Nein, ungeschrieben sind sie nicht, aber: "Es sind ja ganz große Teile des weiblichen Schreibens einfach verschwunden. Und das heißt eben auch: Dass, wenn es jetzt darum geht, zum Beispiel für Schullektüre, oder wenn mal wieder ein neuer Kanon aufgestellt wird - dass man dann auf diese Autorinnen nicht zurückgreift", sagt Nicole Seifert, Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Autorin.
"Und das finde ich ziemlich fatal, weil eben Frauen schreiben, genauso lange wie Männer. Auch wenn sie es nicht im selben Maße konnten, weil sie eben lange auch gar nicht die Bildung und die Möglichkeit hatten und die ihnen nicht zugestanden wurde. Aber es sind eben ganze Bibliotheken weiblichen Schreibens praktisch in der Versenkung verschwunden, weil sie nicht gepflegt wurden. Also weil Autorinnen von den Verlagen dann zum Beispiel keine Gesamtausgaben bekommen haben, weil die in Literaturgeschichten nicht eingegangen sind."
Die Literaturwissenschaftlerin Martina Wernli, Privatdozentin an der Universität Mainz ergänzt: "Und das ist einfach nicht die Verantwortung der Frauen, dafür zu sorgen, dass die Autorinnen jetzt irgendwie abgebildet werden in der Literaturgeschichtsschreibung. Das ist eigentlich ganz normale Literaturwissenschaft und Literaturgeschichtsschreibung, dass die eben einen breiten, weiten Horizont hat und sich nicht nur auf eine Gruppe stützt."
Pilotprojekt #frauenzählen macht Benachteiligung sichtbar
Doch es sind immer noch mehrheitlich Wissenschaftlerinnen, die Schriftstellerinnen und ihre Werke in den Fokus nehmen. Die feministische Literaturwissenschaft hat auf diesem Gebiet in den letzten Jahrzehnten wertvolle Beiträge geleistet. Dass inzwischen so viele Romane und Erzählungen von Autorinnen veröffentlicht und besprochen werden – dazu beigetragen hat nicht zuletzt das Pilotprojekt "Frauenzählen".
Nina George, Bestseller-Autorin und Präsidentin des European Writers' Council, der europäischen Dachorganisation von 38 SchriftstellerInnen und ÜbersetzerInnen-Verbänden: "Frauen zählen ist entstanden aus der Arbeit am Runden Tisch bei Staatsministerin Grütters 2016. Und 2017/18 haben wir das Konzept entwickelt, #frauenzählen. Im Prinzip war es die Idee, dass Frauen zählen, nämlich insofern, dass ihre Leistungen nicht nur auf künstlerischer oder medialer Ebene einen wichtigen Beitrag leisten für alles in der Gesellschaft. So dass dieser Hashtag frauenzählen einerseits sagt: Frauen zählen. Und andererseits: Lasst uns Frauen zählen, um von dieser gefühlten Benachteiligung mal zu schauen - ist das auch übersetzbar in Zahlen und Fakten und Fallbeispiele?"
Rezensionen spielen eine wichtige Rolle
Aufschluss darüber gibt das Forschungsprojekt "Frauenzählen" an der Uni Rostock zur "Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb". An der ersten, 2018 veröffentlichten Zählaktion beteiligten sich viele Autorinnen wie unter anderem Nina George - übrigens alle ehrenamtlich:
"Wir haben 69 Medien, also Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehformate ausgewertet über einen Zeitraum von 31 Tagen und haben uns über 2.200 Rezensionen vorgenommen, um zu schauen: Wer schreibt über wen wie lang und wie ausführlich und auch in welcher Art? Und unter anderem haben wir im Schnitt herausbekommen, dass über Männer deutlich öfter gesprochen wird und geschrieben als über Werke von Frauen."
Konkret ergab die Auswertung: Zwei Drittel der besprochenen Bücher kamen von männlichen Autoren – und auch unter den Rezensenten waren etwas mehr Männer als Frauen. Frauen rezensierten ähnlich häufig Bücher von Autorinnen wie von Autoren – während Männer zu 75% Bücher von Männern besprachen.
