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Lohnerhöhungen zwischen 2 und 3 Prozent erreichbar

Ensminger: Die regionalen Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie verliefen bislang ergebnislos. Die Arbeitgeber boten Lohnerhöhungen von jeweils 2 Prozent für die Jahre 2002 und 2003 an; die IG-Metall fordert dagegen 6,5 Prozent bei einer Laufzeit von 12 Monaten. Gestern waren die Mitarbeiter verschiedener Betriebe in mehreren Bundesländern in Warnstreik getreten. In der kommenden Woche soll parallel zum Beginn der nächsten Tarifrunden eine bundesweite Warnstreikwelle anlaufen, und für heute sind verschiedene Aktionen in Hessen und Rheinland-Pfalz angekündigt. Bei uns im Studio ist der ehemalige Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Dieter Kirchner. Die Gewerkschaften sagen, die Produktivitätssteigerung in der Metallindustrie sei ja nun beachtlich. Warum gibt man denn den Arbeitsnehmern nicht ein bisschen mehr davon ab?

    Kirchner: Ich finde, das Angebot von 2 Prozent plus 2 Prozent ist zunächst einmal Ausdruck, dass die Arbeitgeber eine vernünftige rasche Lösung wollen, und vielmehr ist ja auch nicht drin, das bestreitet auch niemand ernsthaft. Dass jetzt die Gewerkschaft diese Eskalation betreibt, entspricht dem üblichen Ritual, das habe ich immer erlebt in all meinen 30 Jahren Tarifpolitik, da hat sich leider überhaupt nichts geändert, und das ist das Befremdliche daran, dass sich in der Gesellschaft, in der Wirtschaft alles permanent ändern muss und ändert, aber dass sich bei der IG-Metall an diesem Ritual, an diesem Ablauf fast überhaupt nichts ändert, und das erschreckt mich eigentlich etwas.

    Ensminger: Nun sagen die Gewerkschaften, sie haben jahrelang immer wieder Zugeständnisse gemacht, und jetzt seien sie mal an der Reihe. Können Sie das nicht nachvollziehen?

    Kirchner: Doch. Ich kann nachvollziehen, dass die Arbeitnehmer eine angemessene, richtige Lohnerhöhung bekommen sollen - das bestreitet auch niemand, die Arbeitgeber haben es auch direkt angeboten, das wird auch sicherlich nicht das letzte Wort gewesen sein -, aber es bedarf nicht dieses Drucks, man kann ja auch ohne dieses Kriegsgeschrei und dieses übliche Gedränge und Gepresse zu einem Ergebnis kommen. Ich habe eigentlich die große Sorge, dass sich hier zwei Dinge fundamental verändert haben gegenüber der letzten Tarifrunde 1995, die ich mitgestaltet habe. Einmal haben die Arbeitgeber von Anfang an auf eine Aussperrung verzichtet. Sie haben erklärt, sie wollten nicht aussperren. Wir haben 1995 noch eine Abwehraussperrung in Bayern beschlossen. Und das Zweite, was viel gravierender ist, mittlerweile haben die Arbeitgeber Möglichkeiten geschaffen, dass man den tarifschließenden Verband kurzfristig verlassen kann. Wenn einem der Abschluss nicht passt, tritt man als Firma aus. Das gab es zu meiner Zeit nicht. Und diese Fluchtmöglichkeit demontiert den Flächentarifvertrag. Insofern verschafft die IG-Metall dem Flächentarifvertrag eine Reform, aber eine Reform durch Abschaffung.

    Ensminger: Nun hat der bayrische IG-Metall-Verhandlungsführer, Meine, im Gegensatz zu dem, was Sie eben sagten, erklärt, in der Metallindustrie fielen die Abschlüsse eben wirklich nur in Drucksituationen. Und wenn man mal ganz ehrlich ist, die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Gewerkschaften auch immer hoch pokern mussten.

    Kirchner: Es ist richtig, dass die Struktur unseres Verbandes Gesamtmetall und seiner Mitgliedsverbände, die durch viele Mittelständler geprägt ist, es nicht einfach macht, Lösungen am Verhandlungstisch relativ kurzfristig zu erreichen. Dennoch meine ich beobachtet zu haben, dass die Arbeitgeberseite sich gerade in den letzten Jahren immer mehr verhandlungs- und lösungsbereit gezeigt hat. Sie will Konflikte vermeiden.

    Ensminger: Das sieht die Gewerkschaft natürlich anders.

    Kirchner: Also, wir haben 1995 überhaupt kein Angebot gemacht. Dasselbe Ritual lief ab. Dieses Jahr macht man Angebote. Es ändert sich äußerlich rein gar nichts. Von daher braucht die Gewerkschaft diese Droh- und Druckkulisse, allerdings mit dem fatalen Ergebnis, dass sie am Ende eine aufgeheizte Stimmung hat, aus der sie selbst heraus keine vernünftige Lösung mehr findet. Ich habe X-Mal erlebt, dass zum Schluss die Funktionäre sagten, es tut uns wirklich Leid, wir würden gerne auch zu einem realistischen Ergebnis kommen, aber nun ist die Stimmung so hochgekocht, jetzt können wir es unseren Mitgliedern nicht mehr zumuten. Das betreibt sie jetzt. Und wenn am Ende ein fatales, für die Wirtschaft, für die Arbeitslosen und für das Schicksal vieler Betriebe verhängnisvolles Ergebnis dasteht, dann wird das jetzt begründet, indem man so die Stimmung aufputscht.

