Spengler: Diese Bündnisse sollen für Familienfreundlichkeit sorgen. Das klingt jetzt ein bisschen abstrakt. Können Sie mal Beispiele nennen, was die konkret machen.
Schmidt: Wir zeichnen jetzt ein Bündnis des Monats aus. Das wird jeden Monat gemacht werden. Im März war es die Stadt Hanau. Dort haben sich die kommunale Wirtschaft, die Kommunalverantwortlichen und alle anderen, die Elternorganisationen, zusammengesetzt und haben gesagt, "Wo ist ein großes Defizit". Es hat sich herausgestellt: Das Defizit besteht unter anderem auch darin, dass die Eltern Zeit gestohlen bekommen und zwar dadurch, dass die Betriebszeiten der Betriebe mit den Öffnungszeiten der Betreuungseinrichtungen und den Verkehrszeiten des öffentlichen Personennahverkehrs nicht abgestimmt sind. Das hat man jetzt getan. Es sehen also Mütter oder Väter, die ihre Kinder von der Kindertagesstätte abholen wollen nicht mehr die Schlusslichter des Busses, kommen nicht mehr abgehetzt in den Kindergarten, müssen sich nicht vor einer vorwurfsvollen Erzieherin oder umgekehrt vor einem vorwurfsvollen Chef im Betrieb verantworten. Dieses ist ein echter Gewinn für die Familien. Ganz praktisch, vielleicht nicht großartig, aber es geht darum, in vielen kleinen Schritten endlich dafür zu sorgen, dass Interessen von Kindern und Familien nicht mehr zu kurz kommen.
Spengler: Ja, es sind kleine, positive Schritte. Das muss man schon sagen. Was sagen denn Ihre Erkenntnisse darüber aus, warum es in Deutschland offenbar trotz Kinderwunsch nicht klapp, genügend Kinder in die Welt zu setzten?
Schmidt: Es klapp nicht erstens einmal, weil bei uns Mentalitäten vorherrschen: Es muss alles perfekt sein, bevor man sich für ein Kind entscheidet. Dann gibt es ganz objektive Gründe, nämlich dass wir nicht nur absolutes Schlusslicht in der Europäischen Union was die Geburtenrate betrifft sind, sondern wir sind auch Schlusslicht bei den Betreuungsmöglichkeiten. Wir haben heute die am besten ausgebildete Frauengeneration, die es jemals in Deutschland gegeben hat. Die Frauen haben die Männer bei den Bildungsabschlüssen in der Zwischenzeit deutlich überholt und zwar in allen Bereichen. Diese Frauengeneration möchte etwas ganz selbstverständliches, was auch Männer wollen: Sie wollen ihre berufliche Qualifikation nutzen. Aber sowohl Frauen, als auch Männer möchten Kinder haben. Wenn beides nicht unter einen Hut zu bekommen ist, dann wird dem Kinderwunsch gar nicht bewusst entsagt, sondern der wird immer weiter nach hinten geschoben, bis es dann irgendwann zu spät ist. Deshalb ist die Kinderlosigkeit nicht nur bei den Frauen, sondern auch bei den Männer ungefähr gleich hoch. Sie haben die Zahlen vorhin genannt.
Spengler: Sie haben gesagt, man müsste die Betreuung verbessern. Jetzt sollen Krippen für Kinder unter drei Jahren endlich ausgebaut werden. Nur vier bis fünf Prozent aller Kinder haben so einen Krippenplatz. Sie wollen auf 20 Prozent. Das wollten Sie ursprünglich bis 2006, wenn ich richtig informiert bin und jetzt bis 2010. Warum dauert das so lange?
Schmidt: Es ist so, dass wir nicht vier bis fünf Prozent haben, sondern wir haben die neuesten statistischen Daten des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2002. Das ist immer mit einer gewissen Verzögerung. Es wird nur alle vier Jahre erhoben. Es gibt 2,7 Prozent Krippenplätze in Westdeutschland. In Ostdeutschland gibt es noch eine gute Versorgungsquote und wir haben dann vielleicht noch Tagesmütter in einer Größenordnung ebenfalls von drei bis vier Prozent. Wir kommen also auf eine Betreuungsquote von maximal sieben Prozent in dieser Altersgruppe. Dieses ist in Anbetracht der angespannten finanziellen Situation der Kommunen und auch mit Unterstützung des Bundes nicht innerhalb von zwei Jahren hinzukriegen. Deshalb muss man da ein Stückchen mehr Zeit geben. Aber diese Zeit muss auch genutzt werden. Damit das gelingen kann, muss der Bund, auch die Kommunen so wie versprochen in der notwendigen Art und Weise entlasten. Wir wollen 1,5 Milliarden Euro den Kommunen für diese Aufgabe, die schon jetzt ihre Pflichtaufgabe wäre, zur Verfügung stellen.
Spengler: Ab 2005, das ist auch mit Hans Eichel so abgesprochen und das bleibt auch so?
Schmidt: Das ist abgesprochen mit Hans Eichel, mit dem Bundeskanzler, mit dem Wirtschaftsminister. Das ist ein gemeinsames Anliegen des gesamten Kabinetts. Der Bundeskanzler hat ausführlich in seiner Regierungserklärung von Ende März darüber geredet und hat deutlich gemacht, dass das für die Modernisierung unseres Landes und für unsere Innovationsfähigkeit genauso wichtig ist, wie Reformen in der Sozialpolitik oder in der Arbeitsmarktpolitik.
Spengler: Der spricht auch lange nicht mehr von Ihrem Ministerium als Kinder und Gedöns und so.
Schmidt: Das ist ein großer Erfolg, ja.
