Christoph Heinemann: "Romeo und Julia", "Tristan und Isolde", "Orpheus und Eurydike", die Menschen fasziniert offenbar das Drama von Liebenden, die nicht zueinander kommen dürfen oder getrennt werden, und die Weltliteratur spiegelt dieses Interesse. Jüngstes Beispiel: "Leyla und Medschnun", ein Theaterstück, das morgen im Frankfurter Kulturzentrum St. Peter in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel der Mainmetropole als Teil des offiziellen Programms der Frankfurter Buchmesse erstmals zu sehen sein wird. Passend zum Gastland der Messe, welches in diesem Jahr die Türkei ist, hat der Regisseur, Alexander Brill, den Text und die Bühnenfassung aus historischen persischen und türkischen Vorlagen zusammengesetzt. Die Geschichte ist rasch erzählt. Leyla und Kais lieben sich von klein auf, werden von ihren Eltern getrennt. Kais wird darüber wahnsinnig, ein Medschnun, ein Verrückter. Die produktive Seite dieses Wahnsinns ist seine Dichtung, mit der er dieser verhinderten Liebe ein literarisches Denkmal setzt. Text und Regie: Alexander Brill. Guten Morgen!
Alexander Brill: Guten Morgen.
Heinemann: Wo spielt Ihr Stück, in der Vergangenheit oder heutzutage?
Brill: Es spielt natürlich heute. Wir hatten kein Interesse daran, dem Mythos der Ästhetik zu folgen, wie er in Bollywood stattfindet oder wie dieses Stück in der Türkei gespielt werden würde, immer als eine Rückschau auf irgendein mythisch verklärtes Liebespaar, sondern wir siedeln das heute an. Eigentlich können Sie sagen, es ist eine Geschichte heute von jungen Menschen, einer Gang von jungen Menschen, die bestimmte Dinge miteinander erleben.
Heinemann: Und die tun was?
Brill: Na ja, sie lassen nicht zu, dass zwei junge Menschen, also ein Liebespaar, nämlich Leyla und Kais, wie er heißt, bevor er verrückt genannt wird, zusammenkommen, weil sie die Regeln des Anstandes verletzen. Sie verletzen die Regeln der Art und Weise, wie man Liebe zeigt, was man darf und was man nicht darf. Daraufhin werden sie getrennt und beide kommen mit dieser Trennung nicht zurecht. Aber die Frau wird eben, wie das eher der Rollenzuweisung entspricht, eingesperrt. Sie wird später zwangsverheiratet und trifft Kais am Ende ihres Lebens wieder, während er aus dem Dorf gejagt wird oder aus der Stadt gejagt wird, verbannt wird und dann seinen Schmerz öffentlich kundtun kann. Das heißt, die Frau muss schweigend damit umgehen und der Mann macht daraus Kunst und wird produktiv.
Heinemann: Sie sprachen von der Rollenzuweisung. Dahinter steht ja ein Wertesystem. In der islamischen Welt ist der "Romeo und Julia"-Stoff kein historisches Motiv. Sie haben es ja schon gesagt: Zwangsverheiratung und auch die Bevormundung junger Menschen bis hin zum verharmlosend so genannten Ehrenmord sind alltäglich. Wie stellen Sie diesen Skandal, diese Unterdrückung auf der Bühne dar?
Brill: Na ja, ich würde mich jetzt mal nicht ganz Ihrer Meinung anschließen, dass das so der Alltag in der muslimischen Welt ist. Ich kenne sehr viele Muslime, die völlig anders leben. Das sind Urteile, die auf bestimmte Teile sicher zutreffen, aber wenn Sie an Deutschland vor 50 Jahren oder vor 70 Jahren denken, dann war das hier alles auch gar nicht so wahnsinnig fremd.
Wir stellen es völlig realistisch dar. Wir zeigen allerdings auch immer, dass es Theater ist. Wir zeigen, wie die Vorgänge passieren. Die Leute steigen ein, sie steigen aus. Wir erzählen eine ganz einfache Geschichte, so wie ich sie Ihnen beschrieben habe.
Heinemann: Aber Theater interpretiert die Wirklichkeit. Das ist ja kein Dokumentarfilm. Was lernen die Besucher Ihrer Inszenierung?
