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Libertärer Antisemitismus
Hygienedemos verbreiten Mythos einer Neuen Weltordnung

Unter die Proteste gegen die Corona-Beschränkungen mischen sich zunehmend auch Demonstranten mit Thesen, die mit antisemitischen Motiven durchsetzt sind. Sie heften sich gelbe Sterne mit der Aufschrift "nicht geimpft" an die Brust. Solche Aktionen sind nicht strafbar - gefährlich sind sie dennoch.

Von Ina Rottscheidt |
16.05.2020, Frankfurt, Demonstration in der Frankfurter Innenstadt. Ungeimpft steht auf dem Aufkleber am Arm eines Mannes, der versucht hat, sich unter die Teilnehmer einer Demonstration zu mischen, die die Verschwörungstheorien über das Corona Virus ablehnt
Demonstration in der Frankfurter Innenstadt: Ungeimpft steht auf dem Aufkleber am Arm eines Mannes (imago-images / Hannelore Förster)
Was bedeutet der Begriff "Neue Weltordnung"?
Welche Rolle spielen antisemistische Motive bei den Protesten?
Wie reagieren die Sozialen Medien?
Wie sind die Verschwörungen historisch einzuordnen?
Was steckt hinter dem "libertärem Antisemitismus"?
Wie ist die Rechtslage?
Was bedeutet der Begriff "Neue Weltordnung"?
An jedem Wochenende demonstrieren in Deutschland Tausende gegen die staatlichen Corona-Beschränkungen. Darunter viele, die drei Buchstauben raunen oder rufen: NWO - "Neue Weltordnung". Die "New World Order" (NWO) ist kein neues Phänomen. Es umschreibt das angebliche Ziel von Eliten und Geheimgesellschaften, eine autoritäre, supranationale Weltregierung zu errichten. Solche Theorien wurden zu Beginn der 1990er-Jahre in den Vereinigten Staaten populär. Verbreitet werden sie vor allem von christlich-fundamentalistischen, rechtsextremen und esoterischen Autoren.
Demonstration gegen die Corona-Beschränkungen auf dem Canstatter Wasen in Stuttgart
Corona-Demonstrationen: Positionen und Protagonisten
Sie protestieren gegen die Beschränkungen durch den Corona-Lockdown – in manchen Städten sind es nur hundert, in anderen Tausende, die ihrem Frust und Ärger Luft machen. Die Politik ist alarmiert. Wer steckt hinter den Protesten?
Welche Rolle spielen antisemistische Motive bei den Protesten?
Unter die Proteste gegen die staatlichen Corona-Beschränkungen mischen sich zunehmend auch Impfgegner, Wutbürger, Extremisten und Verschwörungsgläubige. Und die meisten ihrer Thesen sind von antisemitischen Motiven durchsetzt. Zum Demo-Ritual gehört für Anhänger solcher Mythen, die Bundesrepublik mit dem NS-Regime gleichzusetzen. Da heften sich Demonstranten gelbe Sterne mit der Aufschrift "nicht geimpft" oder "Covid 19" an die Brust. Auf Plakaten werden Impfstoffe als "Endlösung der Coronafrage" bezeichnet.
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) hat zahlreiche solcher Fälle dokumentiert. Die Relativierung der Shoah sei eine Form des Antisemitismus, erklärt Nikolai Schreiter vom Landesverband Bayern: "Wenn man jetzt auf so einer Corona-Kundgebung, was wir oft beobachtet haben, einen gelben Stern trägt, stellt man sich selbst in die Tradition der Opfer des Nationalsozialismus: Man ist genauso Opfer wie damals die Juden und das ist natürlich relativierend."
Allein in Bayern kam es bei der Hälfte aller Demonstrationen zu solchen Vorfällen. Nikolai Schreiter: "Was unglaublich oft zu sehen ist, ist die Warnung vor einer angeblichen 'Neuen Weltordnung', da steht dann 'Stopp NWO' auf T-Shirts und Transparenten, das heißt, das äußert sich nicht in der Rede von der 'jüdischen Weltverschwörung' explizit, sondern es werden dann 'Globalisten' verantwortlich gemacht oder "die Ostküste", ist eine weitere solche Chiffre, die in Richtung dieser 'jüdischen Weltverschwörung' geht."
Demonstration gegen Corona-Regeln in Bayern
"Grundproblem ist ein zerrüttetes Vertrauensverhältnis"
Die Corona-Beschränkungen seien nur ein Anlass für die Anti-Corona-Proteste in Deutschland, sagte der Politikwissenschaftler Tom Mannewitz im Dlf. Sie zeigten vielmehr ein Vertrauensproblem zwischen Teilen der Gesellschaft und der Politik.
Wie reagieren die Sozialen Medien?
