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Lernforscher
Sitzenbleiben löst selten Probleme

Das Ende des Schuljahres bringt jedes Jahr für viele Schüler eine enttäuschende Nachricht: Sie müssen das Jahr wiederholen. Doch hilft das Sitzenbleiben?Nur bedingt, findet Neurologe Manfred Spitzer. Denn die häufigste Ursache für schlechte Noten - die fehlende Motivation - werde dadurch nicht behoben, sondern verschärft, sagte Spitzer im Dlf.

Manfred Spitzer im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 11.07.2017
    Ein Schüler sitzt im Unterricht an einem Schreibtisch und stützt seinen Kopf
    Statt ein Schuljahr zu wiederholen, könnte auch ein Jahr im Ausland den Schülerm helfen, meint Hirnforscher Michael Spitzer. (dpa / Wolfram Kastl)
    Tobias Armbrüster: Es ist Ferienzeit in Deutschland. In vielen Bundesländern hatten die Schüler schon ihren letzten Schultag. In dieser Woche endet nun auch das Schuljahr in Nordrhein-Westfalen. Wenig später dann sind auch Bayern und Baden-Württemberg dran. Es ist eigentlich insgesamt eine schöne Zeit, aber für Tausende von Schülern und Schülerinnen endet dieses Schuljahr auch in diesem Sommer mit einer Enttäuschung: Sie bleiben sitzen, wissen schon jetzt, dass sie das Schuljahr wegen schlechter Leistung wiederholen müssen.
    Passt dieses Konzept Sitzenbleiben tatsächlich noch in den Bildungsalltag in Deutschland? Jedes Jahr beginnt darüber eine Debatte. Ich habe darüber vor wenigen Minuten mit einem der führenden Neurologen und Lernforscher Deutschlands gesprochen, mit Manfred Spitzer von der Universität Ulm. Erste Frage an ihn: Wie hilfreich ist das Sitzenbleiben?
    Manfred Spitzer: Ich glaube, das hängt ganz vom konkreten Fall ab. Man kann nicht sagen, es ist insgesamt gut oder insgesamt schlecht. Aber nehmen wir an, da hat jemand aufgrund von Krankheit oder Umzug oder anderen Widrigkeiten einfach den Stoff nicht mitbekommen und man entschließt sich - und das war ja auch die ursprüngliche Idee vom Sitzenbleiben -, dass er noch mal ein Jahr bekommt, um diesen Stoff nachzulernen, dann kann das durchaus sinnvoll sein.
    Wenn man aber davon ausgehen muss - und ich glaube, das betrifft die Mehrheit heute -, dass es hier um ein Motivationsproblem geht, also den üblichen 14-Jährigen, der null Bock auf Nichts hat, wenn man den dann durchfallen lässt, dann bessert das seine Motivationslage auf keinen Fall, sondern es wird nur noch schlechter und so kommt es dann zu so einer Abwärtsspirale, die man eigentlich vorher schon unterbrechen sollte. Ich denke mal, wenn jemand sitzenbleibt, dann ist schon viel schiefgegangen, vor allem jemand mit Motivationsproblemen, und bei dem löst man das Problem durch Sitzenbleiben überhaupt nicht.
    "Ich empfehle weit weg, zum Beispiel Tasmanien"
    Armbrüster: Die Motivationsprobleme sprechen Sie an. Haben Sie den Eindruck, dass Deutschlands Bildungspolitiker diese Differenzierung auf dem Schirm haben?
    Spitzer: Na ja, ich glaube, eher nicht, denn sonst könnte man sich ja andere Ideen überlegen. Wenn jemand keine Lust mehr hat, in die Schule zu gehen, in der Mittelstufe zum Beispiel, dann sollte man die Möglichkeit haben, dass man zum Beispiel ein Jahr da nicht mehr hingeht, und dann sollte eben mal ein junger Mann entweder in die Welt rausgehen - ich empfehle da auch weit weg; Tasmanien ist sehr gut, da kann man nicht mal schnell wieder zu Muttern nach Hause, wenn man Hunger hat -, um sich zu bewähren, um zu sehen, welchen unglaublichen Wert Bildung darstellt.
    Armbrüster: Entschuldigen Sie, wenn ich Sie da unterbreche. Und dann Tasmanien ganz ohne Schulbücher, ohne Hefte?