Mehr Aufmerksamkeit, mehr Literaturpreise für Frauen
Das Ergebnis blieb nicht ohne Folgen. Nina George: "Es war zur Zeit der Leipziger Buchmesse, und die Leipziger Buchmesse 2018 hat unglaublich viele Frauentitel auch behandelt und rausgestellt, Preise wurden gewonnen. Wir haben gemerkt, dass einige Redaktionen angefangen haben, freiwillig zu zählen. Die "taz" hat zum Beispiel gezählt, und wir beobachten seither, dass die zum Beispiel sehr viel Wert auf Parität legt, innerhalb sowieso der Diversität, also nicht nur Mann-Frau-Divers, sondern auch Alter, Herkunft, Themen."
Diese erste Zählaktion war Anstoß für weitere quantitative Analysen. Unter dem #vorschauenzählen nahmen die Literaturwissenschaftlerinnen Nicole Seifert und Berit Glanz 2020 das literarische Frühjahrsprogramm großer Verlage unter die Lupe. Insgesamt lag das Verhältnis von Autorinnen zu Autoren bei 40 zu 60 Prozent.
Renommierte Verlage setzen stärker auf Autoren
Doch je renommierter ein Verlag war, desto mehr setzte er auf Männer. Suhrkamp stand mit einem Autorinnnenanteil von 36 Prozent noch relativ gut da, Kiepenheuer & Witsch: 33 Prozent, Fischer 27 Prozent, bei Hanser waren es nur noch 22 Prozent. Nachfrage bei Jo Lendle, Geschäftsführer des Hanser Verlages, inwieweit die Frauenzähl-Aktionen Anlass zur Selbstreflexion waren:
"Jedes einzelne Buch, jedes einzelne Manuskript muss erst einmal aus sich heraus überzeugen. Das ist vollkommen klar. Aber spannend wird es, wenn man dann am Ende merkt, hoppla, man hat trotzdem nur die eine Hälfte der Welt ausgewählt. Und da sind Verlage schon eingeladen, sich Gedanken zu machen: Woran liegt das?"
Ja, woran liegt es, dass etwa bei der Herbstvorschau 2021 von "Hanser Literatur" sieben Bücher von Frauen vertreten sind neben elf Büchern von Männern? Spielt das Geschlecht eine Rolle bei der Auswahl der AutorInnen?
"Wir schauen eigentlich überhaupt nicht drauf. Aber wir stellen fest, dass wir inzwischen mehr und mehr eine gemischte Situation antreffen. Also wenn ich mir angucke, was in den letzten acht Jahren an Debüts hier im Hanser-Literaturprogramm erschienen sind, dann sind es tatsächlich zwei Drittel von Frauen. Das ist aber nicht sozusagen geplant gewesen, sondern das ergibt sich irgendwie."
Literatur von Frauen als Abweichung von der Norm
Der Schriftsteller und Geschäftsführer des Hanser-Verlages spricht von eingefahrenen Konzepten, die man alle paar Jahre mal wieder durchschütteln müsse:
"Eine typische Geschichte ist zum Beispiel, dass in Verlagen immer wieder irgendwo so ein Phantom existiert von Frauenliteratur oder von weiblichem Schreiben oder so etwas. Aber niemand redet über Männerliteratur oder über männliches Schreiben. Man bildet da sozusagen einen Gedanken-Streichelzoo, der wie so extra und apart steht, während das männliche Schreiben als quasi die Normalität angesehen wird. Und aus so einer Normalität entsteht zum Beispiel auch so etwas wie, davon kann es ruhig mehr geben. Das heißt, wir fangen plötzlich an zu denken: Ah, in dem Programm haben wir schon eine Frau, haut doch lieber noch ein paar Männer dazu. Das fällt nicht auf. Also in dem Moment, wo solche unbewussten Bilder mit reinkommen, lohnt es sich hinzugucken."
Mehr Erfolg mit männlichem Pseudonym
Kein Wunder, dass Autorinnen immer wieder unter männlichem Pseudonym veröffentlichen. Früher, weil schreibende Frauen nicht der bürgerlichen Familienehre entsprachen: So nannten sich die Bronte-Schwestern Currer, Ellis und Acton Bell. Mary Evans publizierte unter dem Namen George Eliot. Ihr Roman "Middlemarch" von 1871 wurde vor wenigen Jahren in England von einer internationalen Jury zum bedeutendsten Roman aller Zeiten gewählt. Selbst Joanne K. Rowling wurde geraten, nur J.K. Rowling aufs Cover ihrer "Harry Potter"-Reihe zu schreiben, sonst würden Jungen das Buch nicht lesen.
