Samstag, 18. Mai 2024

Archiv


Links gehen, rechts stehen

1893 rollt in New York die erste Treppe, fünf Jahre später dann in Europa - im exklusiven Londoner Warenhaus Harrods. Auf Bahnstationen, Flughäfen oder in Kaufhäusern befördert sie seither schier unaufhaltsam Menschenmassen auf engstem Raum von Stockwerk zu Stockwerk.

Von Andi Hörmann | 25.07.2013
    Kein Kinderwagen, kein Fahrrad, Kinder nur in Begleitung, den Hund auf den Arm nehmen und bitte keine Gummistiefel tragen. Bevor jemand eine Rolltreppe betritt, sieht er sich erst einmal mit einer Vielzahl an Regeln konfrontiert. Allem voran das ungeschriebene Gesetz: Links gehen, rechts stehen. Soziologen in München haben diese informelle Norm bewusst gebrochen, einen Konflikt provoziert und das Verhalten auf der Rolltreppe untersucht.

    An der U-Bahn-Station Sendlinger Tor in München schlendern Touristen gelassen durch die gelb gekachelten Gänge. Angestellte eilen hektisch über die gepflasterten Bahnsteige. Hastiges Trippeln, flanierendes Schreiten. Füße, Schritte, kreuz und quer - ein Tritt auf die Aluminiumplatte und die Treppe setzt sich in Bewegung.

    "Man muss am Anfang aufpassen, dass man nicht auf die Nase fällt, und dass die Rolltreppe auch in die richtig Richtung fährt."

    Das leise Rattern der geriffelten Stufen - monoton und mechanisch transportiert die Rolltreppe die Menschen von oben nach unten, von unten nach oben - Etage für Etage, auf Bahnhöfen und Flughäfen. Treppauf, treppab - ein endloser Kreislauf: still stehen, verschnaufen, ein paar Sekunden Erholung im gestressten Großstadtalltag.

    In der Kunst ist die Rolltreppe ein Symbol für die Morbidität der Moderne: Bei Buster Keaton stolpert und purzelt der Mensch schon 1922 in dem Film "The Electric House" über mechanische Stufen. 1970 erscheint das Jugendbuch "Rolltreppe, abwärts" von Hans-Georg Noack - ein Psychogramm über den sozialen Abstieg eines Jugendlichen. Für Robert Hazard wird 1982 dann sogar das Leben zur Rolltreppe:

    Musik: Robert Hazard "Escalator of Life"

    Der Architekt Rem Koolhaas setzt die Rolltreppe gerne als gestaltendes Element ein. Für ihn steht sie auch für den Übergang aus der Zweidimensionalität von Markthallen und Passagen zur modernen, mehrgeschossigen Mall; sie stoppt den Flaneur und fügt ihn in eine passive Menschenmasse ein - mobilisiert und lähmt gleichzeitig. Was für den einen Teil eines städteplanerischen Konzepts ist, ist für den anderen Projektionsfläche von bodenloser Banalität: richtig eklig, was den "Fäkal-Rappern" von "Das neue Prekariat" zur Rolltreppe einfällt.

    "Kack auf die Rolltreppe!
    Dass sie immer frisch beschmiert
    Kack auf die Rolltreppe!
    Sieh zu wie dein Shit rotiert
    Kack auf die Rolltreppe!
    Wenn du jeden Schritt verzierst, läuft dein Scheiß heavyrotation so wie Britney Spears ..."


    Die Realität sieht so zum Glück nicht aus. Aber auch hier prallen Welten oder vielmehr Geschwindigkeiten aufeinander: die von müden und die von gehetzten Großstädtern.

    "In München stehen wir an der rechten Seite und an der linken haben wir den Fastlane. Das heißt: Leute, die schnell zur Bahn oder nach Hause müssen, die gehen auf der linken Seite einfach vorbei."

    Fastlane - die Überholspur links, rechts die Standspur. Eine informelle Norm, die sich für das Verhalten auf der Rolltreppe in deutschen Großstädten etabliert hat. Soviel zur Theorie, die Praxis sieht wie so oft anders aus: Steht jemand gedankenverloren auf der linken Seite der Rolltreppe, ist der Ärger vorprogrammiert.

    "Dann wird er meistens weggeschubst. Ich wurde schon mal angepfiffen und ja, nicht geschubst, aber rüber geschoben. Das passiert einem einmal und danach weißt du auch, dass du rechts zu stehen hast und nicht links."

    Rechts stehen, links gehen - in einem Feldexperiment vom Institut für Soziologie der LMU München hat Christiane Bozoyan mit Studenten die Probe aufs Exempel gemacht und eine Rolltreppe an der U-Bahn-Station Sendlinger Tor blockiert: 86 Prozent der Frauen, aber nur 64 Prozent der Männer, wurden dabei zurechtgewiesen:

    "Frauen werden eher verbal angegangen. Wobei verbal angegangen bedeutet, dass es von der Bitte bis hin zur Beschimpfung geht. Und Männer werden eher physisch angegangen - vom Antippen bis hin zum Schubsen."
    Rolltreppe
    Die Dreifaltigkeit der Rolltreppe (Andi Hörmann)
    Rolltreppe an der Schwantalerhöhe in München in Aktion
    Rolltreppe in München in Aktion (Andi Hörmann)
    Rolltreppe zur U-Bahn am Marienplatz in München.
    Rechts stehen, links die Hundespur? Rolltreppe zur U-Bahn am Marienplatz in München. (Andi Hörmann)