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Lisa Kränzlers "Lichtfang"
Irritierende, aber starke Prosa

Die Romane von Lisa Kränzler sind Coming-of-age-Geschichten: Sie beschäftigen sich mit den Problemen des Erwachsenwerdens und enthalten eine Reihe autobiografischer Elemente. So auch ihr dritter Roman "Lichtfang". Stilistisch ist sie darin noch ein bisschen weiter gegangen.

Von Cornelia Staudacher | 06.01.2015
    Die erste Lektüre des Romans mutet wie ein Rundgang durch das Atelier der Künstlerin Lisa Kränzler an. Da bleibt man vor einem Bild stehen, lässt es auf sich wirken und erlebt, angeregt durch die darauf festgehaltenen Farben und Formen, einen in sich geschlossenen magischen Moment. So umreißt auch jedes der eher kurz gehaltenen und mit einer knappen Überschrift versehenen Kapitel erzählerisch ein Motiv oder eine kleine, in sich geschlossene reale oder mentale Situation - wie Stills, angehaltene Momente im Film. Die Kapitel sind weder handlungsorientiert noch chronologisch sortiert, obwohl die Bilder in einen zeitlichen Rahmen zusammen gehören; manche sind parallel angeordnet, das heißt, ein Gedanke oder ein Augenblick wird zunächst aus Liliths, dann aus Rufus' Perspektive beschrieben, was zu mancherlei Überraschungen führt.
    "Was ich beschreibe, ist ja immer gespeichertes Bildmaterial. Die Bildauswahl treffe ich so, dass sich bestimmte Sachen aufdrängen, indem sie immer wiederkehren, und dann irgendwann zum Ballast werden, also ich muss es dann irgendwann loswerden und in Worte verpackt nach außen transportieren, und wenn ich dann mit einem Text anfange, wie zum Beispiel mit "Lichtfang", dann habe ich schon bestimmte Szenenbilder im Kopf, von denen ich weiß, die müssen drin sein, die muss ich beschreiben, auf jeden Fall, und dann ergeben sich während des Schreibens zum Teil noch andere Bilder, die ich jetzt so nicht erwartet hätte, also es gibt dann Überraschungen."
    Ein Beispiel: "Orakel (metallisch)" heißt das erste Kapitel. Es schildert eine Szene, in der Rufus versucht, einen Ball in ein Netz zu werfen und als er es geschafft hat, euphorisch das in seinem Inneren imaginierte Orakel erfüllt sieht: Er wird Lilith wiedersehen: "Auf dem Nachhauseweg spürt er wie die Vorfreude, die so lange zerknüllt in einem düsteren Winkel lag, in seine Mitte rollt, wo sie sich entfaltet, aufblüht und strahlt wie Kirschblüten in der Frühjahrssonne. Morgen! Morgen wird er sie wiedersehen!"
    Es folgt das Kapitel "Orakel (elektronisch)": Lilith sitzt auf der Toilette und drückt mit dem Handballen gegen ihren Bauch, bis es schmerzt. Sie ist magersüchtig und das Gewicht, das die elektronische Waage anzeigt, erschreckt sie, wenn sie es mit dem Gewicht in ihren Jugendjahren vergleicht, als sie ein Ass in Leichtathletik war. In der Nacht zuvor hatte sie sich Fotoalben angesehen und war eingetaucht in die Erinnerung an ihre sportlichen Erfolge in der Jugend: (Zitat) "Sie will in eine dieser Fotografien kriechen, mit ihr verschmelzen, im ewigen Eis der bunt schillernden Spiegelfläche erstarren."
    Mit Verve, Tempo und einem hohen literarischen Anspruch
    Lilith und Rufus sind ein Liebespaar, das sich unterschiedlicher kaum vorstellen lässt. Sie sind neunzehn und besuchen die letzte Klasse vor dem Abitur. Rufus möchte nach dem Abitur Astrophysik studieren und hat klare Vorstellungen für seine Zukunft. Abschweifungen erlaubt er sich nur, wenn er vor seinem Teleskop sitzt und die Sterne beobachtet. Lilith dagegen bricht die Schule ab, um sich ausschließlich ihrer Leidenschaft, dem Malen zu widmen. Rufus erscheint Lilith "wie eine Insel, ein trockenes, vollkommen autarkes Stück Land". Sie lässt sich ausschließlich von ihren Intuitionen und Fantasien leiten. In der geistigen Enge der schwäbischen Kleinstadt ist sie eine Außenseiterin und fühlt sich nicht zugehörig zu den "Mitläufern, Langweilern und Lackaffen", wie sie ihre Mitschüler nennt.
    Aber die Illusion, anders, stark und unabhängig zu sein, ist mit Angst vor der Zukunft verbunden, mit Unsicherheit und Zweifeln an sich selbst, die sie in Alkohol und Drogen zu ertränken versucht.
    "Bei "Lichtfang" war es vor allem, diesen Ritt ins Verderben zu beschreiben, ja zu beschreiben, wie Rufus Lilith und Lilith dem Wahn verfällt. Also dieser Wahnsinn, das hat mich interessiert. Das Buch entwickelt ja von Kapitel zu Kapitel ne ziemliche Dynamik. Es ging mir um dieses In-den-Wahn-Hineinrasen, ne Ausweglosigkeit war mir wichtig."
