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Liao Yiwus erster Roman
Eindringlich und bildgewaltig

"Die Wiedergeburt der Ameisen" – so heißt der erste Roman des chinesischen Dissidenten-Dichters Liao Yiwu, der seit 2011 in Berlin lebt und 2012 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde. Sein über 500 Seiten starkes Werk wurde 1992 im Gefängnis begonnen und erst jetzt im Exil vollendet.

Von Oliver Pfohlmann |
    Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2012, steht in Berlin im Deutschen Theater nach einer Lesung im Foyer.
    Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu wurde 2012 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. (picture alliance / dpa)
    "Das Vergangene ist nicht tot", schrieb William Faulkner einmal, "es ist nicht einmal vergangen." Diese Einsicht dürfte umso mehr gelten, je stärker man versucht, die Erinnerung an unliebsame Ereignisse zu unterdrücken. Wie in China, wo jede Debatte über die Niederschlagung der Protestbewegung von 89 verboten ist. Dabei wurde damals von den kommunistischen Machthabern ganz Peking "in ein blutiges Militärcamp" verwandelt, wie es in Liao Yiwus Roman "Die Wiedergeburt der Ameisen" heißt.
    So eindringlich und bildgewaltig wie kein Zweites erzählt dieses große Werk davon, warum das Gestern in China gegenwärtig bleiben muss, trotz aller "Umerziehungslager" oder Internet-Zensur. Bezeichnend der Wunsch, den der Autor seinem Protagonisten und Alter Ego Lao Wei in den Mund legt: einmal auf dem einst von hoffnungsfrohen Studenten besetzten Tiananmen-Platz Flöte zu spielen:
    "Im Winter um Mitternacht, Schneetreiben, er hält die lange Flöte und spielt. Dicht an dicht sprießen Menschen aus dem Grund hervor, all die Toten und die eingeschlafenen Lebenden, die einmal diesen Platz bevölkert haben, sprießen wie wilde Gräser aus den Ritzen der krachend aufspringenden Ziegelsteine. Ist das das Ende aller Imperien der Menschheit? Er spielt."
    Von Entrechteten und Geächteten der chinesischen Gesellschaft
    Auch der Autor Liao Yiwu beschwört mit seinem Flötenspiel die Toten. Jedoch nicht auf dem "Platz des himmlischen Friedens", sondern auf Lesungen in seiner Wahlheimat Deutschland. Hierzulande erhielt der berühmte Dissident 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, in China darf seit seiner Flucht im Jahr zuvor nicht einmal mehr sein Name genannt werden. Was zu dem Kuriosum führt, dass es sich bei der deutschen Übersetzung seines ersten Romans zugleich um die Welterstausgabe handelt. Bekannt war Liao Yiwu bislang vor allem für seine Gespräche mit jenen, die in seiner Heimat bei dem angeordneten Sturmlauf in die Moderne auf der Strecke bleiben, den Entrechteten und Geächteten der chinesischen Gesellschaft. Und natürlich für sein visionäres Gedicht "Massaker" von 1989, für das Yiwu vier Jahre lang inhaftiert war. Doch zeigte schon der Gefängnisbericht "Für ein Lied und hundert Lieder" aus dem Jahr 2011 Yiwus Qualitäten als Erzähler und Prosaist.
    Von den Jahren im Gefängnis handelt unter anderem auch sein Romandebüt. Das sogar in der Zelle begonnen wurde, während Yiwus Haftzeit ab 1992. Im Vorwort seines Romans berichtet der heute 58-Jährige, wie er damals Tag für Tag auf brüchigem Papier heimlich seine "ameisengleichen Schriftzeichen" kritzelte. Und sich so einen Raum der inneren Freiheit imaginierte, der ihm trotz der ständigen Misshandlungen das psychische Überleben ermöglichte.
    "Eines hatte er mit der Zeit begriffen: Freiheit war ein Raum, den man aus sich selbst heraus schaffen muss. Alles andere war nur ein Echo im Wind der inneren Freiheit."