Brill: Na ja, lernen? Ich begreife mich nicht als Lehrer. Das kann ich nicht sagen. Was wir zeigen wollen, sind mehrere Dinge. Einmal, wie gesellschaftliche Normen aufgestellt werden, mit welchen Sanktionen Menschen zu rechnen haben, wenn sie diese Forderungen nicht erfüllen, wie Menschen unterschiedlich geschlechtsmäßig damit umgehen. Und wir erzählen natürlich was über die Liebe, die großen Gefühle der Sehnsucht, das was man meistens nicht wahrnimmt, wenn man Menschen von außen so zusieht. Man kann ja nicht in ihr Inneres sehen. Ich glaube, diese unglaubliche Sehnsucht, die diese Leyla hat, diesen tiefen Schmerz über die Liebe, die sie nicht ausdrücken kann, die sie alleine mit sich austragen muss, könnte vielleicht dazu beitragen, dass man sagt, oh Gott, vielleicht müssen wir ein bisschen vorsichtiger sein, vielleicht stimmen diese Regeln alle gar nicht, vielleicht ist es ja so, dass Menschen zutiefst getroffen werden und verletzt werden. Ich glaube, was öfter der Fall ist, dass Männer ihre Gefühle zeigen können, wenn sie denn dazu in der Lage sind, aber sie haben das Recht dazu.
Heinemann: Was heißt genau "wir müssen vorsichtiger sein"? Wer muss vorsichtiger sein?
Brill: In diesem Fall die patriarchalische Gesellschaft, denn das, was sie dort sehen, ist ja nicht eine Frage, die sich auf die Muslime beschränkt. Sie finden das in Teilen Süditaliens ganz genauso. Sie finden das in Teilen Südspaniens so. Sie finden das in ganz großen Teilen der Welt. Ich meine, so wie wir leben, so wie wir denken, von der Aufklärung getragen, das ist Europa. Ein ganz großer Teil der Menschheit lebt in total anderen Verhältnissen. Wir vergessen das immer. Wir denken immer, alle sind so wie wir. Das ist ja nicht der Fall. Selbst in Amerika: wenn sie dort diese religiösen Bewegungen sehen, dann wird ihnen ja im Grunde genommen schlecht. Was unterscheidet die noch von radikalen Muslimen?
Heinemann: Umso dringender wäre es doch, diese Unterdrückung zu verurteilen, also doch ein Lehrstück daraus zu machen.
Brill: Nein, nicht zu verurteilen; indem wir es zeigen, glaube ich. Wenn ich mit dem Zeigefinger arbeite und sage, ihr müsst anders sein, dann bin ich der Lehrer und dann werden die Leute sofort sagen, ich habe keine Lust, mich bevormunden zu lassen. - Ich will, dass die Leute emotional angerührt werden, dass sie rausgehen und sie das Thema nicht los werden, weil es sie emotional packt, wissen Sie, also nicht den intellektuellen Vorgang, sondern den emotionalen.
Heinemann: Nun könnte man sagen, zwei Liebende finden nicht zueinander; das ist die traurige Seite. Medschnun erwächst andererseits daraus seine Begabung als Edelfeder. Das hat ja nun auch eine optimistische Seite.
Brill: Na ja, ich glaube, das ist die Seite der Kunst grundsätzlich. Woraus erwächst Kunst? - Ich glaube, gute Kunst erwächst immer aus Schmerz. Das können sie bei allen Menschen verfolgen: bei guten Literaten, bei Bildhauern, bei bildender Kunst, auch bei Schauspielern übrigens. Ich glaube, keiner, der nicht irgendeinen Schmerz spürt, wird Künstler werden können. Man muss sich an irgendetwas abarbeiten, was weh gut.
Heinemann: Herr Brill, Sie haben sich mit dem Wertesystem eines Teils der türkischen Gesellschaft oder der islamischen Gesellschaften oder der patriarchalischen Gesellschaften bereits in einer früheren Inszenierung beschäftigt: "Ehrensache", ein Stück über einen so genannten Ehrenmord, in dem die Beweggründe der Täter dargestellt werden. Sie werden mit dieser Inszenierung "Ehrensache" Ende November beim Theaterfestival in Istanbul gastieren. Befürchten Sie nicht, dass Sie Applaus auch von falscher Seite bekommen werden?
