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Literaturfestival Berlin
Flüchtlinge beschreiben ihre Erlebnisse

Gestern startete das 15. Internationale Literaturfestival Berlin. Zum Auftakt dieser zehntägigen Veranstaltung wurden an verschiedenen Orten den ganzen Tag Texte über Flüchtlinge und deren Situation vorgelesen, aber auch die Geflüchteten selbst kamen zu Wort und erzählten von ihren Schicksalen.

Von Kemal Hür | 10.09.2015
    Ein überfülltes Flüchtlingsboot vor der italienischen Küste
    Ein überfülltes Flüchtlingsboot vor der italienischen Küste (picture alliance / dpa / ANSA / Italian Coast Guard)
    "Ich heiße Mohammad Al-Hashish. Ich komme aus Syrien. Ich bin Arzt von Beruf, Neurologe. "
    Der Mann mit den kurzen Haaren trägt ein schwarzes Hemd und Jeans. Mit seiner jungen Erscheinung könnte man ihn hier im Foyer der Universitätsbibliothek für einen Studenten halten. Der 28-jährige Mohammad Al-Hashish ist aber ein Neurologe, der aus Syrien geflüchtet ist. Auf einer kleinen Bühne erzählt der Arzt, wie er täglich Kriegsverletzte zu behandeln hatte. Nach Schwierigkeiten mit Militärs und Rebellen flüchtete er über Jordanien, die Türkei und Griechenland nach Deutschland. Über seine Flucht hat er einen Text geschrieben, den er vor etwa 30 Zuhörern vorliest. Von der Türkei nach Griechenland fuhr er in einem Boot.
    "Das Boot war etwa neun Quadratmeter groß mit ungefähr 50 Leuten drauf. Nach einer Woche auf der Insel Kos bin ich nach Athen gefahren. Ich bin in Athen ungefähr einen Monat geblieben. Da bekam ich einen gefälschten Reisepass für Deutschland. Das kostet 7000 Euro. Dann bin ich nach Deutschland geflogen."
    Mohammad Al-hashish ist einer von zehn Flüchtlingen, die in der gemeinsamen Bibliothek der Technischen Universität und der Universität der Künste ihre Schicksale erzählen.
    Reale und fiktive Geschichten über die Flucht
    Neben den realen Geschichten lesen Autoren und Laien fiktive Erzählungen und Texte über Flüchtlinge vor. Die Bühne steht zwischen dem Eingang und dem Durchgang zur Cafeteria. Studenten bleiben stehen, hören eine Weile zu und gehen weiter. Die Moderatorin bittet Frank Schliedermann auf die Bühne.
    "Er hat am Schreibwettbewerb des Buchjournals teilgenommen und hat mit seinem Text "Idrissou" es tatsächlich unter die ersten 20 geschafft. Und wir freuen uns, dass er uns diesen Text heute hier präsentieren wird."
    "Go, go, go, brüllen die Männer in Uniform. Da ist das Boot. Idrissou kann sein Glück kaum fassen. Da ist tatsächlich ein Boot, wie die Männer gesagt haben. Idrissou hat nicht mehr daran geglaubt. Vier Monate ist er unterwegs. Immer haben sie gesagt, es kommt ein Boot. Und jetzt ist es da. Aber ist es nicht viel zu klein? Es hat bereits Schlagseite. Idrissou dreht sich um. All die Menschen, die hinter ihm sind, all die verschwitzten Gesichter. Sie scheinen genauso enttäuscht wie er."
    Frank Schliedermann erzählt eine Geschichte, die auch die des jungen Arztes Mohammad Al-hashish sein könnte. Der Autor hat sich tatsächlich von einer realen Fluchtgeschichte inspirieren lassen.
    "Ich hatte im Vorfeld einen Zeitungsbericht über eine Flucht gelesen. Dass man in den Nachrichten und in anderen Presseberichten immer liest, dass ein Boot führerlos vier Tage über das Mittelmeer getrieben ist. Aber was da eigentlich passiert, vier Tage lang auf dem Boot, das fand ich total ergreifend. Und das habe ich versucht, in so einem fiktionalen Text zu bearbeiten."
    Hilfe für die Flüchtlinge
    Während ein afghanischer Journalist und Dichter auf der Bühne von seiner Flucht erzählt, bespricht der Neurologe Mohammad Al-Hashish bereits seinen Auftritt mit seiner Betreuerin Sabine Waldner. Waldner arbeitet bei den Vereinen "Willkommen in Falkensee" und "Über den Tellerrand kochen". Al-hashish lebt in Falkensee bei Berlin in einem Flüchtlingsheim und teilt sich dort ein Zimmer mit drei anderen. Er kam vor fünf Monaten nach Deutschland, sein Asylantrag wurde bereits anerkannt. Nun versucht er, schnell Deutsch zu lernen, damit er hier als Arzt arbeiten kann. Dabei helfen ihm Sabine Waldner und viele andere, sagt er.
    "Die Deutschen sind sehr nett und sehr süß. Hier habe ich viele Freunde, wie Sabine und ihre Familie. Sie helfen mir viel. Jetzt ist die Situation sehr gut."
    Sabine Waldner lächelt. Die euphorische Begrüßung der Flüchtlinge an den Bahnhöfen kann täuschen, meint sie.
    "Die Aufnahmelager sind ja katastrophal – in München genauso wie sonst wo, in Berlin. Es ist ja nicht überall Jubel. Ich denke, es gibt auch eine breite Unterstützung der deutschen Bevölkerung. Und das ist ja auch einfach toll. Es ist nicht so viel Ablehnung. Nur die Ablehnung ist, wenn sie da ist, sehr massiv."
    Im Foyer der Universitätsbibliothek erleben die Flüchtlinge und die anderen Lesenden viel Interesse und Anteilnahme. Eine junge Griechin, die sich auf ihr Studium vorbereitet, bleibt mehrere Stunden und hört den Geschichten zu.
    - "Ich finde es ganz interessant. Und ich finde es gut, dass so etwas organisiert ist. Die Geschichten haben etwas Ähnliches, also diese Schmerzen, die die Flüchtlinge fühlen, das habe ich mehrmals gehört."
    - "Es war sehr bewegend, weil man bekommt ja vielleicht ein verzerrtes Bild aus den Medien mit. Ich selber habe jetzt noch keinen Flüchtling live gesehen oder gehört. Es war schlimmer, als es die Medien vielleicht rüber bringen. So hätte ich mir das gar nicht vorgestellt, dass es so tragisch ist."