Und wenn eine Frau literarisch erfolgreich ist, vermutet man auch öfter einen Mann dahinter: Hinter der Bestsellerautorin Elena Ferrante, die öffentlich nicht in Erscheinung tritt, verberge sich möglicherweise ein Autor, wurde gemunkelt. Und Siri Hustvedt unterstellte man, dass ihr Mann Paul Auster möglicherweise der Autor ihrer Bücher sei.
Grund genug für Nadia Brügger und Simone Meier, mit dem Hashtag #dichterdran den Spieß einmal umzudrehen und zu twittern: "Paul Auster, dem Gatten der weltberühmten Schriftstellerin Siri Hustvedt, gelang es trotz seiner Vaterpflichten, das eine oder andere Buch zu verfassen."
Der satirische Umkehrungseffekt vom #dichterdran ist entlarvend: eigenständige literarische Leistungen werden diesmal den Männern abgesprochen. Bettina Fischer, Leiterin des Kölner Literaturhauses: "Und das, finde ich, hat das "frauenzählen" mit angestoßen, dass man eben auch sagt, weibliches Schreiben ist zum Teil unter Wert wahrgenommen worden. Das wollen wir verändern, aber eben nicht nur weibliches Schreiben, sondern eben auch das Schreiben der Menschen, das Bild des Genie-Schreibers, der männlich ist, weiß ist und all diese Normvorstellungen so bedient."
Streit um Streeruwitz "Verführungen" im "Literarischen Quartett"
Endgültig vorbei also die Zeiten, als etwa Marcel Reich-Ranicki 1996 im "Literarischen Quartett" über Marlene Streeruwitz‘ Debütroman "Verführungen" tönte: "Das Leben einer verlassenen Frau, die noch für zwei Kinder sorgen muss und kein Geld hat, ist traurig. Uns das zu zeigen, uns das zu beweisen, halte ich für ziemlich überflüssig"?
Das Buch der österreichischen Autorin polarisierte die Runde. Nicht nur, dass der Alltag einer alleinerziehenden Frau seiner Ansicht nach kein literarisches Thema sei – Reich-Ranicki nannte den Roman auch primitiv und "sprachlich minderwertig".
Nach diesem Verriss sei es "ein Überlebenskampf" gewesen, ob sie "als Autorin danach überhaupt noch einen Atemzug tue", sagte Streeruwitz später. Sie schrieb weiter - mit Erfolg. Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert: "Das finde ich ziemlich eindeutig, dass da einfach mit zweierlei Maß gemessen wird. Das ist ein gelernter Blick. Es ist aber nicht nur das: Selbst wenn Frauen und Männer über das Gleiche schreiben, wird es bei den Männern wertgeschätzt und bei den Frauen nicht. Also ich erinnere an Karl Ove Knausgard, der eben über Kindererziehung, über Haushalt geschrieben hat. Riesen-Bestseller, alle fanden es großartig. Und wenn Frauen darüber schreiben, dann ist es nichts."
Theodor Fontane, Gabriele Reuter: Messen mit zweierlei Maß
Dafür liefert Nicole Seifert in ihrem Buch "Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt" zahlreiche Beispiele. Und sie erinnert an einst erfolgreiche Schriftstellerinnen, die heute kaum jemand kennt.
"Mein Lieblingsbeispiel ist da Gabriele Reuter, die Zeitgenossin von Fontane, die im gleichen Jahr, in dem "Effi Briest" erschien, einen Roman veröffentlicht hat, der hieß "Aus guter Familie". Und da geht es auch wie in "Effi Briest" um eine höhere Tochter in der wilhelminischen Zeit. Die auch scheitert, also, die auch die Erwartungen, die an sie herangetragen werden, zwar erfüllen möchte, aber der so einen Stein nach dem anderen in den Weg gelegt wird. Zum Beispiel verspielt ihr Bruder ihre Mitgift, und sie kann dann nicht heiraten. Und das ist anders als bei Fontane weniger gemütlich und weniger schön beschrieben von ihr. Es wird auch klarer Schuld verteilt, wer auf wessen Kosten lebt, wird da klar benannt und auch, wie unschön das alles ist."
"Aus guter Familie" verkaufte sich bis 1931 in 28 Auflagen. Es war der erste Bestseller im S. Fischer-Verlag, weitere Bestseller von Gabriele Reuter folgten. Warum konnte sie derart in Vergessenheit geraten? "Ich denke eben, dass wir von Gabriele Reuter dann nichts mehr wussten, dass die keine Gesamtausgabe bekommen, dass die nicht in den Schulen gelesen wird, obwohl sie total erfolgreich war, bei Publikum und Kritik, das hat damit zu tun, dass das unbehaglich ist, das zu lesen. Man müsste sich mit dem Inhalt auseinandersetzen, also auch mit dem Leben von Frauen im Patriarchat."