Brill: Das weiß ich nicht. Ich glaube es nicht. Nun kann man sich natürlich den Applaus nicht aussuchen. Ich glaube das nicht. Ich kenne Istanbul nicht, aber alles was ich darüber höre, es ist eine unglaublich weltoffene Stadt. Die Türkei ist kein homogenes Gebilde. Sie ist unwahrscheinlich unterschiedlich. Wir lernen das jetzt ja gerade im Rahmen der Buchmesse kennen. Nein, ich glaube, dieses Festival, was den Titel hat "Stop Violence against women", dort sind drei Produktionen aus Europa eingeladen, die sich mit dem Thema der Gewalt gegen Frauen auseinandersetzen. Und ich denke, dass dieses Festival schon im Vorfeld gut genug vorbereitet ist und dass die Leute schon sehr genau verstehen, was wir da machen.
Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Wir sprechen mit dem Theaterregisseur Alexander Brill in Frankfurt am Main. - Ihr Projekt oder Ihr Konzept "Theaterperipherie" zeichnet sich dadurch aus, dass die Schauspieler über Verbindungen in den jeweiligen Kulturraum des Theaterstoffs verfügen. Für "Leyla und Medschnun" arbeiten Sie mit einem Ensemble zusammen mit pakistanischen, afghanischen, türkischen, iranischen und marokkanischen Wurzeln. Was haben Sie von diesen Mitarbeitern gelernt?
Brill: Ja, das ist eine spannende Geschichte. Ich habe denen vor zwei Monaten die Textvorlage gegeben, die Rohfassung, und dann habe ich gesagt, und jetzt erzählt mir, wie sieht das alles bei euch aus. Und so haben wir eigentlich das Stück entwickelt. Sie haben mir ständig über sich erzählt, über ihre Familien, über die Traditionen, über die Art und Weise des Umgangs miteinander, über Gefühle, welche Gefühle man zeigen darf, welche man nicht zeigen darf, unter welchem Druck man in diesen Familienverbänden steht, auch in Freundschaftsverbänden, in Männerfreundschaften. Ich habe eine unglaubliche Aufklärung über diese Kultur bekommen und ich bin in einem sehr großen Zwiespalt, weil ich glaube, viele dieser Menschen, mit denen ich arbeite, geben mir zu erkennen, dass sie eigentlich mit dem Hintern auf zwei Stühlen sitzen, nämlich auf der einen Seite sind sie schon sehr westlich und möchten sich auch aus vielen Bindungen lösen, sie möchten selbstständig leben, sie möchten von zu Hause ausziehen, sie möchten bei ihrer Freundin übernachten können, aber sie können es nicht, weil die Familien es nicht zulassen oder weil sie glauben - vielleicht muss man es ja so sagen -, dass die Familien es nicht zulassen. Das schafft unglaubliche Spannungsverhältnisse in diesen Menschen. Das, glaube ich, macht sie oftmals für uns völlig unverständlich, weil sie wechseln können von einer Sekunde auf die andere. Sie denken aha, jetzt macht er sich frei, und am nächsten Tag sagt er nein, kann ich aber nicht machen, kann ich meiner Familie nicht zumuten. Ich habe begriffen, in welchem Spagat die leben und wie schwierig das ist, weil sie gehören wirklich keiner Seite mehr ganz an.
Heinemann: Das heißt, während der Arbeit an dem Stück spielte die unterschiedliche kulturelle Herkunft durchaus eine Rolle mit?
Brill: Ja, sehr. Wir haben auch noch jemanden aus dem Libanon dabei. Selbst der Junge aus Marokko ist total anders wieder als der aus dem Libanon und wieder als der aus der Türkei, und trotzdem gibt es etwas, was sie eint. Das ist das patriarchale System. Das eint sie alle und unter dem stehen sie einfach alle. So kann man es nennen. Das hat mit Glauben zum Beispiel eigentlich überhaupt nichts zu tun. Die glauben völlig unterschiedlich. Der eine ist eher ein strenger Muslim, der andere überhaupt nicht, und das hängt überhaupt nicht mit dem Glauben zusammen. Es ist einfach die Struktur der patriarchalischen Gesellschaft, in der sie stehen, und das macht ihnen das große Problem.
