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Lettland
Zwiespältiges Gedenken

Auch in Lettland wird dem Ende des Zweiten Weltkriegs gedacht - allerdings erst am 9. Mai, dem Tag der Befreiung durch die Rote Armee. Viele Letten lehnen das jedoch ab: Denn der Tag bedeutete zwar das Ende der Nazi-Besatzung, markierte gleichzeitig aber auch den Beginn von 50 Jahren sowjetischer Besatzung.

Von Birgit Johannsmeier | 08.05.2015
    Abblätternde Wandmalereien zeigt unter anderem das Konterfei von Lenin in einer Kaserne der ehemaligen sowjetischen Militäranlage Skrunda-1 in Lettland.
    Die lettische Bevölkerung ist gespalten: Vor allem junge Letten mit russischen Vorfahren feiern die Rote Armee für die Befreiung von den Nazis, andere stehen der sowjetischen Besatzung kritisch gegenüber. (dpa / Alexander Welscher)
    Bühnenbau und Soundcheck im Siegespark der lettischen Hauptstadt Riga.
    Über Leinwand, Lautsprecheranlage und zahllose Buden für Schaschlik und Bier erheben sich drei riesige Steinfiguren: die Soldaten des sowjetischen Siegerdenkmals der Roten Armee. Morgen Früh werden hier die russischen Kriegsveteranen geehrt, die am 9. Mai 1945 Lettland von der Nazidiktatur befreit haben. Erste Schaulustige zieht es aber schon heute auf jenen grauen Platz, der jährlich am 9. Mai unter einem Blumenmeer versinkt. Es sind junge Leute russischer Herkunft, deren Vorfahren sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Lettland niedergelassen haben:
    "Mein Urgroßvater hat im Krieg gekämpft und ist dann nach Lettland gezogen. Meist lege ich mit meiner Großmutter ihm zu Ehren Blumen nieder, morgen werde ich alleine am Denkmal sein."
    "Am 9. Mai komme ich immer zum Siegerdenkmal. Mein Vater wurde im Großen Vaterländischen Krieg verwundet und mein Großvater ist gefallen."
    Letten haben deutsche Besatzung in eher guter Erinnerung
    Während die Vorbereitungen für die Feier der sowjetischen Kriegsveteranen weiter auf Hochtouren laufen, wechseln häufig Passanten die Straßenseite und schütteln missbilligend den Kopf.
    "Wir Letten feiern den 9. Mai nicht. Denn am 9. Mai 1945 hat uns die ehemalige Sowjetunion zum zweiten Mal besetzt."
    "Ja, vielleicht hat uns die Rote Armee am 9. Mai von den Nazis befreit. Aber wir lebten 50 Jahre unter sowjetischer Besatzung, das war furchtbar."
    Überraschend haben die Letten die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg in eher guter Erinnerung. Nach einem Jahr des sowjetischen Terrors verbanden sie mit der deutschen Wehrmacht die große Hoffnung, Russland zu vertreiben und am Ende des Krieges wieder unabhängig zu sein.
    Mejer Deitsch hat das Kriegsende im lettischen Kurland erlebt. Sein Jackett für die morgige Siegesfeier ist voll behängt mit dem roten Stern und anderen Orden, die dem Kriegsveteranen im Laufe der letzten 70 Jahre verliehen worden sind.
    Es war am 8. Mai, genau 13.45, erinnert sich der 92-Jährige, als ihn im Schützengraben die Kapitulation der deutschen Wehrmacht erreichte. Er sei zu seinem Stab gelaufen und konnte beobachten, wie die Deutschen über ihrem Maschinengewehr die weiße Fahne hissten:
    "Dann hat unser Oberst jedem Soldaten einen Krug Selbstgebrannten in die Hand gedrückt. Wir hatten nie an unserem Sieg gezweifelt, niemand konnte uns Russen bezwingen, wir haben doch für unsere Erde gekämpft. Trotzdem war es überwältigend. Am 9. Mai um 8 Uhr war für uns dann der Krieg vorbei."
    Mejer Deitsch schiebt voller Stolz seinen Hemdsärmel hoch und zeigt er die neue Uhr, die er soeben in Moskau erhalten hat. Denn Präsident Putin belohnt die Veteranen in allen ehemaligen Sowjetrepubliken nicht nur mit großzügigen Renten, eine Woche vor der großen Feier hat er sie auch mit kostenlosen Flügen nach Russland geholt.
    Angst vor einstigen Besatzern wird geschürt
    Tatsächlich werde der Mythos vom "Großen Vaterländischen Krieg" und der ruhmreichen Sowjetunion seit Jahren verstärkt von der russischen Propaganda umworben, sagt der Historiker Ainars Lehris. Er leitet das Zentrum für "Osteuropäische Politik Studien" und hat gestern zu einer Konferenz rund um das Thema 9. Mai eingeladen. Denn in Lettland ist jeder Dritte russischer Herkunft und die russische Propaganda findet so auch ihren Weg in die Mitte der Gesellschaft. Vor dem Hintergrund des russischen Vormarsches im Osten der Ukraine werde 24 Jahre nach Lettlands Unabhängigkeit bei den Letten sogar eine neue Angst vor den einstigen Besatzern geschürt, sagt Ainars Lehris.
    "Auf der einen Seite ist Lettland in der EU und NATO, wir haben eine schnelle Eingreiftruppe vor Ort, aber wir leben auch an der Grenze zu Russland. Und Moskau hat selbst verkündet, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken in den geopolitischen Raum zurückgeholt werden sollen. Lettland gehörte dazu wie die Ukraine. Wir schließen nicht aus, dass Russland die Baltischen Länder und Lettland angreifen kann."
    Am sowjetischen Siegerdenkmal in Riga hat der Endspurt begonnen. Schon morgen Früh werden tausende lettische Russen Spalier stehen, um die alten Kämpfer der Roten Armee zu ehren. Die Angst der Letten vor einem Einmarsch Moskaus können die Leute nicht verstehen. Russland sei ein verlässlicher Partner und wollen in Frieden mit Lettland leben.