Freitag, 19. April 2024

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Lewis Carroll und junge Mädchen
Waren seine Nacktfotos nur unschuldige Kunstwerke?

Warum fotografierte Lewis Carroll, der Autor von "Alice im Wunderland", ab Mitte des 19. Jahrhunderts fast obsessiv Kinder? War sein Verhältnis zu kleinen Mädchen mehr als nur freundschaftliche Zuneigung? Zwei neue Bücher suchen nun eine Antwort: das eine wissenschaftlich – das andere als Krimi.

Von Stefan Koldehoff | 03.08.2020
Selbstporträt des Schriftstellers Lewis Carroll, um 1895
Lewis Carroll war nicht nur Autor, er gehörte auch zu den Pionieren der Amateur-Fotografie. Hier ein Selbstporträt. (imago-images/Collection Kharbine Tapabor)
Mehr als 3.000 Fotografien soll Lewis Carroll im Laufe von drei Jahrzehnten angefertigt haben, nur ungefähr 1.000 sind erhalten. Und ungefähr die Hälfte dieser Bilder zeigt junge Mädchen, nicht wenige davon nackt.
Diane Waggoner, Fotokuratorin an der National Gallery of Art in Washington, interpretiert in "Lewis Carroll's Photography and Modern Childhood" Carrolls Fotografien vor allem als zeitgeschichtliche Dokumente. Die "Entdeckung der Kindheit", wie der französische Historiker Philippe Ariès in seinem 1960 erschienenen, vieldiskutierten Buch formulierte, führte erst ab 1800 dazu, Kindern auch das Recht auf eine eigenständige Existenz und eigene Lebensformen zuzugestehen. Bis dahin waren sie vor allem als "kleine Erwachsene", als Teil der heiligen Einheit Familie nach religiösem Vorbild oder als billige Arbeitskräfte angesehen worden, die entsprechend ausgebeutet werden konnten.
Keine "kleinen Erwachsenen"
Das gilt auch für die bildlichen Darstellungen von Kindern, die häufig in Erwachsenenkleidung gezeichnet oder gemalt wurden. Erst das Aufkommen der Fotografie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erzeugte den Wunsch nach einer realistischeren Darstellung der soziologischen Rolle, die Kinder inzwischen in bürgerlichen Familien einnehmen durften.
Buchcover: Diane Waggoner: „Lewis Carroll’s Photography and Modern Childhood“
Buchcover: Diane Waggoner: „Lewis Carroll’s Photography and Modern Childhood“ (Princeton University Press)
In ihrem Band "Lewis Carroll’s Photography and Modern Childhood" ordnet Waggoner die Aufnahmen des Autors präzise in jene Zeit ein. Sie wertet Carrolls Kinderfotografien als Versuch, ähnlich wie in der viktorianischen Malerei Kindern ihren eigenen Lebensraum und ihre Identität zurück zu geben. Tatsächlich haben selbst die wenigen Aktaufnahmen in der Natur, die erhalten sind, nichts Pornografisches. Ob sie allerdings aus Sicht der fotografierten Kinder freiwillig entstanden sind, muss auch die Autorin offen lassen. Viel spricht auch nach Lektüre ihres umfassend bebilderten Bandes nicht dafür.
Geheimnisvoller Zettel
"L.C. erfährt von Mrs. Liddell, dass …", beginnt der erste Satz auf einem unscheinbaren Zettel, den im Krimi "Der Fall Alice im Wunderland" von Guillermo Martínez die junge Doktorandin Kristen Hill auf der Suche nach dem Geheimnis hinter Carrolls Kinderbildern findet. Wie er endet, wird erst ganz am Schluss der spannenden Geschichte bekannt, in dem es ebenfalls um Carrolls Verhältnis zu Kindern geht – besonders zu Alice Liddell, die ihn zu seinen Alice-Büchern inspirierte. Wie schon im ersten Band von Martínez' Oxford-Krimis steht im Mittelpunkt der Mathematikprofessor Arthur Seldom, der gleichzeitig Mitglied der "Lewis-Carroll-Bruderschaft" ist.
Buchcover: Guillermo Martínez: „Der Fall Alice im Wunderland“
Buchcover: Guillermo Martínez: „Der Fall Alice im Wunderland“ (Eichborn Verlag)
Das gefundene Dokument – das übrigens tatsächlich existiert – zeige, "wie schuldig oder unschuldig Carrolls Liebe zu kleinen Mädchen war", kündigt die junge Wissenschaftlerin an. Außerdem könne der Papierfetzen "so gut wie alle Theorien entkräften, die bisher über Carroll kursierten". Veröffentlichen wolle sie ihn allerdings, der wissenschaftlichen Meriten wegen, lieber selbst. Das würde allerdings möglicherweise die angesehenen Publikationen mancher Mitglieder der elitären Bruderschaft zu Makulatur werden lassen und ihren akademischen Ruf ruinieren. So verwundert es kaum, dass auf Hill ein Mordanschlag verübt wird – und sie nicht das einzige Opfer im Kreis derjenigen bleibt, die die Wahrheit über die Fotografien von Lewis Carroll herausfinden wollen.
Nicht bloß unschuldige Kunstwerke
Martínez spielt sehr amüsant und unterhaltsam mit Theorien von Wahrscheinlichkeit von Heisenberg bis Wittgenstein, mit Fragen der Logik – und mit den Eitelkeiten der wissenschaftlichen Welt. Vor allem aber ist ihm nach dem Bestseller "Die Pythagoras-Morde" von 2003 wieder ein spannender Whodunit-Krimi gelungen, dessen zahlreiche Wendungen zwar gelegentlich vorhersehbar sind, dessen Auflösung – bis hin zum vollständigen Text des Carroll-Fragmentes - trotzdem überrascht. Vor allem aber beantwortet Martínez die Frage, die Diane Waggoner in ihrer wissenschaftlichen Befassung mit den Kinderfotografien von Lewis Carroll gar nicht stellt: Natürlich müssen diese Aufnahmen heute auch im Zusammenhang mit Pädophilie diskutiert werden. Und natürlich waren sie schon bei ihrer Entstehung nicht nur unschuldige Kunstwerke.
Diane Waggoner: "Lewis Carroll's Photography and Modern Childhood"
Princeton University Press, Princeton. 280 Seiten, 65 Dollar.
Guillermo Martínez: "Der Fall Alice im Wunderland"
aus dem Spanischen von Angelica Ammar
Eichborn Verlag, Köln. 315 Seiten, 16 Euro.