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Libellen, Hummeldumm und Nemesis

Zeit für den literarischen Menschenversuch. Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Von Denis Scheck |
    Das ist natürlich mühevolle Kleinarbeit, aber wenn man kein Familienvater ist und sich um kein Abgeordnetenmandat kümmern muss, kann man das eigentlich ganz gut bewältigen. Für die weniger Glücklichen gilt:

    "You will know my name is the Lord when I lay my vengeance upon thee.”"

    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch:

    Heute mit jeder Menge Parallelgesellschaften und Alternativwelten, dem meistverkauften Roman des vergangenen Jahres, einem Schweizer Taugenichts, einem amerikanischen Hiob und einem flasch einsortierten Österreicher im Exil der Demenz.

    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen 4 Kilo und 759 Gramm auf die Waage: zusammen 3231 Seiten.

    10) Martin Suter: "Allmen und die Libellen" (Diogenes Verlag, 194 Seiten, 18,90 Euro)

    Martin Suters neuer Krimiheld ist ein Schweizer Self-made-Man ganz eigener Art: von Allmen heißt er, seine Vornamen Hans und Fritz hat von Allmen zu den pompöseren Johann und Friederich aufgebrezelt, zu Erwerbsarbeit hat er nie getaugt, und weil Johann Friedrich von Allmen trotz seiner recht jungen Jahren sein beträchtliches väterliches Erbe längst verjubelt hat, lebt er nun von nichts als seinem guten Geschmack und seinem guatemaltekischen Diener Carlos im Gartenhaus seiner früheren Villa in Zürich. "Allmen und die Libellen" ist der Auftakt zu einer Serienkrimireihe: definitiv retro, mehr Heinz Rühmann als Georges Simenon, aber routiniert und unterhaltsam geschrieben.

    9) Tommy Jaud: "Hummeldumm" (Scherz Verlag, 320 Seiten, 13,95 Euro)

    Der größte Witz dieses angeblich komischen Romans über eine deutsche Urlaubergruppe in Afrika und den erschwerten Erwerb einer Eigentumswohnung in Köln ist, dass "Hummeldumm" der meistverkaufte deutsche Roman des Jahres 2010 ist.

    8) Philip Roth: "Nemesis" (Deutsch von Dirk van Gunsteren, Hanser Verlag, 224 Seiten, 18,90 Euro)

    Alles auf dieser Bestsellerliste ist eitel Schall und Rauch im Vergleich zum neuen Roman Philip Roths. Die Handlung setzt ein im Sommer 1944: In Europa und Asien tobt der Zweite Weltkrieg, im amerikanischen Newark eine Polioepidemie. Roths Held ist ein junger Sportlehrer, ein moderner Hiob, der sich in diesem raffiniert erzählten Roman fragt, wie Gott es zulassen kann, dass kleine Kinder sterben, dass unser Leben von sinnlosen Krankheiten, Verlusten und Qualen bestimmt ist, dass Unschuldige leiden und wir schuldlos Leid zufügen. "Nemesis" ist ein tröstendes Buch in einer trostlosen Welt - Weltliteratur.

    7) Jussi Adler-Olsen: "Schändung" " (Deutsch von Hannes Thies, dtv, 460 Seiten, 14,90Euro)

    Das Musterbeispiel eines Serienkrimis, der sich unversehens in einen von Sozialneid geprägten Serien-Gewaltporno verwandelt. Die an sich schöne Idee eines Sonderdezernats der Kopenhagener Kriminalpolizei, in dem missliebige Polizisten bis zur Rente Akten wälzen, wird durch die plumpen Ressentiments des Autors gegen "die Reichen" und ihre perversen Spiele verdorben. So stellt sich der kleine Jussi die grosse Welt vor.

