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Lokführergewerkschaft: Sachliche Erklärung für Unfall gibt es nicht

Wenn die Technik funktioniere und der Lokführer verantwortungsvoll arbeite, dann sei gewährleistet, dass ein Zug nicht zu schnell fahre, sagt Claus Weselsky von der Lokführergewerkschaft GdL. Daher müssten beim Unglück in Spanien mehrere Komponenten zusammengekommen sein, die als Ursache herhalten könnten.

Claus Weselsky im Gespräch mit Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Es ist das zweitschlimmste Eisenbahnunglück in der Geschichte Spaniens. Nur in den 40er-Jahren hat es einmal ein Unglück gegeben mit noch mehr Toten. Ganz Spanien trauert und fragt sich, wie es nur zu dieser Katastrophe mit dem Schnellzug kommen konnte.
    Claus Weselsky ist der Vorsitzende der GdL, der Gewerkschaft der Lokomotivführer. Guten Tag, Herr Weselsky.

    Claus Weselsky: Schönen guten Tag, Herr Meurer.

    Meurer: Einem Lokomotivführer ist in Spanien möglicherweise ein katastrophaler Fahrfehler unterlaufen. Ist das der Moment, vor dem ein Lokführer sein ganzes Berufsleben lang Angst hat?

    Weselsky: Erstens steht nicht fest, dass der Lokomotivführer einen Fahrfehler gemacht hat. Zweitens: Ein Lokführer fühlt sich immer verantwortlich für das Ganze. Und die Frage, ob er einen Fehler gemacht hat oder nicht, spielt eine völlig untergeordnete Rolle. Wenn so etwas passiert, dann hat er die Toten auf seinem Gewissen, und zwar auch, wenn er vollkommen unschuldig ist.

    Meurer: Warum auch dann?

    Weselsky: Weil er sich für seine Zugbeförderung verantwortlich fühlt.

    Meurer: Wenn es doch aber ein Technikfehler war? Das mag ja dann eine menschliche Reaktion sein, dies zu sagen.

    Weselsky: Genau das ist es, ja.

    Meurer: Genau das hat er ja auch gesagt: Die Toten gehen auf mein Gewissen oder gingen auf mein Gewissen, wir sind doch auch nur Menschen. Das war seine allererste Reaktion, ins Handy gesprochen. Da hat er noch gar nicht gewusst, wie viele Tote es sind.

    Weselsky: Daraus kann ich übrigens nicht ableiten, dass der automatisch ein Schuldeingeständnis gemacht hat.

    Meurer: Okay, Sie wollen ihn nicht vorverurteilen. Das ist vollkommen korrekt. Haben Sie eine Erklärung, Herr Weselsky, warum der Zug mit 190 in eine Kurve donnert, in der nur 80 zugelassen sind?

    Weselsky: Also ich weiß nicht, ob die 190 schon feststehen und die 80. Aber Fakt ist: Eine sachliche und eine realistische Erklärung gibt es dafür nicht, weil technische Voraussetzungen die Geschwindigkeit des Zuges regulieren und der Lokomotivführer selbst auch Streckenkenntnis hat. Man spricht davon, dass er erfahren ist und dass er an der Stelle nicht das erste mal diese Strecke befährt. Das heißt also, hier müssen mehrere Komponenten zusammengekommen sein, um womöglich dann als Ursache für diese Entgleisung und das, was dann folgte, herzuhalten. Das ist nie allein.

    Noch dazu: Es waren zwei Lokführer oben auf dem Fahrzeug. So sind zumindest die Medienberichte. Und da gehe ich nicht davon aus, dass ein verantwortlicher Lokomotivführer absichtlich die doppelte, mehr als die doppelte Geschwindigkeit fährt an einer Stelle, die er auch kennt.

    Meurer: Was könnten denn weitere Komponenten für die Ursache sein?

    Weselsky: Das ist spekulativ. Ich weiß nicht, was es gibt, auch technische Möglichkeiten, die versagt haben. Aber das ist spekulativ. Ich glaube, das wird die Untersuchung ergeben.

    Meurer: Es gibt ja schon einige Ermittlungsergebnisse und natürlich wird recherchiert, und da heißt es zum Beispiel, es gibt ein automatisches Sicherheitssystem an Bord dieser Schnellzüge, das wohl sehr ausgeklügelt ist. Aber genau an dieser Stelle wäre es nicht sozusagen eingebaut gewesen. Das muss natürlich dann auch mit Signalen an der Zugstrecke entlang korrespondieren. Darf so etwas sein, dass genau in so einer doch recht scharfen Kurve das Sicherheitssystem nicht arbeitet?

    Weselsky: Nun, ob die Sicherheitssysteme versagt haben, kann ich nicht beurteilen. Aber wenn wir einfach mal von unserem Standort ausgehen auf Hochgeschwindigkeitsstrecken, dann fährt man linienförmig zugbeeinflusst.
    LZB (Anm. der Redaktion: linienförmige Zugbeeinflussung) ist der Fachbegriff dafür. Das heißt, der Zug ist an jeder Stelle auf dem Gleis in einer technischen Überwachung. Wenn diese ausfällt, dann hat der Lokomotivführer automatisch die Geschwindigkeit auf mindestens oder höchstens 160 zu reduzieren, weil er dann eben nicht mehr technisch überwacht wird und weil dann seine Bremswege, die er benötigt, nicht mehr so von ihm selbst eingesehen werden können. Das sind bei uns klare Festlegungen.

    Meurer: Diese linienförmige Zugbeeinflussung, wenn ich das richtig verstanden habe, was muss man sich darunter vorstellen?