Auch das Internet ist voll von solchen Erzählungen, Inhalte werden vor allem über Facebook und den Messenger-Dienst Telegram verbreitet. Neben Microsoft-Gründer Bill Gates ist da auch der Milliardär George Soros zum globalen Feindbild der Szene geworden. Stets wird in diesem Zusammenhang erwähnt, dass Soros Jude ist: "Die Rothschild-Soros-Clinton-Macron-Merkel-Bande ist dabei, das Spiel zu verlieren!"
Wie sind die Verschwörungen historisch einzuordnen?
Die Behauptung, es gebe eine jüdische Weltverschwörung, ist nicht neu: seit Ende des 19. Jahrhunderts kursieren die sogenannten "Protokolle der Weisen von Zion", 1903 wurden sie erstmals veröffentlich in einer russischen Zeitung unter dem Titel: "Das jüdische Programm zur Welteroberung". Über ihren Ursprung streiten Wissenschaftler bis heute – klar ist jedoch: Sie waren gefälscht, sagt Nikolai Schreiter: "Aber diese Protokolle werden bis heute massenhaft verbreitet und sind eines der wichtigsten Dokumente, die so eine Verschwörung als explizit 'jüdisch' konnotieren."
Auch wenn das Wort "jüdisch" nicht ausdrücklich erwähnt wird: Michael Blume hat schon lange vor Corona auf den Zusammenhang zwischen der der sogenannten "Impfverschwörung" und klassischen antisemitischen Motiven hingewiesen: Er ist Beauftragter des Landes Baden-Württemberg gegen Antisemitismus.
"Weil es ein Klassiker ist: Im Mittelalter galten Jüdinnen und Juden als höher gebildet, sie waren häufiger Ärzte, wie zum Beispiel Moses Maimonides und wenn man einem Arzt gegenüber misstrauisch war, dann war das immer antisemitisch geprägt. Jedes Mal, wenn eine Pest ausbrach, hieß es, die Juden hätten die Brunnen vergiftet, bis zu Stalins "Ärzteverschwörung". Das zieht sich durch die Geschichte."
01.05.2020, Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin: Ein Schild mit der Aufschrift «Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Freiheit." (l) und ein Banner "Coronapanik frisst Grundgesetz" (r) sind bei der Mahnwache zu sehen, zu der sich am Pfaffenteich mehrere hundert Bürger versammeln und gegen die Corona-Schutzmaßnahmen protestieren. Nach Aufforderungen der Polizei wurde das Treffen aufgelöst. Foto: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
Wie umgehen mit Verschwörungstheoretikern?
Wie geht man mit Menschen um, die an Verschwörungstheorien glauben? Der Sozialpsychologe Roland Imhoff und der Schriftsteller Anselm Neft sind sich zumindest in einem einig: Man sollte mit ihnen reden.
Was steckt hinter dem "libertärem Antisemitismus"?
Besonders verbreitet ist ein Verschwörungsmythos, den Michael Blume als "libertären Antisemitismus" bezeichnet. Alte Erzählungen verbinden sich mit dem jüngeren Anspruch: Das wird man doch wohl noch sagen dürfen. Blume: "Und was ich schon sehr krass finde ist, dass viele libertäre Antisemiten gar nicht mehr den Holocaust leugnen. Sondern sie behaupten: Das waren die Juden selber. Sie sollen den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust herbeigeführt haben, um die Gründung des Staates Israel zu erzwingen."
Wie ist die Rechtslage?
Wer will, kann in Deutschland diese Verschwörungserzählungen verbreiten und sich gelbe Sterne an die Brust heften. Das deutsche Recht hinkt da hinterher, sagt der Antisemitismus-Beauftragte Michael Blume: "Wir bekämpfen immer noch diesen alten rechten, rassistischen Antisemitismus, den es natürlich weiterhin gibt. Aber dieser libertäre Antisemitismus ist schon einen Schritt weiter. Das sehen Sie, wenn Menschen sich einen gelben Stern aufkleben, die identifizieren sich mit den Juden, die sagen: die wurden verfolgt und ich werde auch verfolgt. Die merken überhaupt nicht mehr, was das für eine krasse Gleichsetzung ist."
Strafbar ist es nicht – aber gefährlich. Denn anders als im Mittelalter braucht es heute keinen Mob mehr. Es reicht schon, wenn sich Einzelne radikalisieren: In Halle an der Saale hat ein Mann im vergangenen Herbst, am jüdischen Feiertag Jom Kippur, einen Anschlag auf eine Synagoge versucht. Als er die Tür nicht überwinden konnte, tötete er in der Stadt zwei Menschen. Er glaubte unter anderem, die Juden hätten die Flüchtlingskrise angezettelt.