Freitag, 19. April 2024

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Lisa Olstein: "Weh"
Migräne-Poesie

Liebeskummer und Weltschmerz sind seit Jahrhunderten Gegenstand von Literatur, aber Poesie über Kopfschmerz? Die US-amerikanische Lyrikerin Lisa Olstein zeigt in ihrem Essay, dass jeder Schmerz erzählenswert sein kann und auch Migräne grundlegende Einblicke in die menschliche Wahrnehmung liefert.

Lisa Olstein im Gespräch mit Miriam Zeh | 09.10.2020
Die Schriftstellerin Lisa Olstein und ihr Buch „Weh. Über den Schmerz und das Leben“
Lisa Olstein wurde in den USA mehrfach für ihre Lyrik ausgezeichnet. Sie unterrichtet Kreatives Schreiben an der University of Texas. (Foto Olstein: David Goodrich, Buchcover: Hanser Verlag)
Chronischer körperlicher Schmerz beeinflusst uns als Menschen ebenso stark wie manch seelische Entrückung. Trotzdem geben Liebeskummer, Weltschmerz und Melancholie in der Literaturgeschichte weit häufiger Anlass zu Liedern, Gedichten und Romanen. Von Magenverstimmungen, Zahnschmerz oder gar Kopfweh lesen wir selten. Die US-amerikanische Dichterin und Essayistin Lisa Olstein, 1972 in der Nähe von Boston geboren, leidet selbst an Migräne und schreibt darüber. "Millionen von Menschen, mehr Frauen als Männer, leiden unter chronischer Migräne", sagt sie. "Dieser Schmerz hat eine Berechtigung".
Ihr erstes von Barbara Schaden ins Deutsche übertragene Buch "Weh. Über den Schmerz und das Leben" erschien im Frühjahr dieses Jahres unter dem englischen Originaltitel "Pain Studies" in den USA. Das poetische Sachbuch beschränkt sich nicht auf die eigenen Leiderfahrungen der Autorin, sondern nutzt sie zur Reflexion über weit größere Fragen nach Wahrnehmung, Sprache und Schmerz. So experimentiert Olstein mit verschiedenen Schmerzskalen, auf denen Patienten ihre Qual einstufen sollen. Sie schlägt alternative Formulierungen vor, ersetzt etwa die medizinischen Beschreibungen von Schmerzstufen durch Windstärken. Sie stellt Vergleiche neben streng physikalische Deskriptionen und subjektive Einordnungen.
Im Buch heißt es: "Jeder aktuell erlebte Schmerz ist immer der schlimmste, und wenn er schlimm ist, ist er unübersetzbar, aber das hält einen nicht davon ab, es immer wieder zu versuchen."
Verschärfte Sinneswahrnehmungen durch Migräne
Wie viele Migränepatientinnen beschreibt Olstein eine Lichtempfindlichkeit in akuten Schmerzschüben. Sie nimmt aber auch Farben anders wahr. Gelb wird unerträglich grell, blau ein angenehmer Eindruck, wenn der Kopfschmerz regiert. Diese geschärften bis verzerrten Wahrnehmungen nicht als Defizit zu lesen, sondern auch als eigenständige, angemessene Erfahrung, fiel Olstein lange nicht leicht:
"Als chronische Schmerzpatientin mit einer schwer zu behandelnden Erkrankung und als Frau in einem sexistischen medizinischen System fühlt man sich oft beschuldigt, den eigenen Zustand nur zu imaginieren", sagt sie.
Olstein wollte in ihrem persönlichen Essay auch zeigen, dass es zu einem Vorteil werden kann, wenn die Sinne geschärft sind und dass dieser Zustand den Wahrnehmungsprozess als solchen freilegt.
"Man sollte Migräne aber auf keinen Fall romantisieren", betont sie. "Die meiste Zeit, wenn ich unter Migränekopfschmerzen leide, fühle ich mich stumpf und sprachlos, wie überfahren und weit unfähiger, die Welt wahrzunehmen oder mit Sprache zu interagieren."
Migränegemüt
Die vielen unterschiedlichen Ansätze, die Lisa Olstein in ihrem Essay wählt und die breit gestreuten Zitate von Plinius dem Älteren über Anne Carson bis hin zu Dr. House geben "Weh" eine fragmentarische Form. Lisa Olstein wollte damit auch jene Denkprozesse abbilden, die Migräne unterbricht. "Migraine mind" nennt sie das, ein Migränegemüt.
"Ich wollte unbedingt nicht nur über Migräne schreiben, sondern in sie hinein oder aus ihr heraus", erklärt sie. Dass Realität in der Literatur immer noch vornehmlich als linear, kausal und nachvollziehbar erzählt wird, hält sie für einen Kunstgriff, einen billigen Trick. "Wir leben inmitten unserer Realität. Wir schimmen in einer üppigen, unübersichtlichen Fülle an Wahrnehmungsmöglichkeiten und stellen sie oft nur viel 'reiner' dar, als wir sie eigentlich erleben."
Nach vielen erfolglosen Migräne-Behandlungen hat auch das Schreiben dieses Buches nicht gegen Olsteins Schmerz geholfen. Es hat aber ihre Beziehung zur Krankheit verändert:
"Der Schmerz fühlt sich mehr als Teil von mir an, etwas, von dem ich nicht mehr unvermittelt am Morgen überrascht werde, jeden Tag aufs Neue, auch nach all den Jahren."
Schmerzen, die zur Körperwahrnehmung dazu gehören
Obwohl sie keinen Ratgeber und keinen Leitfaden für Migränepatientinnen geschrieben hat, hofft sie, dass ihr Buch auch anderen Menschen helfen kann:
"Schmerz ist ein Teil der menschlichen Erfahrung. Wir alle erleben ihn oder werden ihn erleben. Und selbst, wenn wir das Glück haben, physiologisch ein relativ schmerzfreies Leben zu führen, sind wir immer noch diese sinnlich wahrnehmenden Wesen mit Körpern, durch die wir die Welt erfahren, durch die wir wahrnehmen und mit denen wir sprechen. Das ist für mich die Kernaussage des Buches."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Lisa Olstein: "Weh. Über den Schmerz und das Leben"
Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Carl Hanser Verlag, München, 160 Seiten, 20 Euro