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Leona Stahlmann: "Der Defekt"
Eine Realität von vielen

Mina ist anders. Ihr Verständnis von Liebe, Heimat und Identität unterscheidet sich von der Norm. Einfühlsam und wortgewandt erzählt Leona Stahlmann in ihrem Debüt vom Aufwachsen mit der BDSM-Sexualität, die in der heteronormativen Gesellschaft keinen guten Ruf hat.

Von Isabelle Bach | 18.05.2020
Die Schriftstellerin Leona Stahlmann
Leona Stahlmann ist Journalistin, Schriftstellerin und auch BDSM-Aktivistin (Simone Hawlisch)
Alles hat seine Ordnung, für Eindringlinge von außen gibt es keinen Platz in Minas Heimatdorf im Schwarzwald. Die 16-Jährige kommt mit den vorgegebenen Strukturen nicht zurecht. Sie unterscheidet sich von allen anderen. Auf der Suche nach einem Grund für ihre Andersartigkeit merkt Mina, dass Unterdrückung, Schmerz und Leid sie wie magisch anziehen:
"Schmerz ist, anders als Liebe, ein sehr ordentliches Gefühl. Es glättete Minas krumme Synapsen, die wild in ihr herumlagen wie verhedderte Kabel, es legte sie nebeneinander und zog sie gerade. Schmerz räumte in Mina auf, Schmerz richtete sie aus und bestimmte ihre Kartografie neu."
Immer wieder fragt sich Mina, was mit ihr nicht stimmt. Der eigenbrötlerische Vetko öffnet ihr schließlich die Augen. An seiner Seite beginnt Mina zu verstehen, dass und inwiefern ihre Sexualität von der Norm abweicht. Dennoch will sie sich zunächst nicht eingestehen, dass ihre Art zu lieben als BDSM bezeichnet wird. Erfolglos kämpft sie dagegen an.
"Sie hoffte, dass das, was Vetko in ihr verrückt hatte, von außen nicht sichtbar wäre. Noch bevor die Schule wieder begann, zog sie die Bilder dieses Sommers hervor, sorgfältig eines nach dem anderen, und pinnte sie gegen die Innenwand ihrer Stirn. Sie brachte sie in eine Ordnung, den Kuss, die Abdrücke der Fichtennadeln auf ihren Oberschenkeln, die Haut auf dem Becher Milch und zuletzt Vetkos Hand an ihrer Kehle."
BDSM in die Mitte der Gesellschaft
BDSM – diese Sammelbezeichnung steht für Bondage und Disziplin, Domination und Submission sowie Sadismus und Masochismus. Die Autorin Leona Stahlmann macht sich schon seit langem dafür stark, die BDSM-Sexualität in die Mitte der Gesellschaft zu rücken. Laut Stahlmann ist das aber noch ein langer Weg. So weit wie Homosexuelle seien BDSMler noch nicht:
"Homosexuelle haben es in keiner Weise einfach, auch heute nicht. Das ist mir durchaus bewusst, und das soll das Buch auch nicht suggerieren. Die haben aber wirklich sehr zähe Lobbyarbeit geleistet über Jahrzehnte hinweg und sind damit ein Stück weitergekommen, als wir es heute sind."
Leona Stahlmanns Debütroman ist aber keine gesellschaftliche Lobbyarbeit, sondern Literatur. BDSM-Sexualität wird in "Der Defekt" nicht als etwas Außergewöhnliches dargestellt, sondern als ein Teil von Minas Selbst. Stahlmann durchdringt das Thema poetisch auf eine Weise, die ganz unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten offenlässt. Die Sexszenen spart sie bewusst aus.
"Erotikthriller werden gerne mit diesem Thema gemacht, weil die Motive ‚Täter und Opfer‘ sich anbieten. Diese ganzen Motive langweilen mich zu Tode. Über Sexualität schreiben möchte ich eher mit einem philosophischen Ansatz. Ich möchte verstehen, warum wir lieben wie wir lieben. Ich möchte nicht deskriptiv abbilden, was Menschen miteinander tun, die BDSM-Sex miteinander haben. Das gibt es zu Genüge an anderen Orten."
Zwischen Akzeptanz und Ablehnung
Leona Stahlmann setzt auf die Macht der Poesie, nicht auf reißerische Szenen und Erotik. Viele Sätze sind so bildreich und dicht, dass sie erst bei wiederholtem Lesen ihre vollständige Bedeutung entfalten. Das erfordert stellenweise höchste Konzentration und den Willen, sich auf Stahlmanns Erzählduktus einzulassen. Immer wieder zieht die Autorin den Leser hinein in Minas Zwiespalt zwischen Akzeptanz und Ablehnung.