    Ensminger: Jetzt sind Sie ja in der bequemen Situation - das haben Sie auch gesagt -, dass Sie an den Verhandlungen nicht mehr direkt beteiligt sind. Wenn Sie das Ganze jetzt mal betrachten, zweimal 2 Prozent Lohnsteigerung, die Forderung von 6,5 Prozent auf der anderen Seite. Was glauben Sie denn, was bei dem Poker tatsächlich am Ende rauskommt?

    Kirchner: Man soll sich ja an diesen Zahlenspielen nicht beteiligen. Ich habe es immer wieder erlebt, die Zahlen haben eine eigene Mystifikation und eine Sogwirkung. Die Arbeitgeber bieten 2 Prozent an. Ich habe mir vorgestellt, dass man auch mit diesen 2,X auskomme, jetzt - fürchte ich - wird man an die 3 herankommen können, aber das ist es dann auch. Dann ist eigentlich die Sache in sich erschöpft, denn ich glaube, dass selbst Gewerkschaftler sich mehr kaum vorstellen könnten, weil sie wissen, wie fatal, wie nachteilig das Ergebnis für die Beschäftigungswirkung ist, wie nachteilig das Ergebnis für die Tarifträger selbst ist, weil die Arbeitgeber eben durch Flucht viele Mitglieder verlieren und damit der Flächentarifvertrag ins Leere greift. Ich denke, auch ohne diese ganze Druckkulisse sei ein solches Ergebnis zwischen 2 und 3 Prozent erreichbar. Damit ist der Skat ausgereizt. Damit wäre allen gedient. Die Arbeitnehmer erwarten auch, glaube ich, ehrlicherweise gar nicht viel mehr, so dass das Szenario eigentlich nur der Kulisse entlehnt ist, dass man - und das ist das Unangenehme in diesem Jahr - einen innergewerkschaftlichen Vorwahlprozess gewissermaßen externalisiert, in diesen Tarifkonflikt hineinträgt, weil sich hier die Gruppierungen um die Nachfolge Zwickels positionieren müssen.

    Ensminger: Also ist das Ganze bei den Gewerkschaften Ihrer Meinung nach eine Taktik, die in eine ganz andere Richtung läuft?

    Kirchner: Vieles ist hier auch inszeniertes Theater - das haben wir in den letzten Tagen und Wochen mal hören und lesen müssen. Manches ist hier aber auch im Grunde genommen Ausdruck von gewerkschaftsinternen Spannungen, und da kommt so ein Tarifkonflikt natürlich gerade richtig, um nach außen zu demonstrieren, was man für eine starke Truppe ist. Dass das aber auf dem Rücken der Wirtschaft, unseres konjunkturellen Aufschwungs und der 4,3 Millionen Arbeitslosen ausgetragen wird, ist eigentlich unverantwortlich. Und wir haben ja Gewerkschaftsbeispiele, wir haben viele Mitarbeiter in anderen Branchen - ich nenne nur das Beispiel Chemie -, wo man sich vernünftig zusammenrauft, und wo auch die Arbeitnehmer zu vernünftigen Lohnfindungen kommen und nicht am Hungertuch nagen.

    Ensminger: Aber wenn Sie mal ganz ehrlich sind, Sie haben jetzt gesagt, die Gewerkschaften spielen da eine Taktik, und da geht es auch um innere Machtkämpfe, aber die Arbeitgeber spielen ja auch eine Taktik. Welche ist das?

    Kirchner: Wir haben jedes Jahr versucht, uns sozusagen eine in sich konsistente und für uns durchhaltbare Taktik zurechtzulegen. Ich muss sagen, die Unternehmerverbände sind eigentlich so wenig intern solidarisch, dass eine Taktik ganz schwer durchzuhalten ist. Das ist eigentlich eine Überlebensstrategie, die die Arbeitgeber hier fahren, und sie hält dann auch zusammen. Das ist auch letztlich der Kitt, der ein solches heterogenes Gefüge wie einen Arbeitgeberverband dieser Prägung zusammenhält, so dass man da nicht viel taktieren kann. Mich verblüfft, dass man sich schon so früh wehrlos erklärt hat, indem man keine Abwehrchance gegen eine solch militant auftretende Gewerkschaft sieht, und das ist eine der Erkenntnisse, die ich gewonnen habe: ohne eine harte Abwehr und Gegenwehr lässt sich eine Gewerkschaft nicht in die Schranken weisen. Das wird auch jede neue Bundesregierung erleben, denn auch eine Regierung, wenn sie sich nicht mit der Gewerkschaft im Interesse von neuen Reformen auch einmal überwirft, wird es nicht schaffen, den heutigen strukturkonservativen Block der Gewerkschaften zu einer fortschrittlichen Politik zu ermuntern und zu bewegen.

    Ensminger: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio