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Lochbihler: Deutschland muss Flüchtlinge aufnehmen

Die Situation abertausender Flüchtlinge im Grenzland zwischen Tunesien und Libyen bleibt trotz finanzieller EU-Hilfen desolat. Viele könnten nicht in ihre Heimat zurück, sagt Barbara Lochbihler - und fordert deren Aufnahme.

29.04.2011
    Jasper Barenberg: Mit Mohamed Bouazizi fing alles an – aus Verzweiflung hat sich der arbeitslose Abiturient im vergangenen Dezember selbst verbrannt, und damit begann der Umsturz in Tunesien, es war zugleich der Startschuss für die Freiheitsbewegung in der gesamten arabischen Welt. In Ägypten, im Jemen, in Libyen. Drei Monate sind inzwischen vergangen, seit Tunesiens Diktator Ben Ali aus seinem Land floh. Wohin steuert das Land nach dem Regimewechsel, mit welchen Problemen hat die Übergangsregierung zu kämpfen? Auf der Suche nach Antworten ist die EU-Parlamentarierin Barbara Lochbihler von den Grünen nach Tunis gereist – heute Morgen erreichen wir sie auf halbem Weg an die Grenze zu Libyen. Einen schönen guten Morgen, Frau Lochbihler!

    Barbara Lochbihler: Guten Morgen!

    Barenberg: Frau Lochbihler, viele Flüchtlinge aus Libyen harren weiter entlang der tunesischen Grenze aus, welchen Eindruck von der Situation dieser Menschen haben Sie bisher gewinnen können?

    Lochbihler: Zunächst mal eine große Gastfreundschaft auf tunesischer Seite. Bevor die Hilfsorganisationen hier angekommen sind, haben auch die Familien Leute aufgenommen, aber das sind an die 200.000 Flüchtlinge, teilweise auch Leute, die verletzt sind durch Kämpfe, da haben wir gestern im Gesundheitsministerium, dass auch hier geholfen wird. Je länger der Zustand andauert – und davon muss man ja auch ausgehen –, umso schwieriger wird es. Es wird nicht ausreichen, dass man auf tunesische Gastfreundschaft und Hilfe setzt, die EU und auch Deutschland haben finanziell unterstützt, jetzt auch am Montag noch mal 500.000 Euro von Deutschland an das Hochkommissariat für Flüchtlinge gezahlt worden. Aber es muss unbedingt auch mehr evakuiert werden in die Herkunftsländer, und wenn das nicht geht, dann auch in die EU.

    Barenberg: Das heißt, aus Ihrer Sicht reicht die Unterstützung, die es bisher gegeben hat seitens der Europäischen Union, reicht die Unterstützung durch Deutschland auch bisher nicht aus?

    Lochbihler: Finanziell war die schon substanziell, das darf nicht nachlassen, aber man muss auch Personen aufnehmen. Es gibt zum Beispiel acht bis 11.000 Personen, die aus Somalia, Eritrea stammen, deren Länder wollen die nicht zurück. Sie kümmern sich nicht, sie haben teilweise auch dort kriegsähnliche Zustände. Da hat seit Januar das Hochkommissariat für Flüchtlinge sich an die Mitgliedstaaten gewandt, diese Leute aufzunehmen aus humanitären Gründen, sogenannte Resettlement-Programme, und kein Staat hat reagiert. Und das ist wirklich sehr schade und zu kritisieren auch, weil die EU ja sagt, sie ist den Menschenrechten verpflichtet, dem Flüchtlingsschutz, und ist hier so kleinlich.

    Barenberg: Deutschland sagt, die Bundesregierung sagt, dass die Menschen in erster Linie dort vor Ort bleiben sollen, weil sie dort gebraucht würden?

    Lochbihler: Da bezieht sich die Regierung wahrscheinlich auf tunesische Flüchtlinge, die nach Lampedusa kommen. Aber ich hab ja jetzt geredet von Menschen, die aus Libyen, die dort Migranten waren, nach Tunesien gekommen sind.

    Barenberg: Und da denken Sie, muss die Bundesregierung aber auch mehr tun, als sie bisher getan hat, beispielsweise um sie zu evakuieren?

    Lochbihler: Ja, da muss sie mehr tun und auch aufnehmen. Und wenn wir jetzt die Situation in Libyen anschauen, kann man ja nicht hoffen, dass das innerhalb von wenigen Tagen aufhört. Man muss sich also einstellen, dass vielleicht noch mehr Flüchtlinge kommen. Es wurde gestern uns gesagt, dass an die 3000 Personen kamen, und dann ist die Lage hier noch komplizierter, als es schon ist.

