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Lokaljournalismus als Plagiatsopfer
Alles nur geklaut?

Die Angabe von Quellen gehört zu den Grundlagen des journalistischen Handwerks. Lokalzeitungen werden aber häufig nicht genannt, wenn überregionale Medien deren Recherchen übernehmen. Dagegen wehren sich Lokaljournalisten über Social-Media-Kanäle.

Von Michael Borgers | 15.10.2018
    Eine Lokalzeitung wird über andere Zeitungen gehalten.
    Die Recherchen von Lokalzeitungen sind häufig Grundlage für die Arbeit überregionaler Medien (picture alliance/Lino Mirgeler/dpa)
    "Spaziergang in Haddenhausen" - so titelte das "Mindener Tageblatt" Mitte Juli, um über eine indische Studentin zu berichten, die Opfer einer Hetzkampagne im Internet wird. Die 21-Jährige wollte nur zur Erinnerung an ihre Zeit in Ostwestfalen Fotos machen, wurde aber fälschlicherweise für eine Einbrecherin gehalten, Nachbarn schwärzten sie deshalb auf Facebook an. Eine Geschichte, die beispielhaft zeigt, wie Alltagsrassismus in Deutschland funktioniert, und: eine exklusive des "Mindener Tageblatts", wie Chefredakteur Benjamin Piel unterstreicht.
    "Wir haben […] mit großen Auswand recherchiert, wer diese Frau eigentlich ist. Sie war nämlich die Mitarbeiterin eines Freizeitparks. Und konnten dann Kontakt zu ihr herstellen und haben eine schöne runde Geschichte erzählt. Und konnten eben schauen, woher diese Hetze kam und wie sie entstanden ist."
    "Die Ursprungsquelle wird verwaschen"
    Drei Monate später – die Studentin ist längst zurück in Indien – greift "Welt" die Geschichte auf. Die Ursprungsquelle der Geschichte nennt die Tageszeitung aber nicht mehr. Das "Mindener Tageblatt" erlebe so etwas nicht zum ersten Mal, sagt Benjamin Piel. Größere, überregionale Medien würden immer wieder Themen von Lokalzeitungen aufgreifen, ohne diese als Quelle zu benennen.
    "Es geht dann erst ins Regionalradio, dann schaltet sich öffentlich-rechtlicher Rundfunk drauf, WDR, NDR, solche Formate, und wenn das dann auch noch gut läuft und einschlägt, dann kommt vielleicht noch jemand von Spiegel Online, und dann kommen die großen nationalen Medien noch dazu. Und im Zuge dieses Weges wird die Ursprungsquelle immer mehr verwaschen."
    Ein großes Problem, findet Piel. Denn Hintergrund seiner Kritik seien nicht persönliche Eitelkeiten oder die seiner Redaktion…
    "…sondern der Eindruck, der oft entsteht, dass Lokalmedien eigentlich größtenteils Kaninchenzüchter und Schützenvereine machen. Und dass die Lokalmedien sehr häufig die Ursprungsquellen für solche Geschichten sind, die dann überregional erzählt werden, das fällt dann sehr oft unter den Tisch."
    "Das ist bei uns eine Selbstverständlichkeit"
    Warum seine Zeitung nicht das "Mindener Tageblatt" zitiert hat, kann "Welt"-Chefredakteur Ulf Poschardt nicht mehr nachvollziehen; auch in diesem Fall hatten in der Zwischenzeit bereits andere Medien die Geschichte aufgegriffen. Die Kritik seines Kollegen dagegen kann Poschardt gut verstehen.
    "Wir haben alle einen Kampf um exklusive und relevante Geschichten. Und da gehört das, finde ich, zum professionellen Anstand, dass man die Quelle nennt, dass man sich nicht mit fremden Federn schmückt. Und das ist bei uns ganz klar eine Selbstverständlichkeit."

    Doch für Poschardt ist das Nicht-Nennen von Quellen kein Problem, das nur Lokalzeitungen betrifft. Auch der "Welt" passiere es immer wieder, dass andere Redaktionen exklusive Recherchen ohne Verweis übernehmen.
    "Ich bin mir dann auch nicht zu schade, andere Zeitungen, Magazine, aber auch Intendanten von öffentlich-rechtlichen Anstalten darauf hinzuweisen, wenn es über einen Scoop ‚wie in einem Zeitungsbericht stand‘ heißt, drauf hinzuweisen, wie diese Zeitung heißt, über die sie da gerade die Geschichte berichtet haben."
    Der Journalist Ulf Poschardt
    Chefredakteur Ulf Poschardt kann die fehlende Quellenangabe in der "Welt" nicht nachvollziehen (imago / epd)
    Social Media statt Presserat
    Journalismusforscher Volker Lilienthal stellt klar: Grundsätzlich ist es erlaubt und gängiges Geschäft, Geschichten zu übernehmen:
    "Wenn vielleicht sogar die Lokalzeitung, die Lokalredaktion die Größe des Themas vielleicht nicht wirklich erkannt hat, nicht wirklich weitergedreht hat, dann ist es schon sozusagen das Verdienst der großen Medien, das Symptomatische zum Beispiel einer kleinen Anekdote entdeckt zu haben und daraus eine größere Gesellschaftsgeschichte gemacht zu haben. Da ist das erlaubt."
    Unkollegial und nicht in Ordnung sei es dagegen, sich der Recherche anderer zu bedienen und diese dann nicht zu erwähnen. Doch anders als in der Vergangenheit müsste kein Medium heute mehr dreisten Ideenklau einfach so hinnehmen.
    "Auch die kleinen Zeitungen haben mittlerweile die Kanäle der Social Media, haben Facebook, haben Twitter, wo sie sozusagen das "Blame Game" spielen können, also veröffentlichen können: Hier, die große Zeitung X schmückt sich mit dieser tollen Geschichte, aber zuerst stand sie bei uns."
    Auch Benjamin Piel vom "Mindener Tageblatt" spielt dieses "Blame Game" - und erhält, wenn er sich auf Twitter beschwert, regelmäßig große Resonanz.
    "Weil Kollegen von anderen kleineren Medien dann auch sehr gerne darauf reagieren, weil die kennen dieses Problem. Das ist für uns Alltag, das passiert immer wieder, und die sind dann schon auch dankbar, wenn immer wieder solche Fälle ans Licht kommen, wo es diese Effekte gibt."
    Im aktuellen Fall wurde seine Kritik auch umgehend von der "Welt" erhört: Die überregionale hat inzwischen die lokale Zeitung als Quelle genannt und den Ursprungstext verlinkt.