Stadt die heute, ganz anders als früher, hauptsächlich von Ukrainern bewohnt ist. Und da geht es erstmal noch nicht um die Verbrechen der 40er-Jahre, sondern auch um die Zeit davor. Es wird kaum erinnert an die polnische Geschichte, immerhin 600 Jahre lang. Es wird kaum erinnert an die jüdische Kultur, die diese Stadt geprägt hat. Das war eine große jüdische Metropole. Über 100.000 Lemberger waren jüdischen Glaubens."
    Sehr detailliert zeichnet Lutz Kleveman den Wechsel der Besatzer nach. Nachdem die Wehrmacht am 1. September 1939 im Westen Polen überfiel, marschierte am 17. September die Rote Armee von Osten ein. Wehrmacht und Sowjets besetzten zeitweilig gemeinsam Lemberg und die ostpolnischen Gebiete, die Sowjetunion rief das Gebiet als ukrainisch aus. Dessen Bewohner sollten freiwillig der Ukraine und damit der Sowjetunion beitreten. Ein Szenario, so vermerkt es der Autor, das sich 2014 ähnlich auf der Krim wiederholte.
    Kollektive Gedächtnisse
    Unter der Sowjetherrschaft wurden Zehntausende in sibirische Lager deportiert, über 80 Prozent von ihnen waren Juden, die so jenseits des Urals den Holocaust überlebten. Als die deutschen Besatzer 1941 ein zweites Mal in Lemberg einfielen, jubelte die Bevölkerung, froh die Bolschewisten los zu sein. Denen schickten die ukrainischen Nationalisten mit ihrem Anführer Stepan Bandera Kugeln hinterher, um den Deutschen zuvorzukommen und ihren eigenen Anspruch auf einen ukrainischen Staat zu erheben.
    Vom 30. Juni bis 3. Juli 1941 nahmen ukrainische Milizen mit Duldung der deutschen Besatzer Hunderte Juden fest, in ihren Augen Bolschewiken. 4.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer wurden getötet. Dieser Kollaboration, dem Pogrom im Sommer `41 ist Kleveman auf der Spur und beschreibt, wie keiner seiner wenigen Augenzeugen davon auch nur gehört hat. Aus seiner Enttäuschung macht der Autor keinen Hehl.
    "In Lemberg gibt es drei kollektive Gedächtnisse, die wenig miteinander gemein haben. Aufgrund oft gegensätzlicher Erfahrungen erinnern sich Polen, Ukrainer und Juden sehr unterschiedlich an die Stadt. [...] Mit Ausnahme der Juden war jede Volksgruppe mal oben und mal unten, Opfer und Täter zugleich."
    Fehlende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
    Die von Bandera ausgerufene unabhängige Ukraine war mitnichten im Sinne Hitlers, doch der machte sich die ukrainischen Nationalisten zunutze. Er ließ eine ukrainische Hilfspolizei gründen, die sich aus Banderas Milizen rekrutierte. Die Anführer warf er ins KZ Sachsenhausen, wo sie allerdings Besuch empfangen durften, um die Organisation zu erhalten.
    Kollaboration spielt auch im Zusammenhang mit sowjetischen Kriegsgefangenen eine große Rolle. In Deutschland wie in Lemberg wurde ihr Schicksal lange verschwiegen, bis heute, wie Kleveman eindrucksvoll schildert. In der Zitadelle über der Stadt, in der sich jetzt ein Luxushotel befindet, starben über 140.000 sowjetische Kriegsgefangene, weil die Nazis sie verhungern ließen.
    Derzeit erfährt alles heroisch Ukrainische eine Würdigung, wie die Schriftsteller Taras Schewtschenko und Iwan Franko. Dass die Kiewer Regierung aber in diese Reihe auch Stephan Bandera stellt, macht schon deutlich, dass sich weder Lemberg noch die Ukraine insgesamt hinreichend mit der eigenen Kollaborations- Faschismus- und Antisemitismus-Geschichte auseinandergesetzt haben. Was sich im aktuellen Ukrainekrieg rächt.
    Westukrainer werfen den Landsleuten im Osten mangelnden Widerstand gegen die russischen Bolschewiken vor, die Ostukrainer verweisen auf die westukrainische Kollaboration mit den deutschen Nazis im Krieg gegen die Sowjetunion. Wer sich an diese komplizierte ukrainisch-russische-polnische-deutsche Geschichte wagen will, greife zu Lutz Klevemans Lemberg-Buch. Man kann ihm nur wünschen, dass es schnell auch auf Ukrainisch, Polnisch und Russisch erscheint und eine Geschichtsdebatte anschiebt, die überfällig ist.
    Lutz C. Kleveman: "Lemberg. Die vergessene Mitte Europas"
    Aufbau Verlag, 315 Seiten, 24 Euro.