    Spitzer: Wenn es sein muss, wenn jemand sagt, ich mag einfach nicht mehr in die Schule gehen, dann soll er nicht mehr in die Schule gehen müssen für ein Jahr und sich dieses Jahr mal mit sich selber beschäftigen und mal abarbeiten und mal sehen, wie es ist, wenn man auch sich selber versorgen muss. Ein Jahr Hotel Mama sollte dann nicht passieren, sondern es sollte dann wirklich explizit irgendeine Maßnahme passieren, wo jemand mal lernt, wie die Welt tatsächlich funktioniert außerhalb der Schule, außerhalb dieses geschützten Raumes.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Manfred Spitzer: "Mal ein Jahr mit sich selber beschäftigen" (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
    Und dann wird sich die Motivationslage drastisch ändern. Das kann man leicht vorhersagen. Und dann wird aus jemandem, der null Bock auf nichts hat, jemand, der weiß, warum er lernt, und das ist das Wichtigste. Wenn er nur lernt, weil die anderen das ihm sagen, und die Lehrer und die Eltern und alle anderen, die so blöd sind und sowieso nicht seine Probleme und ihn verstehen, ja dann wird sich daran nichts ändern. Ich denke mir, dieses Problem muss man anders lösen als durch Sitzenbleiben.
    "In diesem Jahr findet so was wie Nachreifung statt"
    Armbrüster: Da kann ich mir jetzt vorstellen, dass da viele Eltern jetzt sagen, ja da hat der liebe Professor Spitzer aus Ulm jetzt gut reden, wenn mein Sohn oder meine Tochter, auch wenn sie demotiviert sind, wenn die jetzt einfach ein Jahr lang sozusagen Pause machen und auf andere Gedanken kommen. Dann haben sie immer noch ein ganzes Jahr verloren.
    Spitzer: Dieses Jahr ist aber nicht verloren, weil in diesem Jahr so was wie Nachreifung stattfindet, und das muss stattfinden in den Widrigkeiten des Alltags. Ich sage mal so: Wenn wir Schüler haben mit Motivationsproblemen, dann ist das ja im Laufe der Zeit entstanden. Dann haben die ja immer mehr Zeit gehabt, sich meinetwegen vor den Fernsehapparat oder heute vor die Playstation zurückzuziehen, oder sie sind tagträumend durch die Gegend gegangen und es war ihnen gar nicht klar, dass man was tun muss, um seine Existenz zu erhalten.
    Erwachsene, die gehen arbeiten, die machen einen Job, und zwar nicht alle, weil es ihnen Spaß macht. Das ist zwar das Optimum, wenn man das hinkriegt, und das kriegt man über Bildung hin, dass man sagt, hey, ich kenne mich da so gut aus und das macht mir so einen Spaß, und dann habe ich Spaß an meiner Arbeit. Das ist ja das, was man hofft, dass das viele Menschen erreichen, weil dann müssen sie nicht mehr arbeiten. Nein, dann macht ihnen das Spaß.
    Und da sagt schon Konfuzius, dann muss man nie mehr arbeiten, wenn man das macht, was einem Spaß macht. Da hinzukommen ist aber nicht einfach, und das fällt einem nicht in den Schoß, sondern da muss man erst mal irgendwas können, egal was es ist, und das muss man mit Motivation hinkriegen. Anders geht es nämlich gar nicht. Und wenn die fehlt, dann nützt auch drei Jahre Sitzenbleiben nichts. Dann ist auch keine Zeit vertan, wenn dieser Reifungsprozess kommt. Für den muss man sorgen und ich glaube, für diese Dinge, da ist Schule heute nicht so gut geeignet.
    Ich sage noch ein anderes Beispiel: Wenn heute die meisten Abiturienten von der Schule gehen und ganz klar sagen, ich weiß eigentlich nicht, was ich werden will, dann hat die Schule versagt, denn in der Schule sollte jeder mal alles Mögliche ausprobiert haben und dann wissen, was er besser kann und was er schlechter kann, und deswegen auch wissen, was er eher machen möchte und was er nicht machen möchte. Und wenn das nicht geleistet wurde in 13 oder 12 Jahren Schule, dann weiß ich nicht, wo es sonst geleistet werden soll, und dann hat die Schule versagt. Dann hat sich der Betreffende oder die Betreffende nie mal richtig ausgereizt, sondern ist so mitgeschlurft, und das darf nicht sein.
