Donnerstag, 25. April 2024

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Leopoldina-Forscher zu Lockdown-Lockerungen
"Von Erfolg gekrönt, wenn man sich weiterhin diszipliniert verhält"

Die Entscheidungen zur Lockerung der Corona-Maßnahmen hält Leopoldina-Forscher Dirk Brockmann für vernünftig. Man dürfe nun aber nicht vergessen, weiterhin Abstand zu halten, sagte er im Dlf. Die Zahl der Neuinfektionen müsse weiter gesenkt werden - auch durch freiwilliges Tragen von Masken.

Dirk Brockmann im Gespräch mit Ralf Krauter | 16.04.2020
Ein Schild mit der Aufschrift "Abstand halten" steht vor einem Marktstand auf einem Wochenmarkt.
Auch bei schrittweiser Rückkehr zu öffentlichem Leben müssen die Abstandsregelen weiter eingehalten werden, sagte Leopoldina-Forscher Dirk Brockmann im Dlf (picture alliance/Michael Reichel/dpa-Zentralbild/dpa)
VW will Ende April die Autoproduktion in Deutschland wieder hochfahren und das Corona-Kabinett der Bundesregierung verkündete gestern Mittag, kleinere Geschäfte sollen bald wieder aufmachen dürfen, sofern sie Hygieneauflagen einhalten und Maßnahmen zum Infektionsschutz umsetzen. Die Lockerung des Lockdowns wegen der Corona-Pandemie nimmt allmählich konkrete Gestalt an.
Leopoldina zu Corona-Maßnahmen
Die strengen Kontaktbeschränkungen werden nur langsam gelockert – das ist das zentrale Ergebnis der Beratungen von Bund und Ländern über das Vorgehen ab dem ab dem 20. April. Dabei spielte ein Papier der Wissenschaftsakademie Leopoldina eine besondere Rolle. Szenarien und Hintergründe.
Klar ist aber auch: Sie wird sicher nur schrittweise, mit Augenmaß erfolgen, um jederzeit zurückrudern zu können, sofern die Zahl der Neuinfektionen wieder rasant steigen sollte. Um halbwegs auf der sicheren Seite zu bleiben, sollen die strikten Kontaktbeschränkungen auf jeden Fall bis zum 3. Mai aufrechterhalten bleiben, also noch mindestens zweieinhalb Wochen. Danach könnten wohl auch die Schulen zum Teil wieder öffnen.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Vieles von dem, was die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten da gestern beschlossen haben, findet sich so oder so ähnlich in einer Stellungnahme, die die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina am Ostermontag veröffentlicht hat. Dirk Brockmann, Professor für Theoretische Biologie an der Berliner Humboldt-Universität, ist einer der 26 Autoren, die daran mitgewirkt haben.
Ralf Krauter: Wie bewerten Sie die neuen Vorgaben von Bund und Ländern?
Dirk Brockmann: Ganz allgemein kann man sagen, dass mit den Maßnahmen und den Entscheidungen erst mal in die richtige Richtung gegangen wird. Das heißt, es wird überlegt, wie man schrittweise wieder in die Normalität zurückfinden kann, aber gleichzeitig dabei auch zusätzliche Maßnahmen, die sozusagen die Lockerungen, die ja dann durchgeführt werden, wieder kompensieren können, damit man die Zahl der Neuinfektionen auf ein sehr niedriges Niveau bringen kann. Dafür sind halt noch zusätzliche Maßnahmen notwendig.
"Die Fallzahlen müssen zurückgehen"
Ralf Krauter: Wenn man sich die Stellungnahme der Leopoldina vom Ostermontag durchliest, steht da unter anderem, die Vermittlung eines realistischen Zeitplans oder eines klaren Maßnahmenpakets zur schrittweisen Normalisierung erhöhen die Kontrolle und Planbarkeit für alle. Da steht auch, die Wiedereröffnung der Bildungseinrichtungen sollte so bald wie möglich erfolgen, und da steht auch, das öffentliche Leben könnte schrittweise wieder normalisiert werden - vorausgesetzt, dass die Zahl der Neuinfektionen auf einem niedrigen Niveau stabil bleibt und die bekannten Infektionsschutzmaßnahmen diszipliniert eingehalten werden. All das findet sich mehr oder weniger eins zu eins so in dem, was die Regierung und die Länder heute beschlossen haben. Ist das ein Erfolg aus Ihrer Sicht?
Brockmann: Ich würde das einfach als eine vernünftige Entscheidung betrachten. Die Dänen sind ja so was wie eine Roadmap gewesen, das heißt, durchdachte Vorschläge, die, wenn man sie befolgt, durch einen Erfolg gekrönt werden. Erfolg heißt einfach, dass wenn man sozusagen eine Lockerung macht, dass man dann zusätzlich auch nicht vergisst, dass man weiterhin diszipliniert sich verhält, auf Abstand achtet und gegebenenfalls halt durch andere Hilfsmittel, die sozusagen die Reproduktionszahl – das ist die wichtige epidemiologische Größe – noch weiter drückt, sodass dann auch gewährleistet ist, dass die Fallzahlen, die jeden Tag reinkommen, zurückgehen.