Das hat weitreichende Folgen, so Martina Wernli, die an der Uni Mainz auch angehende LehrerInnen ausbildet: "Bei Metzler und De Gruyter sind schon viele Handbücher erschienen. Zu Autorinnen sind das nur etwa acht und insgesamt sind es über 50. Und wenn das nur bei den Männern vorhanden ist, dann werden Studierende häufiger, zum Beispiel als Prüfungsthema, wenn sie wählen können, einen Autor wählen, weil sie da einfach schon dieses Handbuch haben, weil da schon die Forschung serviert wird, das ist dann einfach einfacher. Und so gibt es eine Spirale, die sich selbst sozusagen fortpflanzt."
Kanon der Defizite versus #breiter Kanon
In Baden-Württemberg etwa ist 2021/22 unter den verpflichtenden Lektüren im Leistungsfach Deutsch kein einziges Werk von einer Frau. Goethe, Hesse, Hoffmann und Treichel liefern den Stoff für die Abiturprüfung. Im Basisfach Deutsch steht immerhin ein Hörspiel von Ingeborg Bachmann zur Auswahl. In den anderen Bundesländen sieht es kaum anders aus: viele männliche Klassiker, wenig Zeitgenössisches. Die Perspektiven von Autorinnen, ihre Themen, ihre mögliche Vorbildfunktion – sind so gut wie kein Thema!
Doch es ist einiges in Bewegung: Martina Wernli hat die digitale Plattform #breiter Kanon initiiert. Darin werden die aktuellen Kanon-Diskussionen in den Sozialen Medien gebündelt – und Fragen aufgeworfen – über das Thema Mann-Frau hinaus: "Wer kriegt eine Stimme, wer wird gelesen? Und eben dann Gender, Race, Class -, das sind dann unterschiedliche Komponenten und teilweise eben Mehrfach-Marginalisierungen, die da zum Thema kommen. Und das sind Leute aus der Uni, einige aus dem Journalismus auch, oder Autorinnen, Übersetzerinnen."
Es geht sozusagen um eine literarische Horizonterweiterung. Auch die Jurys bei Literaturpreisen sind inzwischen öfter paritätisch besetzt – teilweise sogar mit mehr Frauen als Männern. Bettina Fischer, Leiterin des Kölner Literaturhauses ist eine von fünf Frauen der diesjährigen Jury des Deutschen Buchpreises, der noch zwei Männer angehören. "Am Ende haben wir jetzt eine Shortlist von sechs großartigen Büchern. Das muss ich wirklich sagen. allesamt großartige, lesenswerte Bücher. Durch Zufall sind drei Männer und drei Frauen jetzt dabei."
Preisträgerin ist in diesem Jahr: Antje Ravic Strubel mit "Die Blaue Frau" - nach Anne Webers "Annette. Ein Heldinnenepos" 2020.
Literarische Vielfalt - ein Gewinn für alle
Es gibt viele Ansätze, die Vielfältigkeit von Literatur sichtbarer zu machen: durch eine andere Besetzung von Verlagsspitzen, durch eine breite Bloggerszene jenseits des klassischen Feuilletons, durch Literaturstipendien, die auch mit Familienarbeit vereinbar sind. Durch Forschungen, die strukturelle Ungleichheiten analysieren und sich für einen breiteren Literaturkanon engagieren.
Nina George, Vorsitzende des European Writers' Council, wünscht sich, dass es eines Tages normal ist, dass Frauen den Literaturnobelpreis erhalten und sie deshalb nicht angefragt wird, was denn sie als Frau dazu sagt.
"Das Erstaunliche ist, wenn man erst mal davon wegkommt, dass irgendjemandem etwas weggenommen wird, wenn Frauen und ihre Leistung anerkannt werden, kommt man dahin zu begreifen, was für einen Gewinn es darstellt, wenn man Frauen insgesamt mehr veröffentlicht, mehr bespricht, mehr zitiert, mehr auf die ganzen öffentlichen Bühnen holt. Denn die Hälfte der Menschheit quasi bringt noch mal eine andere Sicht und Perspektiven mit."