    Literarische Biografie
    Ein Mithäftling schmuggelte das Manuskript aus dem Gefängnis; vollendet wurde es jedoch erst jetzt, ein Vierteljahrhundert später, im Berliner Exil. Was rasch ins Auge springt: die Parallelen zwischen Yiwus eigener Lebensgeschichte und der seines Protagonisten. Das betrifft die familiären Verhältnisse ebenso wie Lao Weis Verurteilung als "Konterrevolutionär" wegen eines Gedichts. Oder die im Roman auftretenden chinesischen Intellektuellen, darunter Freunde des Autors wie den – noch immer inhaftierten – Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Die Übersetzerin Karin Betz bezeichnet "Die Wiedergeburt der Ameisen" daher sogar als "literarische Autobiografie".
    "Im unvermittelten Dunkel spürte Lao Wei den unterirdischen Fluss der Zeit aufsteigen. Wie ein Schwarm Fische trieben die Toten der Vergangenheit unter seinen Achselhöhlen durch. Seine ältere Schwester, der Großvater und seine Erzfeindin, die dritte Tante, Tschiang Kai-scheck, Mao Zedong, Deng Xiaoping und die zahllosen unsteten Geister der von Tschiang, Mao und Deng Ermordeten."
    Doch wäre es ein Missverständnis, dieses handlungssatte Werk auf ein solches Etikett zu reduzieren. Zu beeindruckend ist dazu die Erzählkunst dieses Autors, der von expressiver Drastik bis düsterem Sarkasmus alle Stilregister zieht. Und zu überwältigend seine überbordende Einbildungskraft – die immer neuen Ausflüge ins Fantastische, Burleske, ja sogar Pikareske, mit Szenen voller Humor und Komik: darunter Begegnungen mit "echten" Hexen und Wunderheilern, Träume und Visionen des Helden – oder ein lokaler Bauernaufstand, bei dem Lao Weis Vater gegen seinen Willen zum "Kaiser" in einem neuen "Reich des großen Wohlstands" gekürt wird. Natürlich dauert es nicht lange, bis die Staatsmacht die "Konterrevolution" mit aller Härte niederschlägt.
    Über die Opfer der Machthaber in Peking
    Wovon dieser eindrucksvolle Erinnerungsroman berichtet, das sind die fortwährenden Kollisionen des traditionellen Chinas mit der von der Partei herbeigepeitschten Moderne. Der daoistische Trauerzug für Lao Weis "vierten Onkel" beispielsweise, bei der die ganze Nachbarschaft mit Trillerpfeifen auf den Beinen ist, um die Ahnen zu beschwichtigen, wird von der Polizei rasch mit Schlagstöcken auseinandergetrieben. Dagegen bietet das staatliche "Volksmausoleum" gegen entsprechende Zahlung eine religiöse Rundumversorgung an, die, wie es heißt, "die Wiedergeburt auf das Schönste" beflügeln soll:
    "Was kostet Rundumservice?"
    "40.000 Yuan. Bei Zahlung in Dollar berechnen wir den tagesaktuellen Wechselkurs."
    "Sterben muss man sich leisten können."
    "Wenn Sie häufiger kommen, bekommen Sie einen Stammkundenrabatt von 20 bis 30 Prozent."
    Die böse Pointe dabei: Bestattet werden soll hier eine Frau, die wegen eines Bauvorhabens erst ihre Wohnung verlor und sich dann aus Protest selbst verbrannte. Die vom Romantitel verkündete "Wiedergeburt der Ameisen": Das sind nicht nur die ameisengleichen Schriftzeichen auf Gefängnispapier – es sind auch die Millionen und Abermillionen Opfer der Machthaber in Peking.
    Liao Yiwu: Die Wiedergeburt der Ameisen. Roman. Frankfurt am Main, S. Fischer, 2016. 576 Seiten, 28 Euro.