    Die schöne, neue Welt der Bildung
    Armbrüster: Herr Spitzer, wenn Sie da von demotivierten Schülern sprechen, was machen die Schulen da falsch?
    Spitzer: Ich glaube, da ist schon ein bisschen der Fehler im System. Viele Schulen und viele Lehrer machen es richtig. Das muss man erst mal ganz klar sagen. Es ist so, dass heute zum Teil die jungen Lehrer, ich sage mal, mit dem USB-Stick kommen, den in irgendein Gerät einschieben und dann einen vorbereiteten Biologieunterricht abspulen, bei dem sich alle langweilen, einschließlich des Lehrers, und bei dem niemand was lernt. Das ist die schöne neue Welt der Bildung, die ganz furchtbar ist, weil Lernen und Lehren immer zwischen Menschen geschieht, und wenn da ein Medium ist, was dazwischen ist, wenn da was dazwischen ist, dann wird es nicht besser, sondern schlechter.
    Und man muss ganz klar sagen: Wenn wir so weitermachen, dann wird die Schule immer mehr zu einem gegenseitigen Anöden, und dazu darf sie nicht verkommen. Dazu ist sie mancherorts verkommen und das ist schade, und das müsste nicht sein und dagegen müssen wir an und dagegen müssen alle Änderungen von Rahmenbedingungen an, dass wieder Schule mehr Freude macht, dass man da sich selber ausleben kann und dass man da lernt, wer man selber eigentlich ist. Das ist letztlich das Ziel von Schule.
    Was willst Du überhaupt?
    Armbrüster: Ganz kurz zum Schluss, Herr Spitzer. Was raten Sie einem Vater oder einer Mutter, die jetzt wieder kurz vor den Sommerferien dasteht und sagt, mein Sohn, meine Tochter muss nächstes Jahr das Schuljahr wiederholen, ich weiß nicht, ob das gut geht? Was für Tipps haben Sie für solche Eltern parat, oder was für einen Haupttipp, auch wenn diese Leute jetzt kein Ticket nach Tasmanien gebucht haben?
    Spitzer: Ja, das hängt ein bisschen wirklich vom Alter ab, was man schon machen darf. Schulpflicht besteht bis Ende neunte Klasse. Wenn der- oder diejenige älter ist, muss man sich tatsächlich überlegen, sag' mal, willst Du nicht was anderes machen, oder was willst Du überhaupt. Es gibt eine schöne amerikanische Studie, wo man gezeigt hat, dass wenn man die jungen Leute fragt, Siebtklässler, was wollt ihr denn, und dann Gitarre spielen lernen oder irgendwas dürfen die ankreuzen, und man dann ab und zu mal fragt, wie sieht es denn aus, könnt ihr das, dann ist diese eine Intervention geeignet, um die Rate der Sitzenbleiber von 18 Prozent auf sechs Prozent zu senken. Das ist kein Witz. Das ist im "Science Magazine" gleich zweimal publiziert worden, weil man es wiederholt hat, weil man es nicht geglaubt hat, und es war wieder der Fall.
    Mit anderen Worten: Deswegen habe ich auch vorhin vom Motivationsproblem gesprochen. Wenn man es schafft, die Kinder zu packen, und man muss sie nur fragen, hey, was wollt ihr denn, ja dann macht doch, und wenn man ihnen das erlaubt, dann lernen sie: Hey, wenn ich was will, kriege ich das hin. Und das hilft ihnen natürlich auch in der Schule, wenn sie wissen, wenn ich was will, kriege ich das hin, und dann kriegen sie es hin, und eben sogar die Schule, obwohl sie nicht in der Schule besser werden wollten. Das nehmen die so mit, weil sie irgendwas machen, was ihnen Spaß macht und darin besser werden. Ich würde als Vater fragen, sag mal, was willst Du eigentlich, was macht denn Dir Spaß, und wenn er über der neunten Klasse ist, dann würde ich sagen, ja dann mach das doch, jetzt, gleich, und dann gucken wir mal, was wird.
    Armbrüster: … sagt hier bei uns im Deutschlandfunk der Gehirn- und Lernforscher Manfred Spitzer von der Universität Ulm. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen.
    Spitzer: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.