Spengler: Kommen wir zum Materiellen. "Es gibt viele Methoden, sich dauerhaft zu ruinieren", sagt der ehemaligen Präsident des Caritasverbandes "und eine der Erfolgversprechendsten ist die Gründung einer mehrköpfigen Familie". Das Kindergeld haben Sie angehoben. Sie wollten es aber noch weiter anheben. Davon reden Sie nicht mehr.
Schmidt: Nein, weil wir in der Zwischenzeit wissen, dass wir, was die materiellen Leistungen in Deutschland betrifft, im oberen Drittel in den OECD-Staaten liegen. Da haben wir nicht die großen Defizite. Wir wissen auch, dass die Menschen sich nicht wegen 20 oder 30 Euro Kindergeld mehr ihren Kinderwunsch erfüllen. Das ist nicht der Punkt. Wir haben im Jahr 2001 in Deutschland Bund, Länder und Kommunen gemeinsam für Familien, für Betreuung und Schule 168 Milliarden Euro ausgegeben. Wir haben 60 Prozent davon in materielle Transfers der unterschiedlichsten Art gesteckt: vom Mutterschaftsgeld bis über Erziehungsgeld, Kindergeld, bis hin zur Anerkennung von Versicherungsjahren in der Rentenversicherung. Dieses hat uns nicht so sehr viel weitergegeben. Wir haben nämlich nur 40 Prozent in Betreuung und Schule gesteckt. Wenn wir uns zum Beispiel Skandinavien, zum Beispiel Schweden anschauen, die haben Pro Kopf der Bevölkerung im selben Jahr nahe zu auf den Euro genauso so viel ausgegeben. Die haben aber 72 Prozent ausgegeben für Betreuung und Schule und nur 28 Prozent für materielle Transfers.
Spengler: Sie würden aber jetzt nicht so weit gehen, zu sagen, Kinder sind kein Armutsrisiko mehr?
Schmidt: Sie sind es deshalb, weil die Eltern gehindert daran sind, erwerbstätig zu sein. Wir geben uns der Illusion hin, dass es möglich sei, über einen langen Zeitraum ein entfallendes Einkommen nahezu vollständig zu ersetzten. Dieses geht nicht, das wird weder über das Kindergeld, noch über Steuererleichterungen, noch über sonst irgend einen Mechanismus möglich sein. Deshalb vermeidet man Armut, das sagt ja auch der letzte Armutsbericht, am besten dadurch, dass man versucht, den Eltern die Möglichkeit zu geben - was sie ja auch wünschen - erwerbstätig zu sein. 70 Prozent der Mütter in Deutschland, die zu Hause sind, wären lieber erwerbstätig.
Spengler: Warum kostet ein Kindergartenplatz so viel Geld - bei vielen geht zum Beispiel das ganze Kindergeld für den Kindergartenplatz drauf - wenn ein Studienplatz in Deutschland umsonst ist?
Schmidt: Auch da stimme ich Ihnen zu, wir geben in Deutschland das Geld verkehrt aus. Aber dieses ist nicht die Möglichkeit der Bundesregierung, das zu ändern.
Spengler: Müssten Sie da nicht immer und immer wieder drauf dringen?
Schmidt: Ich sage das immer wieder, dass wir am meisten ausgeben für die Oberstufe am Gymnasium und am wenigsten für die frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung und das vor dem Hintergrund, dass wir in der Zwischenzeit längst wissen, dass die Bildungsfähigkeit in diesem frühkindlichen Alter am höchsten ist.
Spengler: Nun haben die Verfassungsrichter die Politik schon vor Jahren aufgefordert, die Benachteiligung der Familien, die ja nachgewiesen ist, vor allen Dingen Familien mit mehreren Kindern, Benachteiligung in der Rentenversicherung, in der Pflegeversicherung, gesetzlich zu verringern. Warum wird diese Aufforderung einfach beharrlich ignoriert?
Schmidt: Sie wird ja nicht ignoriert. Aber das Verfassungsgericht hat sich leider immer nur auf die materiellen Rahmenbedingungen konzentriert und das ist auch die hauptsächliche Diskussion - wie wir ja jetzt wieder in dem Interview sehen - in Deutschland. Das ist aber nicht das Problem der Eltern, sondern junge Eltern heute wollen beides. Es wird keine Familie, kein junges Paar deshalb ein Kind in die Welt setzten, weil dann die Rente der Frau etwas besser wird. Natürlich muss da etwas getan werden. Wir haben ja in der Zwischenzeit, das haben auch alle Regierungen getan, in der Rentenversicherung drei Kindererziehungsjahre anerkannt, die Anwartschaftszeiten erhöht und vieles mehr.
Spengler: Es bleibt aber noch viel zu tun.
Schmidt: Wir müssen jetzt hergehen in Zeiten knappster Mittel, die Defizite dort zu beseitigen, wo sie am gravierendsten sind. Wir sind Schlusslicht bei den Betreuungseinrichtungen in der gesamten Europäischen Union. Das ist unser größtes Defizit. Andere Länder habe weniger materielle Transfers und haben trotzdem eine geringere Kinderarmut, bessere Pisa-Ergebnisse und eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen.
Spengler: Sollten die Deutschen mehr fragen, was bringen Kinder, anstatt was kosten Kinder?
Schmidt: Man sollte vielleicht über das Glück reden, das Kinder bedeuten und weniger über die Lasten. Man sollte auch mal deutlich machen, dass nicht alles perfekt sein muss für ein Kind, sondern dass ein Kind ein Einziges braucht, nämlich die Liebe seiner Eltern. Da kommt es nicht so sehr drauf an, ob man sich Markenkleidung oder ähnliches leisten kann. Vielleicht sollten wir darüber ein bisschen mehr reden.