Donnerstag, 28. März 2024

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Literatur-Lexikon des Mittelalters
Wissenschaftliches Mammut-Projekt

Nicht nur Minnegesänge, sondern auch Prosa, Dramatik, geistliche, philosophische und wissenschaftliche Texte findet man in den acht Bänden des Deutschen Literatur-Lexikons: Das Mittelalter. Auf 6.377 Seiten wird ein sehr weit gefächertes literarisches Wissen vermittelt - in naher Zukunft wird das auch digital zugänglich sein.

Von Angela Gutzeit | 10.10.2016
    Ein Federkiel mit Papier und Kerze
    Das Literatur-Lexikon Mittelalter führt mit gut strukturierten Essays in die einzelnen Bände ein. (imago/Mito)
    Sie gilt als das älteste Buch deutscher Sprache, die "Abrogans"- Handschrift, die althochdeutsche Übersetzung eines lateinischen Wörterbuchs. Entstanden etwa im 8. Jahrhundert. Dieses Glossar besteht nur noch aus Pergamentresten. Aber immerhin – es hat überlebt. Und zwar hinter den schützenden Klostermauern von St. Gallen, eines der frühestens Bildungszentren nördlich der Alpen. Für die Wissenschaft markiert dieses Schrifttum die Schwelle zum Mittelalter. Volksprachen erobern von nun an immer mehr das lateinische Wissen mit Hilfe der Glossierung und werden in Anlehnung an das lateinische Alphabet verschriftlicht. Otfried von Weißenburg zum Beispiel, einer der berühmtesten Mönchsgelehrten des 9. Jahrhunderts, lobte Gott in seiner althochdeutschen Evangeliensynopse in fränkischer Sprache. Nachzulesen ist dies im ersten Band des Deutschen Literatur-Lexikons "Das Mittelalter". Außergewöhnlich ist an diesem achtbändigen Werk Einiges. Beispielsweise ist es nicht – wie sonst bei Lexika üblich – alphabetisch geordnet, sondern chronologisch. So erweitern sich die Stichworte, auch durch assoziative Querverweise, zu komplexen literatur- und kulturgeschichtlichen Ausführungen über das deutsche Schrifttum des Mittelalters. Hinzu kommt: Dieses wissenschaftliche Mammut-Unternehmen erfasst nicht nur die Großgattungen Lyrik, Prosa, Dramatik, sondern das gesamte geistliche Schrifttum und darüber hinaus alle erfassbaren sogenannten pragmatischen Schriften zur Wissensvermittlung. Bruno Jahn, der sieben Jahre lang das Mittelalter-Lexikon redaktionell betreute, beschreibt diesen erweiterten Blick im Einzelnen so:
    "Das sind Gebete, das sind Beichtspiegel. Im weiteren Sinn gehören auch dazu die geistlichen Spiele des Spätmittelalters zum wissensvermittelten Schrifttum. Das ist sehr weit gefächert. Das fängt an von Vokabularien, also Wörterlisten, geht über Grammatiken. Das sind Schriften zur Musiktheorie, zur Mathematik. Das sind Enzyklopädien. Dazu gehören auch Schulschriften, moraldidaktische Texte. Alles, was im Bereich der Medizin geschrieben wurde bis hin zu juristischen Texten."
    Gut strukturierte Einleitungs-Essays wecken Interesse
    Jeder der acht Bände wird von einem Essay eingeleitet, der jeweils gut strukturiert und leserfreundlich die verschiedenen Genres erschließt. So ein lexikalischer 500 bis 600-Seiten-Band ist ja nun wahrlich keine Bett-Lektüre. Aber gerade diese informativen Einleitungstexte sind bestens geeignet, um das Interesse an der uns so fern anmutenden Epoche zu wecken. Zum Beispiel für das lyrische Schrifttum des Mittelalters und Autoren, von denen die meisten von uns wahrscheinlich noch nie etwas gehört haben, wie Otto von Botenlauben, Heinrich von Morungen oder – schon bekannter – Hartmann von Aue, die um 1200 den Minnegesang entwickelten. Man begegnet Wolfram von Eschenbach, aber nicht nur als Epiker, wie er bislang überliefert ist, sondern auch als Schöpfer von Tageliedern. Oder seinem jüngeren Zeitgenossen Walther von der Vogelweide und erfährt, dass dieser fahrende Berufsdichter das formal wie thematisch wohl umfangreichste lyrische Werk dieser Epoche schuf. Und immer werden diese Portraits zu Person und Werk eingebettet in die jeweiligen politischen und kulturellen Besonderheiten ihrer Zeit.