Heinemann: Herr Brill, ist das Theater ein Mittel zur Förderung der Integration, oder kann es das sein?
Brill: Zumindest hoffe ich das. Ich denke mal, auf der einen Seite ist es ein großes Integrationsangebot an junge Menschen mit Migrationshintergrund, dass sie - und das muss man sagen kommt noch mal dazu - in einer ehemaligen evangelischen Kirche, die jetzt Kulturzentrum ist, auftreten (das heißt, zwei Religionen befruchten sich da gegenseitig) und dass sie einen Stoff aus ihrer eigenen Heimat uns Deutschen erzählen. Das finde ich schon mal einen ganz gewaltigen Schritt. Wir beklagen ja normalerweise immer das, woran es mangelt oder wo sie uns schaden. Das wird ja immer dauernd beklagt. Es wird gar nicht beschrieben, welchen Reichtum die auch mit sich bringen.
Heinemann: Nämlich welchen?
Brill: Na ja, Kultur! Gucken Sie sich die türkische Kultur an oder gucken Sie sich die persische Kultur an. Da sind wir noch auf den Bäumen gehangen, da haben die schon längst kulturelle Höchstleistungen gemacht. Das sollte man alles nicht vergessen. Das würde ich mal als den einen integrativen Akt sehen und der anderen, glaube ich, ist es: Integration ist ja keine Einbahnstraße. Es kann ja nicht heißen, dass die sich sozusagen nur auf uns zubewegen müssen, sondern wir auch auf sie. Ich finde, wenn jetzt Deutsche dann sich dieses Stück angucken, diesen Stoff angucken, dass er vielleicht ein bisschen zu einem Verständnis beiträgt, dass sie erst mal bewundern und sagen, ist toll, was die machen, und froh sind, dass die Leute ihnen das vorspielen und zeigen. Das ist ja auch schon ein Näherkommen.
Heinemann: Wie erreicht man andererseits diejenigen, welche die Bevormundung der vielen Leylas, die es so gibt, gut heißen?
Brill: Schwer, schwer, schwer. Jede Kunst hat, glaube ich, das Problem, dass sie oftmals an die Leute, die es wirklich angeht, nicht herankommt. Wer nimmt schon an der Kultur teil? Das ist ein relativ geringer Teil der Gesellschaft. Das ist leider die Wahrheit.
Heinemann: Alexander Brill, Autor und Regisseur des Theaterstücks "Leyla und Medschnun", dessen Premiere im Rahmen der Buchmesse morgen Abend über die Bühne des Frankfurter Kulturzentrums St. Peter in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel gehen wird. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Brill: Bitte sehr.
Alexander Brill: Guten Morgen.
Heinemann: Wo spielt Ihr Stück, in der Vergangenheit oder heutzutage?
Brill: Es spielt natürlich heute. Wir hatten kein Interesse daran, dem Mythos der Ästhetik zu folgen, wie er in Bollywood stattfindet oder wie dieses Stück in der Türkei gespielt werden würde, immer als eine Rückschau auf irgendein mythisch verklärtes Liebespaar, sondern wir siedeln das heute an. Eigentlich können Sie sagen, es ist eine Geschichte heute von jungen Menschen, einer Gang von jungen Menschen, die bestimmte Dinge miteinander erleben.
Heinemann: Und die tun was?
Brill: Na ja, sie lassen nicht zu, dass zwei junge Menschen, also ein Liebespaar, nämlich Leyla und Kais, wie er heißt, bevor er verrückt genannt wird, zusammenkommen, weil sie die Regeln des Anstandes verletzen. Sie verletzen die Regeln der Art und Weise, wie man Liebe zeigt, was man darf und was man nicht darf. Daraufhin werden sie getrennt und beide kommen mit dieser Trennung nicht zurecht. Aber die Frau wird eben, wie das eher der Rollenzuweisung entspricht, eingesperrt. Sie wird später zwangsverheiratet und trifft Kais am Ende ihres Lebens wieder, während er aus dem Dorf gejagt wird oder aus der Stadt gejagt wird, verbannt wird und dann seinen Schmerz öffentlich kundtun kann. Das heißt, die Frau muss schweigend damit umgehen und der Mann macht daraus Kunst und wird produktiv.
