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Londonderry und der Brexit
"Eine harte Grenze wird Chaos verursachen"

Die nordirische Stadt Londonderry war während des Nordirland-Konflikts Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen. Nun befürchten viele Bewohner, dass es nach dem Brexit wieder eine harte Grenze und Unruhen geben könnte. Nicht nur Handel, Geschäfte und Jobs sehen sie bedroht, sondern auch ihre Gesellschaft.

Von Christoph Heinzle | 11.02.2019
    Ein Auto fährt über die Grenzbrücke ins nordirische Strabane.
    Grenzbrücke zwischen Irland und Nordirland (Deutschlandradio / Christoph Heinzle)
    Heute ist vor dem Gericht in der Bishop Street nicht mehr viel zu sehen von den Schäden durch die gewaltige Autobombe vom 19. Januar. An jenem Samstagabend war hier einiges los, rund um die nahegelegenen Pubs und Restaurants der Altstadt. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt oder getötet durch diesen ersten Anschlag hier in Londonderry seit Jahren. Die 20-Jährige Tori arbeitet in einer Bar wenige Häuser weiter. An diesem Abend hatte sie frei, erinnert sich aber an den Schock danach.
    "Am Montag war hier niemand unterwegs. Der Anschlag hatte also definitiv Wirkung, die Leute haben darauf reagiert. Aber die Leute, die für diese Bombe verantwortlich waren, repräsentieren nicht die Bevölkerung von Derry. Die Menschen hier wollen all das nicht. Sie wollen keine Bomben, keinen Ärger. Die Menschen in Derry wollen nur Frieden."
    Ausbruch von Gewalt fürchten wenige
    Die Polizei verhaftete Verdächtige, machte die kleine Terrorgruppe New IRA für das Attentat verantwortlich. Ein Schock, sagt John mit Blick auf das Gericht. Doch der 24-jährige Handwerker befürchtet keinen Ausbruch der Gewalt, wenn es nach dem Brexit Grenzkontrollen und Widerstand dagegen gäbe.
    "Auch bei einer harten Grenze kann ich mir niemanden in meinem Alter vorstellen, der gewalttätig würde und die alten Zeiten zurückbringen wollte. Denn das ist nicht unsere Lebenserfahrung. Wir wüssten gar nicht, wie wir zu dem Leben von damals zurück könnten. Das ist eine abseitige Idee. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die gutherzigen Menschen von Irland sowas jemals zulassen würden. Für mich ist das Geschichte."
    Für Sheila Higgins ist die Geschichte noch lebendig. Die 71-Jährige geht mitten durch Creggan, eines der ärmeren Viertel von Derry, wie die katholische Mehrheit hier ihre Stadt nennt. Vor fünf Jahrzehnten war Creggan eine No-Go-Area, in die sich die Armee allenfalls schwer gepanzert und bewaffnet traute.
    "Damals waren hier viele britische Soldaten unterwegs. Es gab viele Gefechte. Und gerade der Central Drive hier war der Brennpunkt für all die Ausschreitungen und Bombenanschläge."
    Sheila Higgins begann 1970 als junge Grundschulehrerin in der Holy Child Primary School hier in der Straße und erinnert sich noch gut an die Schrecken der "Troubles", wie der blutige Nordirlandkonflikt hier heißt.
    "Da drüben in einem Container am Spielplatz war mein Klassenzimmer. Die IRA schoss eine Granate auf die britische Armee ab. Doch die traf das kleine Gemeindezentrum direkt hier nebenan. Alle dachten, mein Klassenzimmer wäre getroffen, mit 42 Kindern."
    Der "Bloody Sunday" am 30. Januar 1972
    Der Unterricht ging weiter. Und all die Jahre passierte nichts. Auch wenn der Konflikt Alltag für die Kinder hier war, habe man versucht, in der Schule "eine Oase des Friedens und der Ruhe zu schaffen."
