Sebastian Ehl: So richtig überrascht war eigentlich niemand über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Der Weg für die geplanten Neuwahlen ist also frei. Aber das Urteil hat eine Debatte über die Rolle der Verfassungsrichter ausgelöst. Und darüber, wie die verschiedenen Verfassungsorgane zueinander stehen sollten - also Kanzler, Parlament, Bundespräsident und die obersten Richter. Neu ist diese Frage in der Geschichte der Bundesrepublik allerdings nicht.
Am Telefon mitgehört hat Jutta Limbach. Sie war von 1994 bis 2002 Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts und ist heute Präsidentin am Goethe-Institut. Wir haben am Schluss des Beitrags den Vorschlag gehört, das Ergebnis eines politischen Prozesses eher mal dem Kräftespiel der Beteiligten zu überlassen. Wie finden Sie das?
Jutta Limbach: Das gilt für die übrige Politik in jedem Fall, dass es auf das politische Kräfteverhältnis ankommt. Für das Bundesverfassungsgericht ist der einzige Maßstab das Grundgesetz.
Ehl: Wie eng orientieren sich denn die Verfassungsrichter bei ihrer Arbeit dann am politischen Tagesgeschehen? Spielt das überhaupt keine Rolle?
Limbach: Das spielt gewiss eine Rolle. Ich denke, es gibt kaum so sorgfältige Leser der Tagespresse wie das Bundesverfassungsgericht. Und das hat ja im Vorfeld seiner Entscheidung nun wirklich zuhauf in der Tagespresse, in der Fachpresse einen Meinungsaustausch über die richtige Interpretation des Artikels 68 lesen können.
Ehl: Also Sie sagen, das aktuelle Geschehen spielt schon eine Rolle bei der Entscheidungsfindung?
Limbach: Aber ganz gewiss. Wenn Sie sehen, die Bundesverfassungsrichter werden alltäglich in einer Presseschau über all die Zeitungsbeiträge informiert, die in irgendeiner Weise das Bundesverfassungsgericht betreffen.
Ehl: Auf die Rolle der Medien möchte ich gleich noch ein bisschen eingehen, Frau Limbach. Aber zunächst die Frage: Welchen Einfluss haben denn die drei anderen Verfassungsorgane auf die Entscheidungsfindung des Verfassungsgerichts? Wie viel Spielraum bleibt den Richtern überhaupt?
Limbach: Die Richter - das habe ich ja angedeutet -, die Richter haben die Entscheidungen, die von ihnen verlangt werden, am Maßstab der Verfassung zu prüfen. Und da ist gar keine Möglichkeit für die anderen Verfassungsorgane, hier auf das Gericht Druck auszuüben. Es fällt seine Entscheidung völlig unabhängig von den anderen Verfassungsorganen. Und das gehört auch zum guten Stil in der Bundesrepublik, dass die anderen Gewalten nicht versuchen, auf die dritte Gewalt irgendeinen Druck auszuüben.
Ehl: Und umgekehrt? Wie sehr machen sich denn die Verfassungsrichter überhaupt Gedanken über die Folgen ihrer Entscheidung auf das politische und gesellschaftliche Leben?
Limbach: Ich denke, dass das heutzutage eines der wichtigsten Argumente ist, die Folgenabwägung. Denn mitunter ist ein Gesetz - oder auch gerade das Grundgesetz - so offen formuliert, dass durchaus Alternativen der Entscheidung vertretbar sind. Und dann ist das Folgen-Argument, also die Abwägung: Was würde die eine oder die andere Entscheidung für den demokratischen politischen Prozess bedeuten?, natürlich auch ein wichtiges Argument im Haushalt, im Geisteshaushalt der Verfassungsrichter.
Ehl: Aber Frau Limbach, das ist ja eigentlich ein Widerspruch? Denn die Richter würden sich ja dann in dem Moment schon beeinflussen lassen vom aktuellen Tagesgeschehen, wenn sie die Folgen abwägen.
Limbach: Nein. Das hat miteinander nichts zu tun. Das aktuelle Tagesgeschehen müssen die Richter natürlich wahrnehmen. Die Frage, die ich zurückgewiesen habe, ist, ob Verfassungsorgane wie der Bundeskanzler oder der Bundespräsident auf das Gericht irgendeinen Entscheidungsdruck ausüben können. Sie können das Gericht anrufen, aber in der Sache orientiert sich das Gericht dann am Grundgesetz. Und nimmt natürlich auch wahr, wie die gegenwärtige Situation der Bundesrepublik ist. Denn dazu fordert doch der Artikel 68 geradezu heraus, zu sehen: Ist dieser Kanzler handlungsfähig oder nicht? Und das kann ich natürlich ohne solche Erwägungen, ohne solche politischen Analysen gar nicht beantworten.
