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Letzter Großmeister der Grand Opéra

Jules Massenet behauptet eine stattliche Position im internationalen Opern-Repertoire - vornan mit Werken wie "Erodiade", "Manon", "Werther" und "Cendrillon". Er gilt als der bedeutendste Repräsentant französischer Musik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und des Fin-de-siècle.

Von Frieder Reininghaus |
    Mit Jules Massenet erreichte die großbürgerliche Musik ihren Zenit. Fortdauernd bringt sich der Name dieses Komponisten mit Opern wie Manon, Werther und Cendrillon in Erinnerung – weltweit.

    Auch mit so exotischen Titeln wie Théodora und Thaïs oder dem mittelaltertrunkenen Prunkstück Le Cid beziehungsweise der späten Sapho, mit der 1897 höchst aktuell

    "die Zunahme unverheirateter Paare im Paris des Fin de siècle thematisiert wurde."

    Hundert Jahre sollen erst vergangen sein seit Massenets Tod am 13. August 1912 in Paris? Tatsächlich ragen Leben und Werk des letzten Großmeisters der Grand opéra noch weit ins 20. Jahrhundert hinein. Massenet überlebte und überschritt sogar noch die magische Schwelle des kunstrevolutionären Jahres 1911. Im Grunde aber gehört er der Epoche zuvor an, den ersten Jahrzehnten der zweiten Republik.

    Er wurde 1842 bei Saint-Étienne als zwölftes Kind des Bergbauunternehmers Alexis Massenet geboren, der in zweiter Ehe die Pianistin Adélaïde Royer de Merancour geheiratet hatte. Von der Mutter erhielt Jules den ersten Klavierunterricht, trat aber bereits als Elfjähriger in die Klavierklasse des Pariser Conservatoire ein und gewann mit siebzehn den ersten Preis. Obwohl er es nicht nötig gehabt hätte, sorgte er ganz und gar für seinen Lebensunterhalt. Er sicherte sich durch Solfège- und Klavierunterricht sowie als Schlagzeuger in verschiedenen Orchestern die ökonomische Unabhängigkeit. Mit kleinen Varianten halten die Lexika fest:

    "Dieses rastlose Tätigsein hielt sein ganzes Leben hindurch an und war ein Charakterzug, den Freunde wie Feinde häufig hervorhoben."

    Nach nur eineinhalb Jahren Kompositionsunterricht gewann Jules Massenet den für die Karriere entscheidenden Rom-Preis, hielt sich dann als Stipendiat zwei Jahre in der italienischen Hauptstadt auf, wo er Freundschaft mit Franz Liszt schloss und sich mit der Pianistin Ninon de Gressy verband, die er später auch heiratete. 1865 zurück in Paris wurde er dort in die tonangebende Gesellschaft eingeführt. Der Weg zum großen Bühnenerfolg aber erwies sich zunächst als hindernisreich. Etliche Opern-Projekte scheiterten aus unterschiedlichen Gründen, zuletzt durch den Krieg und Bürgerkrieg von 1870/71.

    Massenet reüssierte zunächst mit Orchestersuiten und einem Oratorium über die Sünderin Marie-Magdeleine, dem die überragende Sängerin Pauline Viardot zum Erfolg verhalf.

    Zielstrebig setzte er die Bemühungen um einen dramatischen Personalstil fort. Und tatsächlich begründete die Uraufführung des exotisch gefärbten Le Roi de Lahore 1877 seine beherrschende Stellung auf den französischen Bühnen, die bis zum ersten Weltkrieg andauerte. Der Wiener Kritiker Eduard Hanslick bemerkte zutreffend, Massenet habe – wie schon vor ihm Gounod und Delibes – von Richard Wagner gelernt, was er brauchen konnte –

    "insbesondere für die Instrumentierung".

    Die drei prägenden Komponisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätten der Anlehnung an Harmonik und Formsprache Wagners

    "nicht ihre Individualität und nicht den Geist ihrer Nation geopfert".

    Was die erotisch-sexuellen Obsessionen betrifft, stellte Massenet die heidnisch-germanische Libertinage von Wagners Siegfried mit seiner 1881 in Brüssel uraufgeführten Erodiade in den Schatten:

    "Es geht in Erodiade um das Drama der ehebrecherischen Mutter und nicht um das der verführerischen Tochter", "

    resümierte die Theaterwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter.

    ""Salomé, auf der Suche nach ihrer Mutter, bindet sich in reiner Liebe an die trostverheißende Gestalt des Propheten Johannes; Herodias sieht in der Tochter die Rivalin, da Herodes sie begehrt. Damit ist der Vater-Tochter-Inzest als mögliches Skandalon in den bürgerlichen Rahmen der Familie zurückgenommen."

    Über den Menschen Massenet weiß die Nachwelt so gut wie nichts.