Heinemann: Sie sprachen von der Rollenzuweisung. Dahinter steht ja ein Wertesystem. In der islamischen Welt ist der "Romeo und Julia"-Stoff kein historisches Motiv. Sie haben es ja schon gesagt: Zwangsverheiratung und auch die Bevormundung junger Menschen bis hin zum verharmlosend so genannten Ehrenmord sind alltäglich. Wie stellen Sie diesen Skandal, diese Unterdrückung auf der Bühne dar?
Brill: Na ja, ich würde mich jetzt mal nicht ganz Ihrer Meinung anschließen, dass das so der Alltag in der muslimischen Welt ist. Ich kenne sehr viele Muslime, die völlig anders leben. Das sind Urteile, die auf bestimmte Teile sicher zutreffen, aber wenn Sie an Deutschland vor 50 Jahren oder vor 70 Jahren denken, dann war das hier alles auch gar nicht so wahnsinnig fremd.
Wir stellen es völlig realistisch dar. Wir zeigen allerdings auch immer, dass es Theater ist. Wir zeigen, wie die Vorgänge passieren. Die Leute steigen ein, sie steigen aus. Wir erzählen eine ganz einfache Geschichte, so wie ich sie Ihnen beschrieben habe.
Heinemann: Aber Theater interpretiert die Wirklichkeit. Das ist ja kein Dokumentarfilm. Was lernen die Besucher Ihrer Inszenierung?
Brill: Na ja, lernen? Ich begreife mich nicht als Lehrer. Das kann ich nicht sagen. Was wir zeigen wollen, sind mehrere Dinge. Einmal, wie gesellschaftliche Normen aufgestellt werden, mit welchen Sanktionen Menschen zu rechnen haben, wenn sie diese Forderungen nicht erfüllen, wie Menschen unterschiedlich geschlechtsmäßig damit umgehen. Und wir erzählen natürlich was über die Liebe, die großen Gefühle der Sehnsucht, das was man meistens nicht wahrnimmt, wenn man Menschen von außen so zusieht. Man kann ja nicht in ihr Inneres sehen. Ich glaube, diese unglaubliche Sehnsucht, die diese Leyla hat, diesen tiefen Schmerz über die Liebe, die sie nicht ausdrücken kann, die sie alleine mit sich austragen muss, könnte vielleicht dazu beitragen, dass man sagt, oh Gott, vielleicht müssen wir ein bisschen vorsichtiger sein, vielleicht stimmen diese Regeln alle gar nicht, vielleicht ist es ja so, dass Menschen zutiefst getroffen werden und verletzt werden. Ich glaube, was öfter der Fall ist, dass Männer ihre Gefühle zeigen können, wenn sie denn dazu in der Lage sind, aber sie haben das Recht dazu.
Heinemann: Was heißt genau "wir müssen vorsichtiger sein"? Wer muss vorsichtiger sein?
Brill: In diesem Fall die patriarchalische Gesellschaft, denn das, was sie dort sehen, ist ja nicht eine Frage, die sich auf die Muslime beschränkt. Sie finden das in Teilen Süditaliens ganz genauso. Sie finden das in Teilen Südspaniens so. Sie finden das in ganz großen Teilen der Welt. Ich meine, so wie wir leben, so wie wir denken, von der Aufklärung getragen, das ist Europa. Ein ganz großer Teil der Menschheit lebt in total anderen Verhältnissen. Wir vergessen das immer. Wir denken immer, alle sind so wie wir. Das ist ja nicht der Fall. Selbst in Amerika: wenn sie dort diese religiösen Bewegungen sehen, dann wird ihnen ja im Grunde genommen schlecht. Was unterscheidet die noch von radikalen Muslimen?
Heinemann: Umso dringender wäre es doch, diese Unterdrückung zu verurteilen, also doch ein Lehrstück daraus zu machen.
Brill: Nein, nicht zu verurteilen; indem wir es zeigen, glaube ich. Wenn ich mit dem Zeigefinger arbeite und sage, ihr müsst anders sein, dann bin ich der Lehrer und dann werden die Leute sofort sagen, ich habe keine Lust, mich bevormunden zu lassen. - Ich will, dass die Leute emotional angerührt werden, dass sie rausgehen und sie das Thema nicht los werden, weil es sie emotional packt, wissen Sie, also nicht den intellektuellen Vorgang, sondern den emotionalen.