Ehl: Frau Limbach, Sie haben gerade das Stichwort selbst gebracht: In den vergangenen Wochen haben wir erlebt, wie die Medienlandschaft die Entscheidungsfindung des Gerichts akribisch verfolgt hat. Außerdem gab es viele Parteienvertreter, die schon vorher genau wussten, wie das Urteil auszufallen hat. Wie groß ist denn eigentlich die Wirkung des öffentlichen Drucks auf das Bundesverfassungsgericht?
Limbach: Der Druck ist groß, aber die Wirkung des Druckes, denke ich, ist gering. Denn ich habe das bei einer der dramatischsten Entscheidungen sehr wohl erlebt - das war die Asyl-Entscheidung -, dass in der Öffentlichkeit eine erregte Diskussion stattgefunden hat und immer wieder auch versucht worden ist - auch in der alltäglichen Post -, auf das Gericht Druck auszuüben. Aber in dieses Gericht werden ja doch Menschen gewählt, die am Ende ihrer Berufslaufbahn stehen. Die wissen, dass sie nicht wieder gewählt werden können. Die in keiner Weise auf ihre Popularität schauen. Wo ich mich darauf verlassen kann, dass sie auch bei einem starken öffentlichen Druck - der aus der Presse, der aus der Politik kommen mag - wirklich imprägniert wissen und sich nicht beeinflussen lassen.
Ehl: Das Urteil vorgestern hat außerdem eine heftige Debatte über die Rechte des Bundeskanzlers ausgelöst. Manche sprechen von "Kanzlerfreibrief", andere sogar von "Kanzlerdemokratie". Wie sehen Sie das?
Limbach: Dieser Begriff ist überhaupt nicht neu. Roman Herzog hat dazu schon vor zwei Jahrzehnten einen Aufsatz geschrieben. Wir haben tatsächlich eine parlamentarische Demokratie mit einem sehr starken Kanzler, der ja kraft des Grundgesetzes auch in der Lage ist, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Dass hier jetzt die Machtverhältnisse noch mehr zugunsten des Kanzlers verschoben worden sind, das sehe ich so nicht. Denn wir müssen ja doch deutlich sehen, dass es bei diesem Artikel 68 drei Verfassungsorgane gibt. Und dass ja schließlich der Bundeskanzler nicht den Abgeordneten Wein in das Wasser geträufelt hat, dass sie ja doch klaren Sinnes waren, als sie diese Entscheidung getroffen haben, und es überhaupt gar keinen diktatoriellen Druck gegeben hat.
Ehl: Sehen Sie also, wenn ich Sie richtig verstehe, keine Machtverlagerung vom Parlament zum Kanzler durch das Urteil?
Limbach: Ich sehe das nicht. Ja, dass wir eine starke Richtung hin zur Kanzlerdemokratie haben, das ist gar nicht zu leugnen und das entspricht zum Teil sogar dem Grundgesetz. Das hat aber auch etwas damit zu tun, dass es in unserer hochkomplexen Welt und vor allem einer Welt mit großer Technologie und Wissenschaft sehr schwierig ist für die Politik heute, ohne sachverständigen Rat, Entscheidungen zu treffen. Und deshalb haben wir diese Kommission - die wir ja nicht nur beim Kanzler, sondern die wir ja auch im Bundestag haben.
Ehl: Frau Limbach, kontrovers diskutiert über alle Parteigrenzen hinweg ist die Möglichkeit einer Grundgesetzänderung in Richtung eines Selbstauflösungsrechts des Bundestages. Bei den Landesparlamenten gibt es das ja. Wäre das nicht auch für den Bund die sauberste Lösung?
Limbach: Ich denke, dass das eine gute Lösung ist. Weil sie im Grunde genommen diesen Konflikt hier befriedet, bei dem doch ein großer Teil nicht nur der Staatsrechtslehrer der Meinung ist, man würde hier mit dieser Vertrauensfrage das Grundgesetz verbiegen. Dann wäre das eine klare Entscheidung. Man könnte ein sehr hohes Quorum ansetzen - Zweidrittelmehrheit oder sogar von Vierfünftelmehrheit ist die Rede. Dann hat es der Vertreter des Souveräns, also das Parlament, in der Tat in der Hand, mehrheitlich zu entscheiden, ob hier die Situation für eine Neuwahl spricht oder nicht.
