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"Lesen macht schlau"

Unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Horst Köhler beginnen die deutschen Bibliotheken heute zum zweiten Mal die Aktionswoche "Deutschland liest". Der Kölner Pfarrer Franz Meurer betont die Bedeutung von Büchereien für Kinder. Dort lernten sie, dass es Freude und Vergnügen macht, sich selber zu bilden.

Franz Meurer im Gespräch mit Friedbert Meurer | 06.11.2009
    Friedbert Meurer: Das Sams ist eine der beliebtesten Kinderbuchfiguren überhaupt in Deutschland, erfunden von Paul Maar. Es lädt Kinder letztlich dazu ein, frech, fröhlich und ungezwungen zu sein. Paul Maar selbst hat einmal gesagt, entweder haben Kinder eine Neigung zu lesen oder nicht, aber jenseits von Neigungen, das Problem heute ist: Praktisch eine Hälfte der Kinder hat mit Lesen nichts am Hut, wenn die Eltern es nicht fördern.

    Heute beginnt die Aktionswoche der Bibliotheken "Deutschland liest" und darüber möchte ich mich unterhalten mit Franz Meurer, katholischer Pfarrer im rechtsrheinischen Köln, in Höhenberg und Vingst. In seiner Gemeinde gilt jedes zweite Kind als arm. Guten Morgen, Herr Meurer.

    Franz Meurer: Guten Morgen!

    Friedbert Meurer: Wie lesefreudig lernen Sie Ihre Kinder kennen?

    Franz Meurer: Zuerst wenig, aber da man bei uns in der Kirche jeden Sonntag so viele Bücher geschenkt mitnehmen kann, wie man will, wird es immer besser. Und wir haben ein Denk- und Lesetraining gemacht mit über 2000 Heften mit der Frau Professor Marx. Am Anfang war es ganz schrecklich. Unsere Kinder sind auf dem Stand sechs von 100. Das heißt, 94 Kinder sind besser. Aber das lässt sich steigern bis 40 auf 100. Und jetzt kommt der eigentliche Skandal: Die Intelligenz ist 98 von 100. Das heißt, nicht die Kinder sind das Problem, sondern wir. Ein normales Kind bekommt in Deutschland 1756 Stunden vorgelesen, bis es in die Schule kommt. Das kann man gar nicht glauben, aber wenn man mal durchrechnet: Es stimmt, bis es in die Schule kommt. Viele Kinder nicht. Ein Hauptproblem sind die Kinder mit Migrationshintergrund. Deswegen haben wir unser Sprach- und Denktraining übersetzt auch auf Türkisch.

    Friedbert Meurer: Entschuldigung, Herr Meurer. Jetzt haben Sie uns viele Zahlen genannt. Heißt das, dass die Kinder am Anfang weniger intelligent sind und durch Lesen ihren Intelligenzquotienten fördern?

    Franz Meurer: Nein, eben nicht. Die sind intelligent, aber es wird das induktive Denken nicht entwickelt. Das ist der Kick. Die Intelligenz kann sich nicht ausweiten auf Fertigkeiten und Fähigkeiten. Und dann, das ist das Schlimme, wenn die in der Schule sind - diese Kinder fördern wir natürlich auch, zusammen mit acht Schulen und vielen, vielen Kindergärten -, dann, muss man schon sagen, hat die Lernfähigkeit nachgelassen.

    Friedbert Meurer: Warum ist das so?

    Franz Meurer: Das ist sehr schwierig zu erklären. Es ist so: Bis zum sechsten Lebensjahr kann jedes Kind zwei Sprachen lernen. Wenn konsequent die Mutter zum Beispiel Türkisch spricht und der Vater Deutsch oder Französisch und Englisch, ist dies möglich. Danach geht es fast nicht mehr. In meinem Alter, ich bin 58, kann ich vielleicht noch zwei, drei Wörter am Tag lernen. Ein Kind kann in der Vorschule 30 Wörter am Tag lernen. Das heißt, nicht die Intelligenz geht zurück, sondern die Fähigkeit zum induktiven Denken. Wir lernen Sprechen und Lesen dadurch, dass wir Regeln miteinander verknüpfen.

    Friedbert Meurer: Wäre das jetzt ein Plädoyer, Pfarrer Meurer, dass Migrantenkinder türkische Bücher und deutsche Bücher lesen sollen?