Heinemann: Nun könnte man sagen, zwei Liebende finden nicht zueinander; das ist die traurige Seite. Medschnun erwächst andererseits daraus seine Begabung als Edelfeder. Das hat ja nun auch eine optimistische Seite.
Brill: Na ja, ich glaube, das ist die Seite der Kunst grundsätzlich. Woraus erwächst Kunst? - Ich glaube, gute Kunst erwächst immer aus Schmerz. Das können sie bei allen Menschen verfolgen: bei guten Literaten, bei Bildhauern, bei bildender Kunst, auch bei Schauspielern übrigens. Ich glaube, keiner, der nicht irgendeinen Schmerz spürt, wird Künstler werden können. Man muss sich an irgendetwas abarbeiten, was weh gut.
Heinemann: Herr Brill, Sie haben sich mit dem Wertesystem eines Teils der türkischen Gesellschaft oder der islamischen Gesellschaften oder der patriarchalischen Gesellschaften bereits in einer früheren Inszenierung beschäftigt: "Ehrensache", ein Stück über einen so genannten Ehrenmord, in dem die Beweggründe der Täter dargestellt werden. Sie werden mit dieser Inszenierung "Ehrensache" Ende November beim Theaterfestival in Istanbul gastieren. Befürchten Sie nicht, dass Sie Applaus auch von falscher Seite bekommen werden?
Brill: Das weiß ich nicht. Ich glaube es nicht. Nun kann man sich natürlich den Applaus nicht aussuchen. Ich glaube das nicht. Ich kenne Istanbul nicht, aber alles was ich darüber höre, es ist eine unglaublich weltoffene Stadt. Die Türkei ist kein homogenes Gebilde. Sie ist unwahrscheinlich unterschiedlich. Wir lernen das jetzt ja gerade im Rahmen der Buchmesse kennen. Nein, ich glaube, dieses Festival, was den Titel hat "Stop Violence against women", dort sind drei Produktionen aus Europa eingeladen, die sich mit dem Thema der Gewalt gegen Frauen auseinandersetzen. Und ich denke, dass dieses Festival schon im Vorfeld gut genug vorbereitet ist und dass die Leute schon sehr genau verstehen, was wir da machen.
Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Wir sprechen mit dem Theaterregisseur Alexander Brill in Frankfurt am Main. - Ihr Projekt oder Ihr Konzept "Theaterperipherie" zeichnet sich dadurch aus, dass die Schauspieler über Verbindungen in den jeweiligen Kulturraum des Theaterstoffs verfügen. Für "Leyla und Medschnun" arbeiten Sie mit einem Ensemble zusammen mit pakistanischen, afghanischen, türkischen, iranischen und marokkanischen Wurzeln. Was haben Sie von diesen Mitarbeitern gelernt?
Brill: Ja, das ist eine spannende Geschichte. Ich habe denen vor zwei Monaten die Textvorlage gegeben, die Rohfassung, und dann habe ich gesagt, und jetzt erzählt mir, wie sieht das alles bei euch aus. Und so haben wir eigentlich das Stück entwickelt. Sie haben mir ständig über sich erzählt, über ihre Familien, über die Traditionen, über die Art und Weise des Umgangs miteinander, über Gefühle, welche Gefühle man zeigen darf, welche man nicht zeigen darf, unter welchem Druck man in diesen Familienverbänden steht, auch in Freundschaftsverbänden, in Männerfreundschaften. Ich habe eine unglaubliche Aufklärung über diese Kultur bekommen und ich bin in einem sehr großen Zwiespalt, weil ich glaube, viele dieser Menschen, mit denen ich arbeite, geben mir zu erkennen, dass sie eigentlich mit dem Hintern auf zwei Stühlen sitzen, nämlich auf der einen Seite sind sie schon sehr westlich und möchten sich auch aus vielen Bindungen lösen, sie möchten selbstständig leben, sie möchten von zu Hause ausziehen, sie möchten bei ihrer Freundin übernachten können, aber sie können es nicht, weil die Familien es nicht zulassen oder weil sie glauben - vielleicht muss man es ja so sagen -, dass die Familien es nicht zulassen. Das schafft unglaubliche Spannungsverhältnisse in diesen Menschen. Das, glaube ich, macht sie oftmals für uns völlig unverständlich, weil sie wechseln können von einer Sekunde auf die andere. Sie denken aha, jetzt macht er sich frei, und am nächsten Tag sagt er nein, kann ich aber nicht machen, kann ich meiner Familie nicht zumuten. Ich habe begriffen, in welchem Spagat die leben und wie schwierig das ist, weil sie gehören wirklich keiner Seite mehr ganz an.
