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Lernen von der Labour-Partei
Eine Dosis Jeremy Corbyn für die SPD

Jeremy Corbyn hat mit seiner Labour-Partei bei der britischen Parlamentswahl besser abgeschnitten, als erwartet. Das Rezept des Außenseiters: Authentizität und Volksnähe. Wahlforscher fragen sich jetzt: Könnte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz bei der Bundestagswahl im Herbst ähnliches gelingen?

Von Friedbert Meurer | 22.06.2017
    Labour-Chef Jeremy Corbyn steht vor seinem Wahllokal und winkt.
    Jeremy Corbyn gab den einfachen Leuten eine Stimme und schnitt damit bei der Parlamentswahl in Großbritannien mit Labour besser ab als erwartet. (AFP / Daniel Leal-Olivas)
    Der britische Wahlabend des 8. Juni – Punkt 22 Uhr verkündete der Moderator der BBC die Sensation. Die Konservativen wurden zwar zur stärksten Partei gewählt, aber Theresa May verlor die absolute Mehrheit. Jeremy Corbyn und seine Labour-Partei waren ihr gefährlich nahe gerückt. Eine solche Aufholjagd, wie jetzt die von Labour, hat es praktisch noch nie gegeben, ist das Fazit der verblüfften Wahlforscher.
    Und in Deutschland fragen sich die Politikanalysten: Könnte Martin Schulz ein ähnliches Beinahe-Wunder gelingen? Nicht nur der Chef des Gewerkschaftsbundes Reiner Hoffmann verlangt: "Wir brauchen einen deutschen Corbyn". In einem sind "Old Labour" und die angeblich altlinken Politiker von vorgestern ziemlich modern: im Umgang mit den sozialen Netzwerken.
    "Wir haben die Mundpropaganda wieder neu erfunden", freute sich John McDonnell, die Nummer 2 der Partei. "Wir haben damit die Überheblichkeit in der Printpresse umgangen und unsere Wähler über die sozialen Medien direkt angesprochen."
    Eine Untersuchung hat jetzt ergeben, dass von den 100 erfolgreichsten Wahlkampf-Posts im Netz fünf pro Theresa May waren, aber fast 50 pro Labour und Jeremy Corbyn. Der Rest war neutral. "Was die Menschen, nicht die Etablierten und ihre Sprachrohre in den Medien wollen, das ist unsere Politik."
    Junge Wähler für Parteipolitik begeistern
    Erfolgsfaktor Nummer 2: Die Wahlbeteiligung der Jungen kletterte von 43 auf nicht für mögliche gehaltene 72 Prozent. In Deutschland haben sowohl SPD als auch CDU ein Generationenproblem. Eine Bundestagswahl der unter 60jährigen würde die CDU vermutlich verlieren. Wie aber kann man die Jungen wieder von der Partei-Politik begeistern?
    Jeremy Corbyn wurde im Wahlkampf wie ein Popstar gefeiert. Überall entfachte der Mann, der angeblich kein Charisma besitzt, wahre Jubelstürme, und im Publikum waren viele junge Leute. Wem es gelingt, ihren Enthusiasmus zu wecken, der kann eine Wahl drehen - oder zumindest fast drehen.
    "Die jungen Menschen lassen sich am meisten begeistern, weil sie sich ihrer Zukunft beraubt sehen", analysierte Owen Jones schon frühzeitig. Er ist Redakteur des "Guardian" und Aktivist der Linken. Die Jungen könnten sich kein Haus und keine Wohnung mehr leisten, ihnen würden Schulden aufgebürdet und sie fänden nur schwer sichere Jobs.
    Martin Schulz am Rednerpult mit erhobenen Händen vor einer blauen Wand
    Auch Martin schulz präsentiert sich gerne als Mann aus dem Volk. (dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Erfolgsfaktor Nummer 3: Bisher galt die Lehrmeinung: Nur wenn Labour sich in die Mitte bewegt, kann sie Wahlen gewinnen. Jetzt hat sie mit einem linken Programm und einem linken Kandidaten einen großen Erfolg verzeichnet, hält Philip Collins von der "Times" fest:
    "Es galt immer die Annahme, dass Sie links keine Wahlen gewinnen können. Diese Annahme steht jetzt definitiv infrage." Collins bedauert seit Langem, dass die Rechten bei Labour nichts Interessantes zu bieten hätten.
    Mit Schlüsselwörtern Wahlen gwinnen
    Erfolgsfaktor Nummer 4: Man fokussiert eine Wahlbotschaft am besten auf einen einzigen Begriff, auf ein Schlüsselwort. Nicht "Innovation und Gerechtigkeit" zum Beispiel wie einst unter Gerhard Schröder und Franz Müntefering, sondern zum Beispiel "Hoffnung" – "Hope". Zum Schlüsselwort "Hope" gehört auch ein Hoffnungsträger – Jeremy Corbyn, der lange von vielen unterschätzt wurde, verkörpert für 40 Prozent der Briten genau das. Aber die politischen Gräben in Großbritannien sind erheblich tiefer, lautet der Einwand, die Bitterkeit der sozial unter Druck geratenen Schichten ist erheblich größer als in Deutschland.
    Erfolgsfaktor Nummer 5: Jeremy Corbyn gab einfachen Menschen eine Stimme. Im Unterhaus las er ständig aus Briefen vor, die ihm als Abgeordneten zugeschickt wurden. Das klang manchmal ungelenk und Medienprofis waren belustigt - beim Wahlvolk aber kam das an. Corbyn zitiert eine Maureen, die schreibt: "Uns wird übel mitgespielt, vor allem uns Frauen, die in den 50er-Jahren geboren wurden. Wir sollen bis zum Alter von 66 Jahren arbeiten."
    "Mehr Rente" hat erstaunlicherweise bei der Wahl in Großbritannien die Jungen nicht verschreckt. Jeremy Corbyns Glück war aber auch, dass Theresa May völligen Schiffbruch dabei erlitt, sich selbst sozialpolitisch profilieren zu wollen, statt darauf zu verweisen, dass soziale Wohltaten bezahlbar sein müssen.
    Ein letzter Tipp für Martin Schulz
    Schließlich ein letzter Tipp für Martin Schulz von der Insel. Angela Merkel will vor der Bundestagswahl nur an einem einzigen Fernsehduell teilnehmen, und nicht an zwei. Auch Theresa May hatte der BBC einen Korb gegeben. Erst wollte Corbyn dann auch nicht kommen, tat es dann aber doch und führte May als abgehobene Politikerin vor. "Ich bin heute Abend hier, um über die Zukunft unseres Landes zu reden."
    Es ließ ihn, den vermeintliche Außenseiter, so viel souveräner wirken als die Amtsinhaberin. Corbyn ist authentisch und volksnah. Diese Botschaft kam an.