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Angela Steidele: "Aufklärung. Ein Roman"
Das Licht der Vernunft

Leipzig im 18. Jahrhundert: In Angela Steideles Roman wird das Glücksversprechen einer ganzen Epoche in den Blick genommen, dabei gilt die Aufmerksamkeit den gelehrten Frauen. Ein erhellendes wie schalkhaftes Tableau mit sehr heutigen Anklängen.

Von Angela Gutzeit | 11.09.2022
Angela Steidele: „Aufklärung. Ein Roman“
„Aufklärung“ ist in Stil und Anliegen eine Zusammenschau des bisherigen Schaffens von Angela Steidele. (Foto: © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag, Buchcover: Insel Verlag)
Einst sah Europas Intelligenzija im 18. Jahrhunderts viel Licht am Ende des Tunnels. „Licht“ – die zentrale Metapher der Aufklärung, wenn nicht sogar ihr Kampfbegriff. Wissen, vernünftiges Denken und Handeln sollten die Menschen aus der jahrhundertelangen Finsternis des Mittelalters befreien. Das Bürgertum strebte seiner Emanzipation zu, begann sich aus der lähmenden Umklammerung durch weltliche und klerikale Mächte zu lösen. Noch dazu rückte der Wissenszuwachs die Beherrschbarkeit der Natur in greifbare Nähe. Der Weg der Menschheit zu Freiheit und Frieden schien unaufhaltsam.
Von diesem Fortschrittsoptimismus ist in unserem 21. Jahrhundert nicht mehr viel übrig. Naturbeherrschung und Technikgläubigkeit zeigen ihre zerstörerische Seite. Alternativlos aber bleibt der Gedanke des vernunftbestimmten Handelns, verbunden mit ethischen Prinzipien. Und so kann man mit Jürgen Habermas sagen: Die Aufklärung bleibt ein „unvollendetes Projekt der Moderne“.
Voraussetzung war und ist eine kritische, unzensierte Öffentlichkeit, die bereit ist zum produktiven Streitgespräch. Im Geiste Lessings geht es dabei um das Begreifen der Welt aus mehr als einer Perspektive. Unter den Bedingungen der heutigen Mediengesellschaft mit ihren unzähligen Perspektiven eine riesige Herausforderung. Aber vielleicht ist es genau dieser unausweichliche Druck, der wieder vermehrt zur Beschäftigung mit den Idealen der Aufklärung drängt: Die Notwendigkeit der Verständigung angesichts einer immer stärker bedrohten und in verschiedenste Interessen zerfallenden Welt.

„Sapere aude!“

Der Roman „Aufklärung“ von Angela Steidele hat sich diesem Geist des erhellenden Disputs voll und ganz verschrieben. Die Handlung ist in den ersten sechs Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts angesiedelt. Versammelt zum schöpferischen Ideenwettstreit sind im protestantischen Leipzig, Sachsens intellektueller Hochburg, die großen Leuchten der Aufklärung.
Steideles Protagonistin ist Dorothea Bach, die Tochter des Thomaskantors und Komponisten Johann Sebastian Bach. Wie sie spricht, denkt und schreibt, das klingt allerdings oft ziemlich heutig. Aber das ist nur ein Indiz für die Feststellung: Der Roman „Aufklärung“ ist sowohl ein Buch über die Kommunikation aufgeklärter Köpfe beiderlei Geschlechts in einem Jahrhundert des Aufbruchs aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“, wie es Kant nicht ganz unumstritten formulierte. Es ist auch ein Buch des Gesprächs mit dieser Epoche über fast drei Jahrhunderte hinweg. Vor allen Dingen ist es ein Buch aus dezidiert weiblicher Perspektive.

