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Literaturpreis-Saison in Frankreich
Das Pariser Literaturpreiskarussell

Beim "literarischen Sommerferien-Ende" in Frankreich geht es ein bisschen zu wie bei der Fortpflanzung: Hunderte Bücher werden auf den Markt geschmissen, aber nur Einzelne kommen durch. Über das alljährliche Pariser Literaturpreis-Karussell.

Von Christoph Vormweg | 29.08.2017
    Der französische Präsident Francois Hollande mit dem Verleger Antoine Gallimard auf der Pariser Buchmesse im März 2017.
    Enge Verbandelung hat im zentralistischen Frankreich Tradition: Verleger Antoine Gallimard mit dem damaligen französischen Präsidenten François Hollande auf der Pariser Buchmesse im März. (picture alliance / dpa / Zihnioglu Kamil)
    Frankreich – die "literarische Nation": 2.000 Auszeichnungen warten jedes Jahr auf die Schriftsteller, 500 mehr als in Deutschland. Die großen Literaturpreise gleichen Lottogewinnen, sagt die Buchforscherin Sylvie Ducas, Autorin einer sehr kritischen Geschichte der französischen Literaturpreise:
    "Ein Roman, der den Goncourt-Preis gewinnt und sehr gut läuft, kommt auf eine Million Exemplare, ein mittlerer auf vier- bis fünfhunderttausend – und zwar nur im Ladenverkauf. Dazu kommen die Übersetzungen, im Schnitt 25 bis 30, der Verkauf als Taschenbuch und E-Book, die Buchclubs. Ein Prix Medicis oder Renaudot kommt auf 50.000 bis 150.000, was schon enorm ist."
    600 Bücher drängen auf den Markt - wenige bleiben übrig
    Da lohnt es mitzuspielen, aufs Ganze zu gehen. Jedes Jahr nach den Schulferien lancieren die französischen Verleger zur so genannten "rentrée littéraire" sage und schreibe 600 Romane. Ducas:
    "Diese Rentrée hat vor allem das Ziel, die Literaturpreise zum Jahresende vorzubereiten. Wenn sie dann vergeben sind, redet man aber nur noch über die fünf, sechs Bücher, die einen wichtigen Preis bekommen haben. Aber es ist auch ein jährliches und sehr französisches Literatur-Rendez-vous: in einem Land, das sich gerne literarisch gibt. Das hat auch sein Gutes. Denn es gibt uns die Gelegenheit, die Literatur einmal im Jahr zum Medien-Ereignis zu machen."
    "Die Korruption ist kompliziert. Es ist keine richtige Bestechung"
    Für die Favoriten wird der Spätsommer zum Schaulaufen: zahllose Auftritte in Buchhandlungen, Interviews in Radio und Fernsehen. Eine Long- und eine Shortlist heizen die fiebrige Jagd nach den Literaturpreisen an. Beim Goncourt sind es sogar drei Listen. Anders als beim Deutschen Buchpreis sitzen beim wichtigsten französischen Literaturpreis allerdings nur Schriftsteller in der Jury. Das hat immer wieder Polemiken provoziert, erklärt Sylvie Ducas:
    "Die Korruption ist kompliziert. Es ist keine richtige Bestechung. Da wird kein Geld unter dem Tisch weitergereicht. Aber man erleichtert Neuauflagen von Juroren. Man zahlt Vorschüsse für Bücher, die nie erscheinen. So läuft das. Ich zitiere gern den Begriff von Michel Tournier, der lange Mitglied der Académie Goncourt war und von "corruption sentimentale" sprach, von gefühlsmäßiger Korruption. Denn in Frankreich ist alles extrem verbandelt, sind diese literarischen Netzwerke gang und gäbe. Man ist gleichzeitig Schriftsteller, Literaturkritiker, oft auch Herausgeber einer Buchreihe – das ist eine kleine Welt!"
    Dominiert von Männerjurys und drei Spitzenverlagen
    Zwei Preis-Jurys bestehen nur aus Frauen: die Jury für den "Prix Femina" und die für den Preis der Frauenzeitschrift "Elle". Ansonsten sind rund 90 Prozent der Jury-Mitglieder Männer – was in der Geschichte des Goncourt-Preises dazu geführt hat, dass seit der Gründung im Jahr 1903 erst zwölf Autorinnen ausgewählt wurden. Auch dominieren drei Verlage die Siegerstatistik: Gallimard, Grasset und Le Seuil – ironisch auch "Galligrasseuil" genannt. Über Jahre räumten sie im Schnitt zwei Drittel der einflussreichsten Preise ab. Mittlerweile geht es bei der Vergabe aber deutlich ausgeglichener zu. So schnitt "Actes Sud", der letzte große Verlag, der noch nicht in einen Konzern oder eine Verlagsgruppe integriert worden ist, immer besser ab. Skandalöser, so Sylvie Ducas, ist das Schicksal der Verlierer:
    "550 Romane werden innerhalb von drei Monaten eingestampft. Sie verschwinden völlig aus dem Verkehr. Das ist Verschwendung."
    Die kleineren Literaturpreise folgen ab Januar
    Und die Verlierer fluchen. Jahr für Jahr. Denn sie hätten sich auch für die "rentrée de janvier" nach den Weihnachtsferien entscheiden können. Auch da gibt es viele, wenn auch weniger bedeutende Auszeichnungen zu gewinnen. Doch nicht nur die Literaturpreise und die Buchhändler beeinflussen heute die Kaufentscheidungen der Leser, sondern immer öfter auch Internet-Blogs wie "babelio". Sylvie Ducas:
    "Die Internet-Blogs werden meiner Meinung nach zu einer Konkurrenz für die Literaturpreise. Dort geben Frauen den Ton an. 80 Prozent sind Bloggerinnen. Die Leser sind vor allem Leserinnen, denn die meisten Bücher kaufen Frauen. Auch gibt es genauso viele Schriftstellerinnen wie Schriftsteller. Aber es gelingt ihnen eben nicht, sich bei den Preisentscheidungen durchzusetzen. Da herrscht große Ungerechtigkeit."
    Mehr zur Geschichte der Literaturpreise in Frankreich
    Sylvie Ducas: "La Littérature à quel(s) prix? Histoire des prix littéraires"
    La découverte, Paris 2013. 240 Seiten. 22 Euro