    Weselsky: Das ist ein Leiterkabel, das am Gleis entlang liegt und das in ständigem Kontakt zur Fahrzeugeinrichtung steht und damit auch Befehle übertragen werden können. Das heißt, sie sind ständig in der Überwachung als Lokomotivführer und es könnte auch von außen beeinflusst werden, dass die Geschwindigkeit sich reduziert.

    Meurer: Mit diesem System ertönt da ein Warnzeichen vorne im Cockpit, sage ich jetzt mal?

    Weselsky: Natürlich. In dem Moment, wo Sie eine Geschwindigkeitsverletzung in diesem System machen, kommt ein Hinweis, eine Warnung, und wenn Sie in einer angemessenen Zeit nicht reagieren, dann führt das auch zur Zwangsbremsung.

    Meurer: Wie lange dauert das, bis die Zwangsbremsung kommt? Was ist eine angemessene Zeit?

    Weselsky: Die angemessene Reaktionszeit?

    Meurer: Ja genau.

    Weselsky: Das hängt immer mit der Geschwindigkeit zusammen. Sie müssen von der technischen Überwachungseinrichtung her zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Geschwindigkeit haben. Wenn Sie die nicht einhalten, erfolgt automatisch eine Zwangsbremsung.

    Meurer: Herr Weselsky, ist es zutreffend, dass es diesen Mechanismus mit der Zwangsbremsung nur bei Zügen gibt, die schneller als 160 fahren, und bei den langsameren Zügen nicht?

    Weselsky: Das ist nicht zutreffend. Nein, das ist nicht zutreffend. Das sind lauter verschiedene technische Systeme. Es gibt punktförmige Zugbeeinflussung. Das heißt, es ist keine durchgängige Beeinflussung während der gesamten Fahrt, sondern immer an markanten Stellen, an Bahnhofseinfahrten, an bestimmten Gefahrenstellen. Dann haben Sie technisch punktförmig die Überwachung der Züge.
    Die Fahrzeuge sind alle damit ausgerüstet, die Strecken weit überwiegend, in Deutschland zumindest. Es gibt nur noch ganz wenige Strecken, wo diese punktförmige Zugbeeinflussung – das ist das niedrigere, vom niedrigeren Level her - das Kontrollsystem – nicht vorhanden ist.

    Meurer: Also würden Sie sagen, Herr Weselsky, in Deutschland wäre es eigentlich praktisch undenkbar, dass ein Zug mit 190 in eine Kurve rast, in der Tempo 80 gilt?

    Weselsky: Was undenkbar ist und nicht, das kann ich nicht beurteilen. Ich kann nur sagen, wenn die technischen Voraussetzungen vorhanden sind, wenn die Technik funktioniert und der Lokführer verantwortungsvoll arbeitet, dann sind schon mal zwei Systeme, die gewährleisten, dass der Zug an der richtigen Stelle auch die richtige Geschwindigkeit fährt. Bei unseren Problemen, die wir haben, sind meistens mehr als eine Komponente, die ausfällt. Technisches Versagen und dann womöglich auch noch menschliches führt oftmals dann ein Stück weit zu weiteren Problemen. Aber auch das ist momentan für das spanische Unglück völlig offen.

    Meurer: In Spanien wird diskutiert, Herr Weselsky, ob vielleicht der Druck zu groß war oder der Lokführer einen Druck verspürte, pünktlich zu sein. Er war nur fünf Minuten in Verzug. Aber auch hier in Deutschland haben wir ja die Diskussion, dass die Bahn pünktlich sein soll. Wie groß ist der Druck auf die Lokführer, da vielleicht doch mal Gas zu geben?

    Weselsky: Das ist, denke ich, auch immer ein persönlicher Druck. Man ist als Lokführer bestrebt, pünktlich die Fahrgäste zu befördern. Das heißt aber nicht, dass der Druck sowohl vom Arbeitgeber oder vom technischen System und von sich selbst aus so groß ist, dass man eine Geschwindigkeitsübertretung von mehr als dem doppelten macht, nur um fünf Minuten Verspätung herauszuholen.

    Meurer: Aber eine Geschwindigkeitsübertretung von zehn, 20, 30 Sachen ist schon mal drin?

    Weselsky: Nein, nein. Das nennen wir spitz fahren, wenn man Fahrzeit aufholen will. Wenn man also verspätet ist und Fahrzeit aufholen will, dann hat man ganz andere Möglichkeiten. Dann fährt man mit stärkerer Kraft an, schneller, beschleunigt schneller, um auf Höchstgeschwindigkeit zu kommen, und fährt auch im Anfahren von Bahnsteigen dann mit höherer Geschwindigkeit rein und bremst stärker ein. Dort holen Sie die meiste Zeit auf, dort schaffen Sie fünf Minuten, wenn Sie über eine längere Strecke unterwegs sind.

    Meurer: Aber Tempolimit halten Sie ein?

    Weselsky: Das Tempolimit wird eingehalten, weil es auch technisch überwacht wird und weil es zu unserer Verantwortung gehört, schlussendlich so zu fahren, wie es vorgeschrieben ist.

    Meurer: Claus Weselsky ist der Vorsitzende der Gewerkschaft der Lokomotivführer in Deutschland. Mit ihm sprach ich gerade über mögliche Ursachen des Unglücks in Spanien und welche technischen Maßnahmen es in Deutschland gibt. Danke schön, Herr Weselsky, auf Wiederhören!

    Weselsky: Danke Ihnen auch.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.