Wir befinden uns im April des Jahres 1992, 11.312 Kilometer über dem Südpazifik, in einem Airbus 340 der Lufthansa auf dem Weg nach Buenos Aires.
"Kurz bevor der Zahntechniker Hannes Sohr die größte Katastrophe seines katastrophenreichen Daseins überlebte, schnitt er sich den Zeigefinger an der vorletzten Seite eines Shoppingkataloges. Beworben wurde ein Bleistift aus kalifornischem Zedernholz – 179,99 Dollar, mehrwertsteuerbefreit. Sohr riss die Seite heraus, wickelte sie um seinen Zeigefinger."
In diesem ersten Absatz von Lennardt Loß' Debütroman "Und andere Formen menschlichen Versagens" scheint schon eine ganze Geschichte zu stecken. Wer ist dieser Hannes Sohr? Warum ist sein Leben so katastrophenreich? Was ist die größte Katastrophe seines Lebens? Und wie überlebt er sie? Ganz sicher Stoff für einen Roman. Aber das ist noch längst nicht alles, was wir in diesem ersten Kapitel erfahren.
Hannes Sohr heißt eigentlich Carl Fuchsler und wird seit 17 Jahren gesucht, weil er für die RAF Rohrbomben gebaut hat. In seinem Bauch steckt eine Kugel aus einer Polizeipistole. Das Geschoss bewegt sich auf Fuchslers Lunge zu und könnte ihn bald das Leben kosten. Deshalb ist er auf dem Weg nach Buenos Aires, um sich dort den gefährlichen Fremdkörper von einem Tierarzt operativ entfernen zu lassen. Doch das Flugzeug, in dem er sitzt, stürzt über dem Südpazifik ab. Neun Passagiere überleben den Aufprall. Einer von ihnen ist Fuchsler. Im Pazifik schwimmend und sich an einem Flugzeugsitz klammernd, lernt er eine andere Überlebende kennen. Marina Palm, 22 Jahre alt, ihr Vater hat nach der Wende in Brandenburg Parkhäuser gebaut und ist damit reich geworden.
Handlungsfäden treiben im Pazifik
In Loß' spannungsreichem Romananfang stecken viele Anspielungen und Anknüpfungspunkte, vielleicht zu viele: die deutsche Vergangenheit, eine generationsübergreifende Liebesgeschichte, ein bisschen "Robinson Crusoe". Als der Autor dieses Kapitel 2018 beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt vortrug, fanden viele der Juroren seine Geschichte zu überladen und unglaubwürdig. Dass Fuchsler am Ende in die Tiefe sinkt und sich seine Lunge mit Wasser füllt, schien zudem das im ersten Satz gegebene Versprechen, er werde überleben, zu brechen. Wie löst Loß diese Probleme nun in seinem Roman?
Zunächst gar nicht. Er lässt alle Handlungsfäden im Pazifik treiben und setzt vier Jahre später an, bei Marina Palms Familie, die in dem Glauben lebt, ihre Tochter sei bei jenem Flugzeugabsturz im Jahr 1992 ums Leben gekommen: Marinas Mutter hat in ihrer Wohnung im niedersächsischen Güffingen bei Salzgitter etliche Eimer mit Schweineblut gelagert. Sie plant, einen Splatter-Film zu drehen, in dem sie das spurlose Verschwinden ihrer Tochter verarbeiten will. Der Film wird, so erfahren wir später, auf dem Index landen, seiner schicksalsgebeutelten Regisseurin jedoch trotzdem zu Ruhm verhelfen. Auch Marinas Freund, ein Boxer, der sich am Tag des Flugzeugabsturzes im Ring eine Tracht Prügel abholt, wird mit der tragischen Geschichte seiner Freundin viel Geld verdienen.
Entdeckung via Google Earth
Aber bevor wir von ihm lesen, springt Loß erneut in Zeit und Raum, und wir lernen den 17-jährigen Vincent Warren kennen, der mit seiner Mutter in einem Vorort von Toronto lebt und sein Geld als Handmodel für Produkte der Firma Apple verdient. Er macht auf Google Earth eine Entdeckung:
"Das Atoll lag 1062 Seemeilen vor Peru. Eine Wikipedia-Suche verriet, dass es seit dem 19. Februar 2004 nicht mehr der Hoheit von Französisch-Polynesien unterstand, sondern vom französischen Minister für Überseegebiete verwaltet wurde. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Amerikaner dort eine Wetterstation errichtet, sie aber bereits 1947 wieder aufgegeben. Seitdem, so der Artikel, hatte kein Mensch mehr die Insel betreten. Am östlichen Strandabschnitt, auf dem überbelichteten Sand des Satellitenbildes gut zu erkennen, entzifferte Vincent allerdings vier voneinander abgegrenzte Buchstaben: H E L P."
Ob Marina Palm diesen Hilferuf in den Sand geschrieben hat? Oder gar Carl Fuchsler? Leben sie am Ende vielleicht beide noch? Lennardt Loß weicht wieder aus, erzählt stattdessen die Geschichte von Vincent und wie er das mütterliche Heim verlässt, um bei seinem Vater in einem Trailerpark zu leben und Waschbären zu schießen.
US-Serien als Vorbild
Der Titel des Romans deutet schon an, dass es sich um eine Reihung, eine Aufzählung handelt, nicht um eine lineare Erzählung. Und so liest sich "Und andere Formen menschlichen Versagens" tatsächlich wie eine Folge rasanter Kurzgeschichten, die alle um die anfängliche Flugzeug-Katastrophe kreisen. Diese Form des Erzählens ist wohl stark von den in den vergangenen zwanzig Jahren populären amerikanischen Fernsehserien wie "Sopranos", "Breaking Bad" oder "Six Feet Unter" beeinflusst. Ständig werden neue Reizpunkte gesetzt, Cliffhanger eingebaut, Plot-Twists inszeniert. So entsteht ein motivisch gewitzt montiertes, ziemlich kurzweiliges Leseerlebnis, das einen allerdings nicht so gefangen nimmt, wie es ein gut erzählter, die Tiefe der Figuren auslotender Text gemeinhin vermag. "Und andere Formen" ist eher Netflix zum Lesen. Für einen unterhaltsamen Abend aber reicht das allemal.
Lennardt Loß "Und andere Formen menschlichen Versagens"
Weissbooks, Frankfurt, 159 Seiten, 20 Euro.
Weissbooks, Frankfurt, 159 Seiten, 20 Euro.