Salonkultur in Leipzig

Das Entreé: Catharina Dorothea Bach, Tochter aus erster Ehe des Komponisten Johann Sebastian Bach, möchte ihre Erinnerungen an die geliebte und bewunderte Freundin Luise Adelgunde Gottsched, genannt die Gottschedin, schriftlich festhalten, bevor diese verblassen. Es mag um 1763 sein, als sie notiert:
„Lichter scheint mir die Erinnerung an unsere erste Begegnung. Vor über achtundzwanzig Jahren war das, im Herbst 1734. Das Zimmermannsche Kaffeehaus war gedrängt voll. Die wenigstens Gäste hatten einen Platz gefunden, alles schob und stieß sich, lachte und schwatzte durcheinander. (…) Im Publikum entdeckte ich Lorenz Mizler, der damals bei uns in der Thomasschule ein und aus ging. (…) Unbeirrt saß mein Vater am Cembalo und schlug immer wieder denselben Ton für die drei Streicher und den Flötisten an.“
Zur Aufführung von Bachs flotter „Kaffee-Kantate“ hat sich das Figuren-Personal des Romans fast vollständig eingefunden: Anna Magdalena Bach, Kammermusikerin und zweite Frau des Komponisten; Lorenz Mizler, Schüler Bachs, Buchhändler und Musiktheoretiker; Johann Adolf Scheibe, Komponist und Herausgeber einer Musikzeitschrift; Christian Friedrich Henrici, Bachs wichtigster Kantatendichter, und natürlich Johann Christoph Gottsched, der große Sprachforscher und Literaturtheoretiker der Aufklärer.
Später gesellen sich an anderen Orten Leipzigs und in wechselnden Konstellationen die Theaterreformerin Friederike Caroline Neuber und die Dichterin und Musikerin Christiana Mariana Ziegler hinzu. Letztere führte den ersten literarisch-musikalischen Salon in den Ländern des deutschen Staatenbundes. Mit von der Partie unter anderem auch Johann August Ernestievangelischer Theologe und Leiter der Thomasschule; der Buchdrucker Bernhard Christoph Breitkopf und der Schriftsteller Christian Fürchtegott Gellert.
Im Zentrum von Dorothea Bachs Erinnerungsschrift aber steht Luise Gottsched, Gattin des Sprachforschers. Bachs Antrieb, über die Gottschedin zu schreiben, wird nicht nur durch die freundschaftlich, geradezu erotischen Gefühle der unverheirateten Chronistin zu dieser großen Gelehrten legitimiert. Der entscheidende Grund liegt im Widerspruch. Es ist die Empörung über Johann Christoph Gottscheds Biografie, die er über seine Frau nach deren Tod verfasste. Die Bedeutung ihres Werks wie auch ihren Anteil an seinen Schriften und Übersetzungen, so schreibt sie, habe er bewusst klein gehalten.
„Immerhin schreibt er, dass Luise mehr geleistet hat, als von irgendeinem anderen Frauenzimmer in Deutschland zu erwarten gestanden. Ihre vielen Bücher zählt er aber nur auf. Was drin steht, erfährt man nicht. Vor allem lobt sich der Professor selbst dafür, sich eine Gehülfin aus ihr bereitet zu haben. Außerdem habe sie ihren Haushalt, die Küche und die Wäsche stets ohne alles Geräusch aufs Ordentlichste besorgt und ihre Ausgaben auf Heller und Pfennig genau abgerechnet.“
Sogar für ihren frühen Tod macht sie ihn verantwortlich:

„Wer sie auf dem Gewissen hat, verschweigt er. Und mich erwähnt er natürlich mit keinem Wort. (…) Nun, Carl hat auch nicht alles sagen wollen im Nekrolog unseres Vaters. Trotzdem würde ich am liebsten Gottscheds Darstellung kommentieren, Satz für Satz hinterfragen, anders beleuchten, Unerwähntes nachholen. Er hat ja eigentlich nur sein eigenes Leben geschildert und nennt es das Leben seiner Frau.“

Die Verdienste der Gottschedin

„Satz für Satz hinterfragen“, das wird sie zwar nicht tun, „Unerwähntes nachholen“ aber schon. Indem Angela Steidele ihre Protagonistin in den Dienst der Gottschedin treten lässt, Abschriften für sie anfertigt und eine Art Vertraute wird, gesteht sie ihr Einblicke zu, die sich nach und nach zu einem halbfiktiven biografischen Bild der gelehrten Frau formen.
Diese literarische Verfahrensweise, historisch Verbürgtes durch Erfundenes in den Bereich des durchaus Möglichen zu erweitern, hat Steidele in ihren Büchern mit den Lebens- und Liebesgeschichten historischer Frauenfiguren wie Catharina Linck oder Anne Lister bereits bestens erprobt.
So ist belegt, dass die außerordentlich sprachgewandte Luise Gottsched nicht nur durch ihre Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen maßgeblich an der Verbreitung frühaufklärerischer bürgerlicher Schriften zu Moral und rationaler Philosophie beigetragen hat. Die europaweit vernetzte Frau, die die aufblühende Zeitschriften- und Salonkultur zu nutzen wusste, trat in ihren Briefen und Essays nachdrücklich für die Emanzipation der Wissenschaften ein. Sie dichtete, verfasste Komödien.
Aber der Großteil ihrer Werke erschien eben unter dem Namen ihres Mannes in dessen literarischen Großprojekten „Die deutsche Schaubühne“ und „Die deutsche Sprachkunst“. Dass sie allerdings das Libretto zu Johann Sebastian Bachs „Weihnachtsoratorium“ geschrieben haben könnte, wie Steideles Protagonistin vermutet, ist wiederum Fiktion, zumindest nicht nachweisbar.