Aktuelle Zahlen und Entwicklungen
Im Coronavirus-Zeitalter sind wir alle zahlensüchtig: Wie viele gemeldete Coronavirusfälle gibt es in Deutschland? Verlangsamt sich die Ausbreitung des Virus, wie entwickeln sich die Fallzahlen international? Wie die Zahlen zu bewerten sind – ein Überblick.
Krauter: Die Reproduktionszahl gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter infiziert, und die muss unter eins gedrückt werden – kann man das so zusammenfassen?
Brockmann: Genau, die muss unter eins gedrückt werden. Das muss man sich so vorstellen: Wenn jetzt, sagen wir mal, tausend Infizierte da sind und jeder dieser Menschen im Durchschnitt weniger als eine andere Person infiziert, dann sind es in der nächsten Generation weniger als tausend und dann wieder weniger und dann wieder weniger. Das ist der Mechanismus, wie die Fallzahlen immer weiter fallen können. Genau das Gegenteil ist halt der Fall, wenn diese Zahl größer als eins ist, dann würden die Fallzahlen immer steigen. Momentan sind wir so an diesem kritischen Wert um eins, weshalb in Deutschland eigentlich jeden Tag in etwa immer die gleiche Anzahl von Neuinfektionen auf einem relativ hohen Niveau sich stabilisiert hat. Wenn das unter eins geht, dann fallen diese Zahlen.
"Zahl der Neuinfektionen im Hunderterbereich stabilisieren"
Krauter: Kommen wir ein bisschen auf die Kriterien zu sprechen, die erfüllt sein müssen, dass all das, was dann heute beschlossen wurde, auch tatsächlich eintreten kann – Sie haben es gerade schon angerissen, die Reproduktionszahl muss sinken. Was verbirgt sich denn ganz konkret hinter so einer Formulierung, wie sie in dem Leopoldina-Statement steht: "Die Zahl der Neuinfektionen stabilisiert sich auf niedrigem Niveau"? Derzeit haben wir ja weit über tausend Neuinfektionen pro Tag, wie weit müssten wir runterkommen, auf Hunderte oder nur Dutzende?
Brockmann: Substanziell viel, eher so im Bereich Hunderte. Man muss sich das ja so vorstellen, dass wenn es erfolgreich gelingt, diese Reproduktion runterzudrücken, dann werden sehr schnell die neuen Fallzahlen fallen, aber man kann sie natürlich nicht so einfach auf null runterdrücken, weil ja Deutschland nicht isoliert ist. Die ganze Welt ist ja über Verkehr verkoppelt, das heißt, wenn man es selbst auf null drückte, müsste man es da ja halten und gewährleisten, dass keine neuen Fälle reinkommen. Und das gilt für alle Länder weltweit – im Prinzip muss man das weltweit machen. Da das nicht gelingen wird – das sieht man ja auch an China, wo wir viele Fälle hatten, das hat sich dann stabilisiert, oder in Südkorea, und dennoch passieren da immer neue Infektionen, aber auf einem geringen Niveau. Das heißt, hier muss das Ziel sein, dass man eher so in den Hunderterbereich kommt oder gegebenenfalls noch weiter nach unten, und dann kann man sehen, ob man das auf dem Niveau stabilisieren kann.
Bei Pflicht zu Mund-Nasen-Schutz müssten auch genügend Masken zur Verfügung stehen
Krauter: Atemschutzmasken könnten möglicherweise ein bisschen helfen, die Zahl der Neuinfektionen zu reduzieren, das belegen jedenfalls verschiedene Studien, weil sie schützen sozusagen andere Menschen vor den Viren, die man vielleicht selber schon in sich trägt. Nun haben die Leopoldina-Experten und Sie auch ja gefordert eine Maskenpflicht, unter anderem im öffentlichen Nahverkehr. Dazu wollte sich die Politik jetzt noch nicht durchringen. Es soll in Geschäften eine starke Empfehlung dafür geben, Atemschutzmasken zu tragen, aber keine Pflicht. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Brockmann: Na, dafür kann es natürlich viele Gründe geben. Es ist ja sozusagen qualitativ ein Unterschied, wenn ich Menschen auffordere oder nahelege, macht das, oder wenn ich sie dazu verpflichte. Generell ist es, denke ich, eine gute Idee – man sieht das ja auch, bei immer mehr Menschen wird es zur Norm, dass sie mit Mund-Nase-Schutz in die Öffentlichkeit gehen. Wenn sich so was als eine Norm etabliert, ist das sehr begrüßenswert, weil der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass, wenn der größte Teil der Population das macht – über einen längeren Zeitraum auch –, dass die Basisreproduktionszahl eben noch weiter gedrückt werden kann. Sie muss ja wie gesagt nur unter diesen kritischen Wert, und dann erübrigt sich das von alleine. Deshalb ist es wichtig, dass sozusagen in der Bevölkerung die Bereitschaft dazu existiert, das zu machen, und ich denke, das wird sich auch durchsetzen.