    Barenberg: Lassen Sie uns über die politische Situation Tunesiens sprechen. Der Übergangspremier Essebsi beschreibt sie so: Die Revolution ist nicht die Demokratie, sondern nur die Pforte. Tunesien also an der Pforte zur Demokratie – teilen Sie diese Zuversicht?

    Lochbihler: Erst mal haben wir hier sehr viele Tunesier und Tunesierinnen getroffen, die gesagt haben, dass diese Revolution der Würde, wie sie sich bezeichnen, ihnen so viel Mut gegeben hat, etwas Neues zu wagen. Es gibt hier sehr viele Parteien, die sich gegründet haben, wahrscheinlich wird ein Teil davon wieder gar nicht arbeiten können, weil sie sehr klein sind – es ist eine sehr breite Parteiagenda hier –, und sie haben jetzt beschlossen in dem Wahlvorbereitungskomitee, dass sie eine Gendergleichstellung haben, 50 Prozent auf den Wahllisten, das ist also sehr gut. Das Zweite Problem wird sein, dass der wirtschaftliche Aufbau länger braucht, als sie sich wünschen. Ich bin ja jetzt hier kurz an der libyschen Grenze, auch ein Gebiet, wo es früher sehr viel Tourismus gab, hier ist Hoffnung, dass Touristen wieder herkommen, um eben Einnahmen zu haben. Aber sie haben die Situation, dass dieses Jahr von den Hochschul- und Universitätsabgängern so an die 50.000 nur 15.000 eine Arbeit bekommen. Und das war ein zentrales Motiv ja der Unruhen, dass man Arbeit schafft. Und das ist eine große Herausforderung.

    Barenberg: Frau Lochbihler, Agenturen melden heute Morgen wieder heftige Gefechte entlang der Grenze zwischen Gaddafis Truppen und Aufständischen. Welche Sorgen müssen wir uns machen über die Sicherheitslage, unter diesem Aspekt und unter anderen vielleicht im Land?

    Lochbihler: Das, was uns von tunesischer Seite, aber hier auch vom deutschen Botschafter gesagt wurde, ist die Situation in diesen touristischen Gebieten sicher. Wir werden ja heute vor Ort an der Grenze sein, es ist vor allem schwierig für die Flüchtlinge dort, aber nicht für die Tunesier. Es gibt auch keine Wanderung, dass die von dort weggehen, und es ist eher gefährlicher, was uns gesagt wurde, an der tunesisch-algerischen Grenze, da gibt es immer einzelne Kämpfe.

    Barenberg: Es gibt Sorgen, wie sich die wirtschaftliche Zukunft des Landes also entwickeln wird. Haben Sie den Eindruck, dass die Europäische Union genug tut, um nachhaltig dort zu helfen, das Land zu unterstützen?

    Lochbihler: Nachdem man jetzt jahrelang Ben Ali auch unterstützt hat, ist man doch erschrocken, was man alles nicht richtig gemacht hat. Und es gibt schon große Überlegungen, einen eigenen Pakt für Partnerschaft und gemeinsamen Wohlstand, der auch vorsieht, dass man die Handelsbeziehungen sich überlegt, wie sieht es aus mit der Zulassung von Agrarprodukten in die EU. Aber es gibt auch den Vorschlag einer Mobilitätspartnerschaft, die noch nicht so konkret ist. Da wird überlegt, welche Form von Visa-Liberalität brauchen wir, Studentenaustausch, aber auch die Möglichkeit, für Lernberufe Arbeitsmigration in die EU zu schaffen. Hier sehe ich ganz deutlich, dass die Mitgliedstaaten das eigentlich nicht wollen, das zurückweisen. Und wann immer Migration draufsteht bei der EU, handelt es sich eigentlich um die Bekämpfung illegalisierter und irregulärer Migration. Hier muss man viel schneller und konsequenter handeln. Ich fand jetzt in Gesprächen, zum Beispiel beim Gesundheitsministerium, sehr interessant, dass sie teilweise Berufe ausbilden in der Pflege, die Dienstleistungen erbringen sollen auch als Exportleistung in anderen Ländern. Wenn Sie die Demografieentwicklung anschauen und auch die Forderung der Wirtschaft innerhalb der EU, die mehr Arbeitskräfte, die eine gute Grundausbildung haben, wie sie sie hier in Tunesien ja auch bekommen, dann finde ich, muss man hier was dazutun, dass von beiden Seiten Arbeit geschaffen wird in Tunesien, aber auch temporär die Möglichkeiten in der EU, dass man hier zu einer Regelung kommen muss.

    Barenberg: Barbara Lochbihler, die Europaparlamentarierin von Bündnis 90/Die Grünen. Wir erreichen sie heute Morgen in Tunesien. Frau Lochbihler, danke für das Gespräch!

    Lochbihler: Ich danke Ihnen!

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