    6) Ally Condy: "Die Auswahl" (Deutsch von Stefanie Schäfer, FJB Verlag, 452 Seiten, 16,95 Euro)

    Ein Gutes hat die Schwemme idiotischer Vampirromane: in ihrem Gefolge boomt im Jugendbuch nun auch die an alternativen Gesellschaftsmodellen interessierte Science Fiction. Die Auswahl des Lebenspartners, wie wir lieben und wann wir sterben: all das diskutiert dieses Jugendbuch über eine 17jährige, die Zweifel an dem von der allmächtigen "Gesellschaft" für sie ausgewählten Partner hat. Jedem Bewohner der Bundesrepublik, dem gelegentlich Zweifel an dem von der Gesellschaft für ihn ausgewählten Steuersatz überkommen, kann ich dieses Buch zur Lektüre nur empfehlen.

    5) Dora Held "Kein Wort zu Papa" (Dtv, 384 Seite, 12,90 Euro)

    Wenn Norderney auch nur halb so langweilig wäre wie dieser Roman über zwei Schwestern, die vertretungsweise zwei Wochen eine Urlaubspension auf der Insel zu führen versuchen, Norderney gehörte längst den Möwen, Krabben und Wattwürmern.

    4) Horst Evers: "Für Eile fehlt mir die Zeit" (Rowohlt Berlin, 224 Seite, 14,95 Euro)

    Das beste, was ich über die gesammelten Texte des Komikers Horst Evers sagen kann, ist, dass sie ein ganz ordentliches Wartezimmer-Buch abgeben. Man kann es lesen, wenn man nichts Richtiges zu lesen hat. Das komischste an diesen Texten war für mich allerdings, wie es der Autor durch Melken, Dehnen, Strecken oder Verwässern immer wieder schafft, mit recht dünnen Einfällen und Pointen irgendwie über die Runden zu kommen.

    3) Suzanne Collins: "Die Tribute von Panem: Flammender Zorn" (Deutsch von Sylke Hachmeister und Pteer Klöss, Oettinger Verlag, 430 Seiten, 18,95 Euro)

    Noch ein spannender Science-Fiction-Roman, der nach der Apokalypse unserer westlichen Warenwelt spielt: Suzanne Collins erzählt in ihrer furiosen Trilogie von einer Zukunft, die statt vom Kapital vom "Capitol" beherrscht wird. Diese Regierungsclique veranstaltet ein modernes Gladiatorenspiel, eine Art Grand-Prix mit verschärften Bedingungen: 24 Jugendliche treten bei den Hungerspielen gegeneinander an, gekämpft wird bis zum Tod. Im dritten Band befreit sich Collins von den müden Konventionen des Jugendbuchs und mutet ihren Lesern ein wirklich überraschendes Ende zu.

    2) Arno Geiger: "Der alte König in seinem Exil" (Hanser Verlag, 192 Seiten, 17,90 Euro)

    Arno Geiger hat ein sehr schönes, ganz und gar unsentimentales Buch über die Demenzerkrankung seines Vaters geschrieben. Auf der Belletristikliste hat dieses Werk dennoch nichts verloren: es ist ein Sachbuch, ein erzählerisches Glanzstück, gewiss, aber eben non-fiction. Auch ein Telefonbuch aus der Feder eines Dichters bleibt ein Telefonbuch. Diese falsche Einsortierung ändert freilich nichts am Rang dieses Werks: "Der alte König in seinem Exil" ist ein grandios gelungenes Buch.

    Platz 1 der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Belletristik:

    P. C. und Kristin Cast: "Gejagt" (Deutsch von Christine Blum, FJB, 575 Seiten, 16,95 Euro)

    Ein Roman wie aus der Feder des deutschen Verteidigungsministers: zusammengeklaut aus Versatzstücken von Rowlings Harry Potter-Internat und Stephenie Meyers romantischen Vampirromen, erzählt das Mutter-Tochter-Autorenduo Cast vom Leben in einem Vampyrinternat namens House of Night. Kalona, ein gefallener Engel, bringt in der bereits fünften House-of-Night-Schmonzette die sadomasochistische Saite der Heldin Zoey zum Klingen. In ihren Träumen flüstert Kalona Zoey ein:

    ""Du magst den Schmerz. Du empfindest Lust dabei."

    Ich habe mir das als Trostformel auf den 575 Seiten dieses Buches öfters aufgesagt. Sagen wir so: die Lust ließ rasch nach, der Schmerz hält noch an.