Die Modernisierung der Sprache

Naheliegend ist allerdings die Bekanntschaft der Schriftstellerin und Musikerin Cristiana Mariana von Ziegler mit Johann Sebastian Bach in Leipzig. 1725 hat Bach neun Texte der Zieglerin zu Kantaten vertont.
Eher nicht verbürgt ist jedoch die Zusammenarbeit der Gottschedin und der Zieglerin an der überarbeiteten Neuausgabe in Buchform von Gottscheds Wochenzeitschrift „Die vernünftigen Tadlerinnen“, die als erste deutsche Frauenzeitschrift gilt. Steidele schickt beide – mit Dorothea Bach als Protokollantin – in einen erbitterten Disput über die Modernisierung der Sprache im Zeitalter der Aufklärung, aber auch über Möglichkeit und Grenzen von gelehrten Frauen, sich in die Debatten ihrer Zeit einzubringen. Im folgenden Zitat ergreift zunächst Luise Gottsched das Wort:
„'Ach, wo wir gerade dabei sind, ich habe ja sehr über die Verwandtinnen und Bekanntinnen gelacht. Ich nehme an, Sie haben diese Ausrücke in Ihrem Band ebenfalls korrigiert?' – 'Nein, und ich sehe auch keinen Grund dafür.' – 'Aber wir machen uns doch damit lächerlich.' – 'Keineswegs. Dass wir Weiber nicht als gelehrt gelten dürfen, aber als tugendhaft gelten müssen, liegt auch an der Sprache, ja sogar an der Grammatik.' – 'Ach, ich bitte Sie, Mme Zieglerin. Lernt man das in der Deutschen Gesellschaft?' – 'Wer seine Vernunft gebraucht, kann die deutsche Sprache nicht geschlechtergerecht finden. Seine, verstehen Sie?'“
Es sind diese gewitzten Pointen, die den vielen Streitgesprächen in diesem Roman nicht nur Schwung verleihen, sondern ihnen auch in heiterer Manier das eine oder andere aktuelle Krönchen aufsetzen. So blitzt in diesem Fall der heutige Streit um gendergerechte Sprache durch. An anderer Stelle prophezeit ein gewisser Stephan Jobst bei einem Gespräch über die Zukunft des Buches, es werde in ferner Zeit Maschinen geben, die alles Wissen der Welt beinhalten würden. Wobei ein zufälliger Passant mit dem bezeichnenden Namen Laurentius Gugl einwirft, das Wissen müsse kostenlos werden, sonst sei Schluss mit der Aufklärung.

Die Leuchte der Weltweisheit

Die Satire wie der Roman, auch bereits in autobiografischer Form, erlebten im 18. Jahrhundert neben anderen Literaturformen eine Blütezeit. Steidele nutzt beide als ideale Plattform, um Denkbilder zeitlich ins Flirren zu bringen, Möglichkeiten auszutesten und der Komik wie dem listigen Anspielungsreichtum Raum zu geben.
Und so zieht Angela Steidele in ihrem Roman auf sehr geschickte und unterhaltsame Weise die Fäden zwischen den großen Errungenschaften und Themen der Aufklärungszeit, zwischen ihren Figuren und eben auch zwischen den Epochen. Immer wieder sind es die Streitgespräche in den Salons, im Kaffeehaus, in der Thomasschule, im Theater, die als Signum einer neuen bürgerlichen Öffentlichkeit die Aufbruchseuphorie der Epoche markieren.
„Das Licht des Glaubens wird zur Leuchte der Weltweisheit, die uns eine strahlende Zukunft erhellt“, sagt die Gottschedin im Gespräch mit Johann Sebastian Bach, in dem es unter anderem um die Verbindung von Naturerkundung und Glauben geht. Dann wieder wird die Zukunft des Theaters verhandelt, zu der Steidele Gottsched, den Obergelehrten des Leipziger Intellektuellenkreises, bei der Krönung der Zieglerin zur Kaiserlichen Poetin, vielleicht etwas zu thesenhaft, anmerken lässt:
„Ist die Bühne erst einmal Schule der Nation, ja, ihre moralische Anstalt, wird sie in unserem Jahrhundert des Lichts alles kritisch beleuchten. Kritik, das ist der Kern des neuen Denkens, der Herrschaft der Vernunft.“
Und so wird in diesem Buch unentwegt über die Künste, über Sprache, Musik, Naturwissenschaft, Mathematik, Religion und Meinungsfreiheit diskutiert. Natürlich auch über die Herrschaftsverhältnisse. Denn letztendlich hängt zu dieser Zeit in den deutschen Ländern noch alles von den Launen des preußischen Königs Friedrich II. ab, der sich nicht scheut, Sachsen 1745 aus reiner Habgier zu überfallen und Leipzig ausplündern. Kriege können, so die von Steidele wohl bewusst gesetzte Parallele zum heutigen Europa, alle Hoffnungen auf ein zukunftsträchtiges Miteinander schlagartig wieder verdunkeln.

