Sonntag, 28. April 2024

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Lilli Thal
Jugendliche Spione in einem Terrorregime

20 Jugendliche müssen unter Zwang in einer Militärdiktatur spionieren. Lilli Thal erörtert diese Grundidee in ihrem neuer Roman "Die Puppenspieler von Flore". Die Jugendlichen erleben dabei die Grausamkeiten und Abnormitäten eines Terrorregimes, aber auch die Überheblichkeit von systemtreuen Anhängern der freien Welt.

Von Siggi Seuss | 29.08.2015
    Bücherstapel
    Lilli Thal beschreibt die Spionage unter Lebensgefahr in einer Militärdiktatur. (imago / JOKER)
    Wann gab es zuletzt ein Jugendbuch von prosaischer Länge, das einen so in die Handlung zog? - Lilli Thals "Die Puppenspieler von Flore" erinnern an den Anfang der 2000er-Jahre erschienenen mehrbändigen Antikriegsroman "Morgen war Krieg" des Australiers John Marsden, in dem sich Seite für Seite die ausweglose Situation von Jugendlichen zuspitzt, die während einer Wanderung ins Outback erfahren, dass ihr Land von einer feindlichen Macht besetzt worden ist. Wie Marsdens Roman prägt die Geschichte der in Franken lebenden Autorin eine hochverdichtete Handlung aus Ereignissen in einer fiktiven Welt und realistischen Szenarien, mit psychologisch feingezeichneten Charakteren.
    "Bei mir ist die Grundidee: Wie wäre es, wenn? Wie wäre es, wenn man 20 Jugendliche zwingen würde, als Spione in eine Militärdiktatur zu gehen?"
    Lilli Thal siedelt ihre Geschichte in einer teils relativ modernen Welt an - es gibt Flugzeuge, aber keine Telefone. Und in einem isolierten und rückständigen Land. Die Hauptschauplätze der Handlung heißen Corona - eine Weltmacht, die stark an die Vereinigten Staaten erinnert - und Flore, der mächtige Erzfeind im Osten, der in seinem diktatorischem Machtgefüge am ehesten Nordkorea ähnelt.
    "Bei den Puppenspielern, da war es mir schon irgendwie wichtig, dass die Länder zwar fiktiv sind, aber dass es einfach auf der großen weiten Welt solche Systeme gibt und solche Situationen gibt, in die diese Jugendlichen hätten geraten können. Und zwar ganz real. Es ist ja nicht so, dass Freiheitsversprechen oder die Freiheit und die Demokratie bei den Coronern eine Lüge wär. Sie sind halt nur halt sehr fundamentalistisch und zutiefst überzeugt von ihren Prinzipien. Und gehen dafür buchstäblich auch über Leichen."
    Entführung von 20 Jugendlichen
    Zwischen den beiden Mächten Corona und Flore liegt ein kleiner Staat ohne Aggressions- und Expansionsgelüste: Parman. Aus jenem Parman, das Corona als Schutzmacht sieht, aber auch bescheidenen Handel mit Flore betreibt, werden eines Tages 20 16-jährige Jugendliche an ihrem letzten Schultag direkt aus ihren Klassenzimmern von coronischen Agenten entführt.
    "Am 25. März, an meinem letzten Schultag, holten sie mich ab. - Immer noch wünsche ich mir, ich hätte vorher Bescheid gewusst. Das Fest, das meine Eltern anlässlich des Schulabschlusses ihres ältesten Sohnes vorbereitet hatten – wir hätten es am Abend vorher feiern können, als Abschiedsfest, ganz für uns. So aber konnte ich weder meinem Vater noch meiner Mutter oder meinen kleinen Brüdern Lebewohl sagen, bis heute nicht."
    Wie wir Leser nach und nach erfahren, sind die jungen Leute allesamt geborene Coroner, die im Säuglingsalter mit Einwilligung der patriotischen Eltern in parmanische Pflegefamilien gegeben wurden. Die ahnungslosen Kinder wuchsen als Parmaner auf, bis man sie auf eine Militärbasis des coronischen Geheimdienstes brachte, um sie dort zu Spionen auszubilden und nach Flore einzuschleusen. Ein Jahr lang werden die jungen Menschen mehr oder weniger wider Willen in Flore von einem mysteriösen Agentenführer, dem "Leader", betreut und arbeiten als Domestiken in Haushalten mächtiger Personen. Einige werden den Einsatz nicht überleben.