Eine Frau mit einer Stoffmaske in einem Supermarkt in Wien
Gesundheitspolitiker Erwin Rüddel zu Masken
Das Tragen von Schutzmasken in der Öffentlichkeit werde künftig eine bedeutende Rolle spielen – und sei eine Möglichkeit der Exit-Strategie nach Ostern, sagte der CDU-Gesundheitspolitiker Erwin Rüddel im Dlf. Sobald die Gesundheitsberufe ausreichend ausgestattet seien, sollte es zum Standard werden.
Bei einer Pflicht heißt es ja auch immer, wenn man so eine Pflicht einführt, dann muss auch gewährleistet sein, dass die Bevölkerung dieser Pflicht nachkommen kann, und das bedeutet eben, dass auch Masken zur Verfügung stehen. Die Idee einer Freiwilligkeit bedeutet, dass die Menschen halt auch zum Beispiel sich Community-Masken selbst stricken können und auf anderem Wege irgendwie an Mund-Nase-Schutz kommen. Da gibt es schon auch Gründe dafür, das so zu machen. Aber dass sie auf eine Pflicht verzichtet haben, mag daran liegen, dass es gegebenenfalls schwierig sein wird für Menschen, sich mit Masken auszustatten.
Infektionszustand der Bevölkerung muss besser bewertet werden können
Krauter: Sprechen wir noch über das Monitoring der aktuellen Infektionszahlen, da fordert die Leopoldina ja eine möglichst genaue Kenntnis des aktuellen Status in der Bevölkerung und eine möglichst gute Quantifizierung des Infektionsprozesses. Was meinen Sie damit, welche Daten müsste man zusätzlich erheben und wie könnte das gehen?
Brockmann: Das ist sozusagen im Kern eine Voraussetzung dafür, dass man zum Beispiel prognostische Modelle anwenden kann, um zum einen bessere Vorhersagen zu machen – auch regional hoch aufgelöst, was die Dynamik angeht –, aber auch, um zu testen, inwiefern zum Beispiel die Lockerung von Maßnahmen einen negativen Effekt hat, um das sofort zu diagnostizieren oder um auch effektive Maßnahmen genau identifizieren zu können. Wenn man zum Beispiel regional jetzt anfängt, Mund-Nase-Schutz zu tragen, dann wird das einige Wochen später dann auch schon einen Effekt zeigen, und so was muss man halt in Realzeit hoch aufgelöst messen können.
16.01.2020, Berlin: Dieter Kempf, BDI-Präsident, bei der Jahresauftakt-Pressekonferenz des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in der Bundespressekonferenz. Der BDI führt das BIP-Plus von 0,5 Prozent zu achtzig Prozent auf die höhere Zahl an Arbeitstagen zurück. Foto: Jörg Carstensen/dpa | Verwendung weltweit
BDI-Präsident Dieter Kämpf: "Es hätte bessere Kriterien für Geschäftsöffnungen gegeben"
BDI-Präsident Dieter Kämpf begrüßt den Bund-Länder-Beschluss zur Öffnung von Geschäften in der Coronakrise. Das Öffnungskriterium Ladengröße könne er jedoch nicht nachvollziehen, sagte er im Dlf. Das Ansteckungsrisiko ließe sich besser durch Hygienekonzepte und eine Mundschutzpflicht vermeiden.
Eine Methode ist natürlich, weiter intensiver zu testen und auch genauer zu testen, aber auch Methoden aus der digitalen Epidemiologie zu verwenden, wo Daten zum Beispiel gewonnen werden durch die Corona-Datenspende, die das RKI gestartet hat letzte Woche, wo mehr als 400.000 Menschen ihre Fitness-Tracker-Daten anonymisiert an das RKI übermitteln. Aus diesen Fitness-Tracker-Daten kann man zum Beispiel Fiebersymptomatik schätzen, und damit kann man sehr viel genauer – das ist jedenfalls die Hoffnung – die Dunkelziffer schätzen und vor allem in Realzeit. Das sind so die Ideen, die da aufgelistet worden sind, also dass man verschiedene Wege findet, um ein besseres Bild in der Realzeit zu haben, was den Infektionszustand der Bevölkerung angeht. Das sind alles Mittel, die nicht alleine greifen, sondern halt im Zusammenschluss, quasi als Gesamtpaket, als eine Werkzeugkiste, um das besser zu bewerten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.