Die produktive Zweiflerin

Bleibt die Frage, warum Angela Steidele nun gerade Catharina Dorothea Bach zu ihrer Chronistin erkoren hat. Über die Tochter des Komponisten aus erster Ehe ist ja so gut wie nichts bekannt. Im Gegensatz zu einigen ihrer Halbbrüder blieb die wohl ebenfalls musikalisch begabte Frau ein völlig unbeschriebenes Blatt. Aber genau diese Leere nutzt Steidele, um sie zur Spiel- und Verbindungsfigur im Leipziger Kulturleben aufzubauen: Als Vertraute und musikalische Unterstützung ihrer Stiefmutter Magdalena Bach, als Freundin und Mitarbeiterin der Gottschedin, als Sängerin bei der Hausmusik und im Zimmermannschen Kaffeehaus, sowie als Begleiterin ihrer Familienmitglieder bei Theater-, Konzert- und Salonbesuchen.
Als Intellektuelle kann sie nur eine Randfigur bleiben, aber als Zeugin ist sie vielseitig einsetzbar. Auch hin und wieder als Doppelgängerin der Autorin, die, wie gesagt, gern auf der Klaviatur des Schalkhaften spielt. Erkennbar hat sie sich in diese Figur selbst mit eingeschrieben, zum Beispiel, wenn Dorothea zusammen mit einem Geburtshelfer namens Johann Steidele einer Gebärenden zur Seite steht und diese die Bach-Tochter fragt, ob sie denn mit dem Mann verwandt sei.
Interessant ist Steideles Chronistin aber noch aus einem anderen Grund: Dorothea Bach ist eine produktive Zweiflerin, die die Glaubwürdigkeit ihrer Erinnerungen wie auch die Form ihrer Niederschrift ständig zur Diskussion stellt. Damit spiegelt sie in einer Art Verdopplung den Anspruch aufklärerischen Denkens wieder, Kritik zum Antrieb des Fortschritts zu erheben.

„Wie soll ich nur unterscheiden, was stimmt und was nicht?“

 ist die immer wiederkehrende Frage. Aber auch ihre Erkenntnis:
„Als mich meine Halbschwestern vor einiger Zeit zur Rede gestellt haben, wie ich es mir erlauben könne, meine Erinnerungen in Gesprächsform wiederzugeben, habe ich (...) nicht geschickt genug geantwortet. Habe nur auf die Dialoge verwiesen, die unser Vater vertont hat. Dabei meine ich mit der Rede und Gegenrede viel mehr. Halte ich nicht Zwiesprache mit der Vergangenheit? Ich frage, und die Erinnerung antwortet. Während des Schreibens wird mir allmählich klarer, was ich hier eigentlich tue. Mein Verfahren ist der Matthäuspassion abgelauscht, die mein Vater ebenfalls mit fünfzig überarbeitete (…) diese nie dagewesene Dopplung der musikalischen Mittel ermöglichte buchstäblich eine Zwiesprache. (…) Auch die Arien der Solisten folgen dem Prinzip von Rede und Gegenrede.“