Heinemann: Das heißt, während der Arbeit an dem Stück spielte die unterschiedliche kulturelle Herkunft durchaus eine Rolle mit?
Brill: Ja, sehr. Wir haben auch noch jemanden aus dem Libanon dabei. Selbst der Junge aus Marokko ist total anders wieder als der aus dem Libanon und wieder als der aus der Türkei, und trotzdem gibt es etwas, was sie eint. Das ist das patriarchale System. Das eint sie alle und unter dem stehen sie einfach alle. So kann man es nennen. Das hat mit Glauben zum Beispiel eigentlich überhaupt nichts zu tun. Die glauben völlig unterschiedlich. Der eine ist eher ein strenger Muslim, der andere überhaupt nicht, und das hängt überhaupt nicht mit dem Glauben zusammen. Es ist einfach die Struktur der patriarchalischen Gesellschaft, in der sie stehen, und das macht ihnen das große Problem.
Heinemann: Herr Brill, ist das Theater ein Mittel zur Förderung der Integration, oder kann es das sein?
Brill: Zumindest hoffe ich das. Ich denke mal, auf der einen Seite ist es ein großes Integrationsangebot an junge Menschen mit Migrationshintergrund, dass sie - und das muss man sagen kommt noch mal dazu - in einer ehemaligen evangelischen Kirche, die jetzt Kulturzentrum ist, auftreten (das heißt, zwei Religionen befruchten sich da gegenseitig) und dass sie einen Stoff aus ihrer eigenen Heimat uns Deutschen erzählen. Das finde ich schon mal einen ganz gewaltigen Schritt. Wir beklagen ja normalerweise immer das, woran es mangelt oder wo sie uns schaden. Das wird ja immer dauernd beklagt. Es wird gar nicht beschrieben, welchen Reichtum die auch mit sich bringen.
Heinemann: Nämlich welchen?
Brill: Na ja, Kultur! Gucken Sie sich die türkische Kultur an oder gucken Sie sich die persische Kultur an. Da sind wir noch auf den Bäumen gehangen, da haben die schon längst kulturelle Höchstleistungen gemacht. Das sollte man alles nicht vergessen. Das würde ich mal als den einen integrativen Akt sehen und der anderen, glaube ich, ist es: Integration ist ja keine Einbahnstraße. Es kann ja nicht heißen, dass die sich sozusagen nur auf uns zubewegen müssen, sondern wir auch auf sie. Ich finde, wenn jetzt Deutsche dann sich dieses Stück angucken, diesen Stoff angucken, dass er vielleicht ein bisschen zu einem Verständnis beiträgt, dass sie erst mal bewundern und sagen, ist toll, was die machen, und froh sind, dass die Leute ihnen das vorspielen und zeigen. Das ist ja auch schon ein Näherkommen.
Heinemann: Wie erreicht man andererseits diejenigen, welche die Bevormundung der vielen Leylas, die es so gibt, gut heißen?
Brill: Schwer, schwer, schwer. Jede Kunst hat, glaube ich, das Problem, dass sie oftmals an die Leute, die es wirklich angeht, nicht herankommt. Wer nimmt schon an der Kultur teil? Das ist ein relativ geringer Teil der Gesellschaft. Das ist leider die Wahrheit.
Heinemann: Alexander Brill, Autor und Regisseur des Theaterstücks "Leyla und Medschnun", dessen Premiere im Rahmen der Buchmesse morgen Abend über die Bühne des Frankfurter Kulturzentrums St. Peter in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel gehen wird. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Brill: Bitte sehr.