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Lockdown in Großbritannien
Nerven liegen blank

In der Corona-Pandemie fährt sich Europa weiter runter. Jetzt gelten auch in Großbritannien neue Corona-Regeln. Sie sind härter als in Deutschland, denn auch viele Geschäfte müssen schließen. In der Bevölkerung empfinden viele das als Desaster, Premierminister Johnson steht in der Kritik.

Von Christine Heuer | 05.11.2020
Kulturschaffende und Schauspieler demonstrieren für die Rettung der Theater in Londons West End.
Kulturschaffende demonstrierten noch Ende September für die Rettung der Theater in Londons West End (imago images / Landmark Media)
Vier Tage hatten die Briten von der Ankündigung bis zum Lockdown. Sie haben sie genutzt, um vieles noch einmal zu tun. Noch einmal im Restaurant essen. Noch einmal die Haare schneiden lassen. Noch einmal ins Theater gehen.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
In einem kleinen Theaterhaus in Windsor vor den Toren Londons hatten sie gerade erst wieder eröffnet. Und schon läuft die letzte Vorstellung. Nur jeder zweite Platz darf besetzt werden. Aber das Publikum geht mit. Jeder hier weiß, dass es das letzte Mal für lange Zeit ist. Vier Wochen, wie angekündigt, oder länger?
Eine Besucherin um die 60 rechnet mit einem Lockdown bis Februar oder März. Dabei liegen ihre Nerven vom ersten Mal noch blank. Sie glaubt nicht mehr, dass man das Virus in den Griff kriege. Beim Gedanken an die Toten hat sie Tränen in den Augen. Aber sie ist so weit, lieber auf Herdenimmunität zu setzen. Dann erzählt sie von den Theatern, die nicht mehr geöffnet haben nach dem Frühjahrs-Lockdown. Vom Sterben des Westend, das mit seinen großen Bühnen Millionen Touristen angelockt hat. Die Wirtschaft werde sich nicht mehr erholen.
Kosmetiksalon: viel Kundschaft vor Lockdown
Im Londoner Stadtteil Notting Hill betreibt Cindy Lin einen Kosmetiksalon. Sein ruhiges, helles Entrée duftet dezent nach Blüten. Pediküre, Maniküre, Gesichtsbehandlungen: Darum kümmern sich bei Cindy Lin 40 Mitarbeiter. Die Chefin zeigt ihren Terminkalender vor. Seit Boris Johnson den neuen Lockdown angekündigt hat, wurde er voller und voller. Die lange Warteliste wird sie nicht abarbeiten können. Dabei bräuchte sie die Einnahmen dringend, um Schulden aus dem ersten Lockdown abzubezahlen.
Einen Anspruch auf Corona-Hilfen hat Cindy Lins Betrieb nicht. In den nächsten Wochen wird sie ihren Kunden Pflegeprodukte mit der Post schicken. Aber fürs Überleben reicht das nicht aus. Ihre Situation sei niederschmetternd, sagt sie ganz ruhig. Und dass sie nicht weiß, ob sie nach der Schließung wieder aufmachen kann. Nach 25 Jahren an diesem Ort. Was würde Cindy Lin Boris Johnson sagen, wenn sie könnte? Ihre Antwort:
"Kein gutes Premierminister-Material. Ein totales Desaster. Alle haben das Vertrauen in Johnson und seine Regierung verloren."
Unverständnis bei Restaurantsbesitzer
Der zweite Lockdown trifft nicht alle gleich hart. Die Buchhandlung gegenüber von Cindy Lins Salon muss sich wenig Sorgen machen. Sie gehört zu einer großen Kette. Außerdem darf sie Bestellungen aufnehmen, die die Kunden an der Ladentür abholen. Cafés und Imbisse bieten Take-Aways und Lieferungen an. Andere haben es schwerer. Obwohl gerade sie viel in Sicherheitsmaßnahmen investiert haben.
In Marcos italienischem Restaurant gegenüber vom Hyde Park trennen Plexiglasscheiben die wenigen Tische voneinander ab. So ganz versteht Marco nicht, warum er nun trotzdem komplett schließen muss:
"Orte wie dieser sind doch ziemlich sicher. Sie müssten eine andere Umgebung kontrollieren: Feiern zu Hause oder Studenten, die jungen Leute. Aber kleine Orte wie der hier, wo wir die Richtlinien befolgen – ich sehe da keine große Gefahr."
Lebensmittelgeschäfte dürfen offen bleiben
Die Regierung macht aber keine Ausnahmen von der Regel. Alles muss schließen, was nicht Lebensmittel oder medizinische Hilfe anbietet. Auch die Friseure, von denen bekannt ist, dass sich kaum jemand bei ihnen ansteckt. Die Kunden haben ihnen bis spät gestern Abend die Bude eingerannt. Ab jetzt herrscht vier Wochen Ruhe. Oder sechs oder acht. Oder noch länger. Wer kann da schon sicher sein? – Was Marco, der italienische Restaurant-Chef, Boris Johnson sagen würde? "Open us up - quick!" Schnell wieder öffnen.