Die Kunst der Fuge

Hier ist ein Punkt angesprochen, zu dem es in der Musikwissenschaft offensichtlich verschiedene Ansichten gibt. Es geht um die Frage, inwiefern eigentlich Johann Sebastian Bach selbst eine Figur der Aufklärung war. In Steideles Roman ist dessen gewaltiges musikalisches Schaffen so etwas wie der Klangteppich, der die Debattenkultur unterfüttert. Durchgängig und teilweise bis in Notenfolgen hinein, sind die Werke des Kantors und Hofkonzertmeisters in diesem Buch präsent.
Erzählt wird vom musikalischen Miteinander in der großen Familie Bach, von den Aufführungen in der Thomaskirche bis zu einer Darbietung Bachs bei dem ihm nicht unbedingt wohlgesinnten Friedrich dem Zweiten. Der Preußen-König hält ihn für veraltet. Auch nach Bachs Tod, schmäht er den Komponisten. Als Anna Magdalena Bach bei einer Audienz dem Herrscher eine Sopran-Arie aus Bachs Jagdkantate vorstellt, stimmt Friedrich mittendrin in das Geheul seiner Hunde ein, wie Dorothea, die ihre Stiefmutter begleitet, die Szene schildert.
„Dieses Mal heulten nicht nur die Windhunde mit. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht, aber – auch der König legte den Kopf in den Nacken und jaulte, lauter und lauter, bis Anna Magdalena und ich abbrachen.“
Den historischen Tatsachen entspricht, dass Bach selbst sich zu den philosophischen, literarischen und naturwissenschaftlichen Debatten seiner Zeit kaum geäußert hat. Wie er überhaupt kein „Medienmensch“ war, das heißt, Beiträge in Musikzeitschriften, die seiner Karriere hätten förderlich sein können, ablehnte. So bleibt allein die Interpretation seiner zum Lobe Gottes komponierten Kirchenmusik.
Im Kontext der Aufklärung sagen die einen, sie sei doch eher traditionsverhaftet. Nein, sagen die anderen, sie sei durchaus mit der aufklärerischen Rationalisierung seiner Zeit in Einklang zu bringen. Insbesondere Bachs „Kunst der Fuge“, als eine geradezu durchmathematisierte Kompositionstechnik - und hier kommt wieder Steideles Roman ins Spiel - lasse im Geist der neuen Zeit Klangströme wie in einem Wettstreit gegeneinander antreten, so der Tenor im Buch. Im Roman „Aufklärung“ erscheint der Thomaskantor also als ein Komponist, der kunstvoll und produktiv die Spannung hält zwischen Glauben und Vernunft, zwischen Tradition und Fortschritt.

Verachtung des Weiblichen

So licht der Roman begonnen hat, zum Ende hin verdüstert sich das Bild. Der siebenjährige Krieg, die Auflösung des Leipziger Aufklärungszirkels durch den Tod seiner Protagonisten, sowie auch der Zweifel der Chronistin an ihrer eigenen Rolle und Bedeutung, zum Beispiel im Verhältnis zur geliebten Gottschedin, – dies alles wirft Schatten auf die anfängliche Euphorie der Leipziger Bildungselite. Vor allen Dingen aber sieht Steideles Erzählerin den Stern der gebildeten Frauen wieder verblassen.
Gottscheds Publizierung der Werke seiner Frau unter eigenem Namen, wie auch die Frauenfeindlichkeit in Rousseaus und Kants Schriften, gelten ihr nach kurzer Blüte als Zeichen für die erneute Verdrängung der Frauen ins Dunkel der Nichtexistenz. Der junge Lessing, wie auch der junge Goethe tauchen auf und mit ihnen, so legt es der Text nahe, ganz ungeniert die Verachtung des Weiblichen.
„Wir waren uns doch mit Rousseau und Kant einig: Die Wilden sind von Natur aus wild. Und die Frauen sind von Natur aus weiblich. Sie schaffen nicht, sie empfangen. Deshalb muss ihre Schreiberei jegliche Originalität entbehren. Es liegt in der Natur der Sache (…). Goethe sah mich treuherzig an.“
Wenn man auf die Epoche der Aufklärung schaut, so mutet die Rolle von so manchen männlichen Figuren in diesem Roman, zum Beispiel die des Theaterreformers und Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing, doch arg einseitig an. Aber das Gesamtbild dieses außerordentlich anregenden und wissensgesättigten Romans überzeugt. Die Aufklärung bleibt ein „unvollendetes Projekt der Moderne“.
Nicht zuletzt, weil in unserer Zeit die Redefreiheit wieder durch Gewalttaten bedroht und ein vernunftbestimmtes kommunikatives Handeln durch ideologisches Gegeneinander, durch Abgrenzungen und Hasskampagnen gefährdet ist. Notwendiger denn je, so legt es Angela Steidele in „Aufklärung“ nahe, muss das Nachdenken über unsere Zukunft ein Projekt beider Geschlechter sein. Dem sei nur Erfolg beschieden, wenn diese sich auf Augenhöhe begegneten. Diesem Plädoyer ist nichts hinzuzufügen.
Angela Steidele: „Aufklärung. Ein Roman“
Insel Verlag, Berlin.
603 Seiten, 25 Euro.