"Sie setzte sich auf, Blut kreiselte fühlbar beschleunigt unter der Haut zwischen den Schultern und die Wirbelsäule herunter in die Scharten und Schrunden auf ihren Knien, warm gegen die kalte Luft. Sie hatte geblutet, ohne es zu bemerken, und die Stellen begannen bereits zu verschorfen. Ihre Brust war hart vom Wind, hart vom Wollen: das unbedingte Wollen der Abwesenheit dieser Härte in sich, die umfassende Weichheit von Gewebe und Gefühl, jedes Mal, wenn Vetko sie losließ, der Schmerz aufhörte und angehaltener Atem weiterströmte."
Im ersten Teil des Romans wird ausschließlich aus Minas Perspektive erzählt. Als die Protagonistin ihre Heimat zum Studieren verlässt und Vetko dort zurückbleibt, verschafft Leona Stahlmann dem Leser auch einen Zugang zur Gefühlswelt anderer Figuren. Beschreibungen der Umgebung allerdings wirken oft überfrachtet. Insbesondere dann, wenn die Autorin ihre Figuren aus den Augen verliert.
"Einkaufspassagen und ein Kino, Straßenzüge mit hoch aufgereckten Häusern, die Schatten warfen und an deren erleuchteten Fensterhöhlungen abends schlanke Menschen standen und über die Brüstungen gelehnt an ihren Zigaretten sogen und angelegentlich abaschten, und über allem lag das unruhige, aufregende Summen einer Musik, deren Basslinie aus dem Vibrieren von Autos auf Asphalt und Rädern auf Gleisen und vielen wirbelnden Fußpaaren auf Bordsteinpflaster und dem Summen zahlloser Versprechen bestand, die sie noch nicht benennen konnte."
Druckkessel für die eigene Sexualität
Leona Stahlmann lässt ihre Protagonistin bewusst heute in einem kleinen Dorf im Schwarzwald aufwachsen. Obwohl der Roman in der Gegenwart spielt, scheint das Leben dort still zu stehen. Minas Umfeld übt Druck auf die junge Frau aus. Eingeschlossen von Wäldern und Bergen, weit entfernt von Zeitgeist, Modernität und Freiheit, fällt es der sensiblen Mina umso schwerer, ihre Gefühle zu ordnen und ihre sexuelle Identität als Teil der eigenen Persönlichkeit zu akzeptieren. Leona Stahlmann sagt über das Gefühl des Drucks:
"Dieses Gefühl potenziert sich innerhalb von Mina, die wie ein Druckkessel ist für ihre eigene Sexualität, die sie verstecken muss, die sie für sich behält, weil sie sich ihrer schämt und nicht sicher ist."
Den behutsamen Umgang mit Worten und die Liebe zu einzelnen Silben haben die Protagonistin Mina und ihre Autorin Leona Stahlmann gemeinsam:
"Worte, Wörter ordnen meine Welt und natürlich auch meine Sexualität, wie das bei Vielen ist. Diese Ordnungsstruktur versuche ich im Buch zu wiederholen. Ich versuche diese sehr unordentliche, sehr chaotische Welt der Triebe, der unterbewussten Wünsche, der Sexualität in einen manifesten Raum zu bringen, dem ich mit Wörtern eine Gestalt geben kann."
Mina macht sich eigene Regeln
Leona Stahlmann schreibt einfühlsam und authentisch von der herausfordernden Suche nach der eigenen Identität, von Sorgen und Ängsten, aber auch von erfüllten Stunden. BDSM-Sexualität behandelt sie dabei nicht als besonderes Phänomen, sondern als eine Realität von vielen. Die Abkürzung BDSM wird in "Der Defekt" kein einziges Mal erwähnt. Der Roman ist an den Stellen am stärksten, an denen er von den Gedanken und Gefühlen der Protagonistin handelt. Minas Suche nach Strukturen endet damit, dass sich die junge Frau eigene Regeln macht. So schafft sie es, sich selbst zu akzeptieren.
"Mina fährt mit der Zunge von innen über die Furchen ihrer Wangenschleimhaut, die ihre Zahnspange einmal narbig geschnitten hat, und erinnert sich, wie sie als Kind immer auf Wunden gezeigt und sie Wunder genannt hat. Aus dem Versprecher ist mit den Jahren ein Versprechen geworden: Solang Mina fühlt, wird sie in der Welt sein, in dieser wie in jeder anderen, die möglich wären und vielleicht noch kommen werden. Solang sie verwundbar ist, wird um jede Wunde herum noch immer Ort und Wald und Herzschlag eines anderen sein und sie ein Teil davon."
"Der Defekt" ist eine wortmächtige Coming-of-Age-Geschichte, die das heikle Thema BDSM behutsam und vorsichtig behandelt. Leona Stahlmann lässt ihre Leser tief in eine Gefühlswelt eintauchen, die entgegen allen Klischees von Zärtlichkeit und Liebe geprägt ist.
Leona Stahlmann: "Der Defekt"
Verlag Kein & Aber, Zürich. 272 Seiten, 22 Euro.