Am Telefon mitgehört hat Jutta Limbach. Sie war von 1994 bis 2002 Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts und ist heute Präsidentin am Goethe-Institut. Wir haben am Schluss des Beitrags den Vorschlag gehört, das Ergebnis eines politischen Prozesses eher mal dem Kräftespiel der Beteiligten zu überlassen. Wie finden Sie das?
Jutta Limbach: Das gilt für die übrige Politik in jedem Fall, dass es auf das politische Kräfteverhältnis ankommt. Für das Bundesverfassungsgericht ist der einzige Maßstab das Grundgesetz.
Ehl: Wie eng orientieren sich denn die Verfassungsrichter bei ihrer Arbeit dann am politischen Tagesgeschehen? Spielt das überhaupt keine Rolle?
Limbach: Das spielt gewiss eine Rolle. Ich denke, es gibt kaum so sorgfältige Leser der Tagespresse wie das Bundesverfassungsgericht. Und das hat ja im Vorfeld seiner Entscheidung nun wirklich zuhauf in der Tagespresse, in der Fachpresse einen Meinungsaustausch über die richtige Interpretation des Artikels 68 lesen können.
Ehl: Also Sie sagen, das aktuelle Geschehen spielt schon eine Rolle bei der Entscheidungsfindung?
Limbach: Aber ganz gewiss. Wenn Sie sehen, die Bundesverfassungsrichter werden alltäglich in einer Presseschau über all die Zeitungsbeiträge informiert, die in irgendeiner Weise das Bundesverfassungsgericht betreffen.
Ehl: Auf die Rolle der Medien möchte ich gleich noch ein bisschen eingehen, Frau Limbach. Aber zunächst die Frage: Welchen Einfluss haben denn die drei anderen Verfassungsorgane auf die Entscheidungsfindung des Verfassungsgerichts? Wie viel Spielraum bleibt den Richtern überhaupt?
Limbach: Die Richter - das habe ich ja angedeutet -, die Richter haben die Entscheidungen, die von ihnen verlangt werden, am Maßstab der Verfassung zu prüfen. Und da ist gar keine Möglichkeit für die anderen Verfassungsorgane, hier auf das Gericht Druck auszuüben. Es fällt seine Entscheidung völlig unabhängig von den anderen Verfassungsorganen. Und das gehört auch zum guten Stil in der Bundesrepublik, dass die anderen Gewalten nicht versuchen, auf die dritte Gewalt irgendeinen Druck auszuüben.
Ehl: Und umgekehrt? Wie sehr machen sich denn die Verfassungsrichter überhaupt Gedanken über die Folgen ihrer Entscheidung auf das politische und gesellschaftliche Leben?
Limbach: Ich denke, dass das heutzutage eines der wichtigsten Argumente ist, die Folgenabwägung. Denn mitunter ist ein Gesetz - oder auch gerade das Grundgesetz - so offen formuliert, dass durchaus Alternativen der Entscheidung vertretbar sind. Und dann ist das Folgen-Argument, also die Abwägung: Was würde die eine oder die andere Entscheidung für den demokratischen politischen Prozess bedeuten?, natürlich auch ein wichtiges Argument im Haushalt, im Geisteshaushalt der Verfassungsrichter.
Ehl: Aber Frau Limbach, das ist ja eigentlich ein Widerspruch? Denn die Richter würden sich ja dann in dem Moment schon beeinflussen lassen vom aktuellen Tagesgeschehen, wenn sie die Folgen abwägen.
Limbach: Nein. Das hat miteinander nichts zu tun. Das aktuelle Tagesgeschehen müssen die Richter natürlich wahrnehmen. Die Frage, die ich zurückgewiesen habe, ist, ob Verfassungsorgane wie der Bundeskanzler oder der Bundespräsident auf das Gericht irgendeinen Entscheidungsdruck ausüben können. Sie können das Gericht anrufen, aber in der Sache orientiert sich das Gericht dann am Grundgesetz. Und nimmt natürlich auch wahr, wie die gegenwärtige Situation der Bundesrepublik ist. Denn dazu fordert doch der Artikel 68 geradezu heraus, zu sehen: Ist dieser Kanzler handlungsfähig oder nicht? Und das kann ich natürlich ohne solche Erwägungen, ohne solche politischen Analysen gar nicht beantworten.