    Mit Verve, Tempo und einem hohen literarischen Anspruch erzählt Lisa Kränzler die tragisch endende Coming-of-age-Geschichte von Lilith und entwickelt einen literarischen Aggregatzustand ganz eigener Prägung, der trotz des experimentellen, artifiziellen Charakters ihrer Sprache einen geheimnisvollen Sog ausübt. Sie findet für die sprachliche Darstellung der von Zweifeln und selbstzerstörerischen Fantasien geprägten Lilith, die unweigerlich in die Katastrophe steuert, eine kraftvolle, bilderreiche Sprache von sinnlicher, gelegentlich kryptischer Radikalität.
    "Es geht mir auf keinen Fall darum, Geschichten zu erzählen, also um diese klassische Ich-erzähle-eine-Geschichte, das interessiert mich gar nicht. Also ich will einmal das Bild beschreiben in erster Linie, und in zweiter Linie die Sprache, erst mal muss das Bild vorhanden sein und dann ist es die Sprache, die mich interessiert. Ich bin fasziniert von Worten, von Reimen, und es geht mir auch darum, die Grenzen auszutesten, wie weit kann ich mit der Sprache gehen, was funktioniert noch, was funktioniert nicht mehr. Manchmal gibt's vielleicht Vergleiche, die können 99 von hundert Leuten nicht mehr nachvollziehen, weil's ihnen unlogisch erscheint, aber einer kanns vielleicht noch nachvollziehen, und dann ist es für mich gerechtfertigt."
    Die von Brüchen und Grenzüberschreitungen charakterisierte, in ihrer Multiperspektivität und sinnlichen Künstlichkeit starke, wenn auch nicht immer einfach zu lesende Prosa Lisa Kränzlers löst bisweilen Irritationen aus. Bei der Lesung einer Passage aus dem Roman "Nachhinein" beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb im Juni 2012 reagierte die Jury bis auf den Juror, der die Autorin vorgeschlagen hatte, eher reserviert und wortkarg. Dennoch erhielt die Autorin schließlich den 3Sat-Preis. Derlei Reaktionen fechten die selbstbewusste und ambitionierte Künstlerin nicht an, sondern bestätigen sie eher in ihrem Unterfangen, die Sprache auf ihre Unwäg- und Unsagbarkeiten abzuklopfen.
    "Ich hab damit überhaupt kein Problem. Ich versteh nicht, was der Unterschied, also dieses "natürliche" und "künstliche" Sprache. Ich hab nur eine Sprache, ich hab weder ne natürliche noch ne künstliche, sondern ich hab die, die mir eben in den Kopf kommt, und deshalb, wenn die dann als künstlich bezeichnet wird, mein Gott. Für mich wär es wahnsinnig langweilig, ein Buch zu lesen, in dem nichts passiert in der Sprache, mich interessiert das Experiment. Ich weiss, dass es zum Teil als nervig empfunden wird oder als zu viel, aber mich interessiert es, ich würd' gern nicht nur zwei Alliterationen haben, es dürften auch gern zwanzig sein, ich denk, ich würde das gern noch viel mehr machen."
    Vieldeutig und zu Assoziationen anregend ist schon der Titel des Romans. "Lichtfang" ist ein Begriff aus der Drucktechnik und verweist auf Liliths - und Kränzlers - leidenschaftliche Manie, im Malen das Licht auf der Leinwand einzufangen und zu bannen.
    "Der Wunsch, Schriftsteller zu sein oder zu werden, hat bei mir nie bestanden"
    Als Lichtfang wird aber auch eine spezielle Technik des nächtlichen Fangens von Schmetterlingen unter Lichteinfluss bezeichnet. Und Lilith, der Name eines weiblichen Dämons in der sumerischen Mythologie, wird in alten orientalischen Mythen als weibliches, geflügeltes, Schmetterling ähnliches Mischwesen dargestellt. Somit verbirgt sich im Titel des Romans auch eine Anspielung auf die sich in Lilith manifestierende Ambivalenz zwischen ihrer Suche nach Schutz und Geborgenheit, die sie in den Armen ihres Freundes Rufus findet, und ihrem unbändigen Freiheitsbedürfnis, ihrer "Ausgesetztheit auf den Bergen des Herzens", um es mit einem Rilkezitat zu sagen.
    Ambivalent ist auch Lisa Kränzlers Einstellung zu den beiden Künsten, denen sie sich meist parallel widmet. Ob sie einer von beiden, dem Malen oder dem Schreiben den Vorzug gibt, ist ihr schwer zu entlocken. Wichtig sei für sie in erster Linie die Intensität der Darstellung eines Erlebnisses oder Gedankens.
    "Ich denke, es war erst malen, zeichnen, aber wahrscheinlich ist beides wichtig, aber der Wunsch, Schriftsteller zu sein oder zu werden, hat bei mir nie bestanden. Ich wollte immer Künstlerin und das hat für mich immer bedeutet, Malerin werden. Ich habe "Export A" während meines Meisterschülerjahrs geschrieben und gemalt auch nebenbei. Ich hab so meine Probleme mit dem Begriff Realität. Für mich ist entscheidend die Intensität, also für mich ist entscheidend, wie intensiv ist das Erlebnis, wie intensiv sind die Bilder. Man kann ja zum Beispiel wahnsinnig intensiv träumen und würde das auch nicht als Realität bezeichnen, sondern als Traum."
    Zu wünschen wäre es, dass sich Malen und Schreiben von Lisa Kränzler in Zukunft weiterhin in dieser Weise beeinflussen und eine Inspirationsquelle bilden für eine Literatur, die in der Verschmelzung der beiden Künste neue Wege beschreitet. Die Wort- und Bildkraft dazu hat sie allemal.
    Lisa Kränzler, Lichtfang, Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 175 Seiten, 16,95 Euro.