    "Ich denke, wenn ich eine Geschichte so düster anlege, dann kann ich nicht, um zu irgendeinem Happy End zu kommen, die Sache glatt bügeln. Das geht nicht. Ja, es hat, denke ich, was mit der Ernsthaftigkeit zu tun. Entweder mir ist es ernst mit der Geschichte und ich lege so ein unmenschliches System an – dann ist es auch mit allen Konsequenzen. "
    Puppenspiel als Entlarvung des Systems
    Der Erzähler, Tamaso, ein handwerklich äußerst geschickter Junge, hat dabei wohl den heikelsten Auftrag. Er arbeitet als Mechaniker im Haus eines für seine Brutalität berüchtigten Marschalls. Die furchtbarste Erfahrung für den jungen Mann ist die Entdeckung, dass, während man im ersten Stock des Anwesens die Geschichte Flores als filigranes Puppenspiel einübt, in den Kellergewölben Grausames geschieht. Dort werden Gegner des Regimes systematisch gefoltert und ermordet. Im Haus des Marschalls scheint es eine familiäre Opposition zu geben – seine Ehefrau und sein Sohn Rix -, die mit dem historischen Puppenspiel die Brutalität des Systems auf subtile Art entlarven und damit auch Menschen vor dem sicheren Tod retten: Alle Spieler sind Gefangene des Marschalls.
    "Als ich eintrete, stehen die Puppenspieler im Halbkreis um Herrn Rix versammelt. Er führt eine Puppe, keine der prächtigen Figuren, sondern die kleine, grobe Holzmarionette, die ich gestern repariert habe. - Sie scheint gerade aus dem Schlaf erwacht und erhebt sich nun, noch halb im Traum gefangen. Allmählich wird sie munterer und läuft auf ihren runden Holzfüßen auf und ab, bis sie aus Versehen gegen Herrn Rix' Bein stößt. Da erstarrt sie."
    Lilli Thal entwickelt mit großem dramaturgischen Geschick und einer lebensnahen, dialogreichen, stilsicheren und – vor allem in den Puppenspielszenen - auch poetischen Sprache eine komplexe und spannende Handlung. So wie sie das bereits meisterlich in ihrem, auch von der Kritik hochgelobten historisch-fiktiven Roman "Mimus" getan hat. Dort ging es um die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen zwei benachbarten Königreichen, während denen der Prinz des unterworfenen Landes dazu gezwungen wird, beim Hofnarren des siegreichen Königs in die Lehre zu gehen.
    Jugendliche müssen Verantwortung übernehmen
    Lilly Thal wechselt in "Die Puppenspieler von Flore" die Schauplätze, lässt die Jugendlichen die Grausamkeiten und Abnormitäten eines Terrorregimes genauso erfahren wie die Überheblichkeit von systemtreuen Anhängern der freien Welt. Die Jugendlichen treffen auf Menschen, die versuchen ihre Individualität und Menschlichkeit zu bewahren, aber sie werden auch mit fanatisch verblendeten Gestalten konfrontiert. Und natürlich gibt es im Roman zarte erste Lieben, es gibt Freundschaften, ironische Szenen, aber auch ein von Hass zerfressenes Verhältnis zwischen zwei Jugendlichen. Es gibt Situationen, in denen die jungen Menschen vor ungeheuer schwierige Entscheidungen gestellt werden, von denen das eigene und das Leben anderer Menschen abhängt.
    "Ich würde nicht sagen, dass ein Mensch nur reifen kann, wenn er diese Erlebnisse hat. Dass er dann aber auf eine sehr harte und schnelle Weise reifen muss – ja, das schon. Tamaso tut das ja auch. Weil er einfach merkt, dass ihm gar nichts anderes übrig bleibt, als Verantwortung zu übernehmen für sich selbst und auch für die anderen."
    Der Roman ist so geschickt zusammengefügt, dass an keiner Stelle das Konstruktionsgerüst hervorlugt. Was Lilli Thal bereits mit "Mimus" bewiesen hat, bestätigt sich in "Die Puppenspieler von Flore": Die Autorin gehört – auch wenn sie das selbst so nicht sehen wird - zu den großen Erzählern in der Jugendliteratur unserer Zeit.
    Buchinfos:
    Lilli Thal: "Die Puppenspieler von Flore", Gerstenberg Verlag