    Wenig Überlieferungen zu schreibenden Frauen
    Es ist nicht möglich, auf jeden Band einzugehen, aber Erwähnung sollte noch der achte Band finden, der überwiegend dem Register vorbehalten ist. Hier findet sich auch ein Überblick zu allen schreibenden Frauen des Mittelalters - soweit bekannt. Sie schrieben in Klöstern und an den weltlichen Höfen, wo die Privilegierten unter ihnen Zugang zu Wissen und Bildung hatten. Aber die Überlieferungslage bei den Frauen ist schlecht, wie Bruno Jahn bestätigt:
    "In diesem Verzeichnis der Schreiberinnen und Autorinnen des Mittelalters ging es vor allen Dingen darum zu zeigen, von welchen Frauen weiß man heute, dass sie sich schriftstellerisch betätigt haben? Dazu gehört das Aufschreiben von mystischen Betrachtungen – denken Sie an die Dominikanerinnen, die bekannten. Dazu gehören aber auch viele Kompilatorinnen, Übersetzerinnen, vor allen Dingen einfach auch Schreiberinnen. Das Verzeichnis, das im achten Band enthalten ist, listet rund 130 Frauen auf, deren Namen man heute kennt. Man muss aber davon ausgehen, dass die Zahl doch um Einiges größer ist."
    Das mittelalterliche Schrifttum endet im Lexikon mit der Gattung der Prosa-Romane, die um 1510 erstmals gedruckt worden sind. Bruno Jahn nennt da zum Beispiel den Roman "Fortunatus". Der Verfasser ist unbekannt. Neben "Till Eulenspiegel" und "Reineke Fuchs" gehört das 1509 in Augsburg gedruckte Werk zu den bedeutendsten Volksbüchern deutscher Sprache. Es handelt von einem Mann namens Fortunatus und seinen beiden Söhnen, von der Macht des Geldes auf der einen und dem Glück auf der anderen Seite. Ästhetisch und inhaltlich beginnt sich hier viel zu ändern. Auch entfernt sich die Literatur langsam vom Geistlichen, vom Christentum katholischer Prägung, mit dem sie im gesamten Mittelalter verbunden war.
    "Das stimmt. Das zieht sich durch das ganze Mittelalter durch. Man tut sich im Mittelalter natürlich sehr schwer, zwischen geistlichem und nichtgeistlichem Schrifttum zu trennen. Denn dominant war der Glaube an Gott. Und ob man nun ein Gebet hernimmt, einen Beichtspiegel- da ist der geistliche Kontext vollkommen offensichtlich - aber auch, wenn man die im dritten Band behandelten Reiseberichte vornimmt, die oft ja auch Pilgerberichte waren, aber nicht nur. So ist auch ein Reisebericht, der nach Jerusalem geht, vergleichbar mit einem, der von einer Reise nach Indien berichtet Es geht letztlich immer darum, zum einen zu schauen, welche wirtschaftlichen Möglichkeiten bietet die fremde Gegend. Zum anderen auch: Wie kann das abendländische Christentum weiter verbreitet werden? Wo sind Missionsmöglichkeiten vorhanden?"

    Der Informationsreichtum dieser acht Bände ist schier unerschöpflich. Und so ist es unbedingt hilfreich, dass das Mittelalter-Lexikon als Teil des über 40-bändigen Deutschen Literaturlexikons in naher Zukunft auch digital zugänglich sein wird – in Form einer weltweit einzigartigen Datenbank. Aber Bruno Jahn denkt schon wieder über die Möglichkeit eines noch gewaltigeren Projektes nach: über ein Lexikon, das das mittelalterliche Schrifttum des gesamten europäischen Raumes erfassen könnte.