Ehl: Frau Limbach, Sie haben gerade das Stichwort selbst gebracht: In den vergangenen Wochen haben wir erlebt, wie die Medienlandschaft die Entscheidungsfindung des Gerichts akribisch verfolgt hat. Außerdem gab es viele Parteienvertreter, die schon vorher genau wussten, wie das Urteil auszufallen hat. Wie groß ist denn eigentlich die Wirkung des öffentlichen Drucks auf das Bundesverfassungsgericht?
Limbach: Der Druck ist groß, aber die Wirkung des Druckes, denke ich, ist gering. Denn ich habe das bei einer der dramatischsten Entscheidungen sehr wohl erlebt - das war die Asyl-Entscheidung -, dass in der Öffentlichkeit eine erregte Diskussion stattgefunden hat und immer wieder auch versucht worden ist - auch in der alltäglichen Post -, auf das Gericht Druck auszuüben. Aber in dieses Gericht werden ja doch Menschen gewählt, die am Ende ihrer Berufslaufbahn stehen. Die wissen, dass sie nicht wieder gewählt werden können. Die in keiner Weise auf ihre Popularität schauen. Wo ich mich darauf verlassen kann, dass sie auch bei einem starken öffentlichen Druck - der aus der Presse, der aus der Politik kommen mag - wirklich imprägniert wissen und sich nicht beeinflussen lassen.
Ehl: Das Urteil vorgestern hat außerdem eine heftige Debatte über die Rechte des Bundeskanzlers ausgelöst. Manche sprechen von "Kanzlerfreibrief", andere sogar von "Kanzlerdemokratie". Wie sehen Sie das?
Limbach: Dieser Begriff ist überhaupt nicht neu. Roman Herzog hat dazu schon vor zwei Jahrzehnten einen Aufsatz geschrieben. Wir haben tatsächlich eine parlamentarische Demokratie mit einem sehr starken Kanzler, der ja kraft des Grundgesetzes auch in der Lage ist, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Dass hier jetzt die Machtverhältnisse noch mehr zugunsten des Kanzlers verschoben worden sind, das sehe ich so nicht. Denn wir müssen ja doch deutlich sehen, dass es bei diesem Artikel 68 drei Verfassungsorgane gibt. Und dass ja schließlich der Bundeskanzler nicht den Abgeordneten Wein in das Wasser geträufelt hat, dass sie ja doch klaren Sinnes waren, als sie diese Entscheidung getroffen haben, und es überhaupt gar keinen diktatoriellen Druck gegeben hat.
Ehl: Sehen Sie also, wenn ich Sie richtig verstehe, keine Machtverlagerung vom Parlament zum Kanzler durch das Urteil?
Limbach: Ich sehe das nicht. Ja, dass wir eine starke Richtung hin zur Kanzlerdemokratie haben, das ist gar nicht zu leugnen und das entspricht zum Teil sogar dem Grundgesetz. Das hat aber auch etwas damit zu tun, dass es in unserer hochkomplexen Welt und vor allem einer Welt mit großer Technologie und Wissenschaft sehr schwierig ist für die Politik heute, ohne sachverständigen Rat, Entscheidungen zu treffen. Und deshalb haben wir diese Kommission - die wir ja nicht nur beim Kanzler, sondern die wir ja auch im Bundestag haben.
Ehl: Frau Limbach, kontrovers diskutiert über alle Parteigrenzen hinweg ist die Möglichkeit einer Grundgesetzänderung in Richtung eines Selbstauflösungsrechts des Bundestages. Bei den Landesparlamenten gibt es das ja. Wäre das nicht auch für den Bund die sauberste Lösung?
Limbach: Ich denke, dass das eine gute Lösung ist. Weil sie im Grunde genommen diesen Konflikt hier befriedet, bei dem doch ein großer Teil nicht nur der Staatsrechtslehrer der Meinung ist, man würde hier mit dieser Vertrauensfrage das Grundgesetz verbiegen. Dann wäre das eine klare Entscheidung. Man könnte ein sehr hohes Quorum ansetzen - Zweidrittelmehrheit oder sogar von Vierfünftelmehrheit ist die Rede. Dann hat es der Vertreter des Souveräns, also das Parlament, in der Tat in der Hand, mehrheitlich zu entscheiden, ob hier die Situation für eine Neuwahl spricht oder nicht.