    Franz Meurer: Aber hundertprozentig! Das hat die Forschung und die Wissenschaft rausbekommen und das ist für uns auch eine neue Erkenntnis gewesen. Absolut das Wichtigste ist die Muttersprache. Ein türkischstämmiges Kind muss zuerst mal Türkisch lernen und dann kann man im Kindergarten anfangen, Deutsch dazuzunehmen. Denn dieses Kind hat ja zuerst mal drei Jahre Rückstand. Das heißt, wenn es in die Schule kommt und hat erst drei Jahre Kontakt mit deutscher Sprache und die anderen Kinder schon sechs Jahre, dann ist es für die Lehrerin und den Lehrer fast unmöglich, das aufzuholen, und dann kommen die Sprachtests im dritten Schuljahr - bums, haben wir da ein Problem.

    Friedbert Meurer: Legen Sie denn auch türkischsprachige Kinderbücher aus in Ihrer Kirche?

    Franz Meurer: Ja, aber selbstverständlich! Bei uns kommen zum Beispiel nach der Messe - wir haben das amerikanische Modell - sonntags kommen alle essen, trinken, lesen. Vorigen Sonntag gab es Würstchen mit Brötchen.

    Friedbert Meurer: Auch die, die nicht katholisch sind, kommen?

    Franz Meurer: Ja. Die kommen aber meistens dann nach der Messe oder mit ihren Freundinnen und Freunden in die Messe. Danach gibt es was zu essen, dann gibt es Kakao und auch jeden Sonntag Fahrrädchen geschenkt, weil neben den Problemen mit Lesen und Schreiben haben die Kinder auch Probleme mit Bewegung. 58 Prozent sind motorisch gestört, wenn sie in die Schule kommen. Bei uns kriegt jedes Kind ein Rädchen geschenkt, die uns von überall hergebracht und gesponsert werden.

    Friedbert Meurer: In welchem Maß müssen Sie nachhelfen, dass Migrantenkinder lesen?

    Franz Meurer: Wir helfen nach, indem wir zum Beispiel auch sonntagnachmittags Kurse anbieten, wo wir die Eltern informieren, wie wichtig es ist, eine Bildungsinvestition in ihre Kinder zu versuchen. Das ist natürlich wie alle Dinge viel Arbeit, aber da wir mit allen Kindergärten und Schulen zusammenhängen - wir haben eine Lehrerin hier, die seit 30 Jahren als türkische Lehrerin an unserer Schule unterrichtet. Diese Frau ist natürlich eine Kompetenz, eine moderne, gläubige, sehr engagierte Frau. Die kann man gar nicht toppen.

    Friedbert Meurer: Ein Klischee, Pfarrer Meurer, besagt, dass Kinder aus der Unterschicht, ob Migrantenhintergrund oder deutsch, den ganzen Tag nur DVDs, Fernsehen und so weiter gucken und nicht lesen. Ist das so?

    Franz Meurer: Die Gefahr besteht. Ich sage unseren Kindern sehr oft, schmeißt das Fernsehen durch das geschlossene Fenster, damit die anderen hören, schon wieder ein Fernsehen kaputt. Ich sage denen klar, natürlich auch fröhlich und freundlich, Fernsehen macht blöd, Lesen macht schlau. Das heißt, man kann nicht mit Verboten arbeiten, sondern man muss mit Geschichten arbeiten. Wir haben zum Beispiel bei uns in der Bücherei den Leseführerschein. Das heißt, aus den Kindergärten kommen die Kinder zwei, drei Tage morgens hin und dann machen die den Leseführerschein. Ein blödes Wort vielleicht, aber die finden das ganz toll. Am Schluss kriegen sie eben einen Führerschein zur Büchereibenutzung und müssen dann so ein Quiz machen, was gibt es in der Bücherei, eben Bücher, CDs und was weiß ich, Schmusetiere und so weiter. Man muss das Ganze mit Fantasie angehen, damit es eben Freude und Vergnügen macht, sich selber zu bilden.

    Friedbert Meurer: Der Kölner Pfarrer Franz Meurer ruft dazu auf, die Fernseher aus dem Fenster zu schmeißen und mehr zu lesen. - Heute startet die Aktion "Deutschland liest". Ich sprach mit Pfarrer Meurer im Deutschlandfunk. Danke schön und auf Wiederhören.

    Franz Meurer: Tschüss!