    Doch es kam es noch schlimmer. Im prasselnden Regen vor der Schule erinnert sich Sheilas Mann Ciaran an den 30. Januar 1972, den "Bloody Sunday" mit 14 Toten. Wie seine spätere Frau startete der damals 23-jährige Katholik hier in Creggan zu einem Protestmarsch von Bürgerrechtlern. Weiter unten Richtung Altstadt eröffneten britische Fallschirmjäger das Feuer und machten Jagd auf unbewaffnete Demonstranten.
    "Als die Armee vorrückte, hörten wir das Crack-Crack-Crack der Schüsse. Die Leute begriffen erst gar nicht, was das war. Wir warfen uns auf den Boden und krochen über Barrikaden, um davonzukommen."
    "Verwandte und Freunde aus dem Ausland riefen an und fragten: ist das wahr, habt ihr gehört, wie die Opfer heißen? Es war einfach unglaublich."
    Eine Wiederbelebung der alten Zeiten des Nordirlandkonflikts sieht Sheila Higgins nicht wiederkommen – Zeiten mit breitem Widerstand der katholischen, nationalistischen Bevölkerung gegen die britische Regierung und die mit ihr verbundenen protestantischen Unionisten. Doch kleinere Unruhen hält sie für möglich, falls es wieder eine undurchlässigere Grenze gäbe.
    "Wenn es erstmal dauerhafte Anlagen an der Grenze gibt, dann wird alles zum Ziel"
    "Ich glaube nicht, dass sich sofort etwas ändern wird. Aber wenn es erstmal dauerhafte Anlagen an der Grenze gibt, dann wird alles zum Ziel. Es gibt immer noch eine Gruppe von Unzufriedenen und Verunsicherten, wie wir an dem Anschlag neulich gesehen haben. Wir haben viele hitzköpfige Politiker, die junge Leute aufstacheln. Diese Jungen kennen die Geschichte nicht, vielleicht wurde nicht viel in sie investiert und sie haben dann nichts zu verlieren."
    "Das hier ist die Schweißerei."
    Stolz führt George Fleming durch die Schweißerei seiner Firma für Landmaschinen sechs Kilometer außerhalb von Londonderry auf der nordirischen Seite. Besonders erfolgreich ist er seit den 90ern durch Fortschritte bei der EU-Zollunion und durch das Ende des Nordirland-Konflikts.
    "Unsere Firma ist gewachsen, von damals 15 Mitarbeitern auf heute 115. Und das nur durch die offene Grenze, durch den freien Waren- und Personenverkehr. 25 Prozent unserer Mitarbeiter kommen aus Irland. Wir können uns keine harte Grenze vorstellen, die all das mit Zollkontrollen und Personenkontrollen aufhält."
    "Es wäre eine Katastrophe für diese Region"
    Doch in der Grenzfrage geht es nicht nur um Handel, Geschäfte und Jobs, macht der 61-Jährige deutlich.
    "Wir sind eine so integrierte Gesellschaft – wir überqueren die Grenze in beide Richtungen zum Einkaufen, zum Schulbesuch, zu medizinischen Behandlungen. Es wäre eine Katastrophe für diese Region, wenn so eine Art Berliner Mauer hier quer durchgehen würde."
    Natürlich würde eine harte Grenze anders aussehen als damals während der Troubles, als britische Panzer an den Übergängen standen und jeder Grenzgänger ebenso misstrauisch wie gründlich kontrolliert wurde. Doch George Fleming meint, allein die Symbolik könnte den wenigen Gewaltbereiten reichen.
    "Wenn es Zölle gibt, dann gibt es Schmuggel. Wenn es Schmuggel gibt, gibt es Zöllner. Und Polizei auf beiden Seiten, um die Zöllner zu schützen. Und schließlich Armee, um die Polizei zu beschützen. Und diesen Leuten ist es egal, wen sie verletzen."

    Wenige Meilen entfernt in Strabane geht es über den Grenzfluss Foyle auf die irische Seite. Man sieht es der alten, engen Brücke nicht an, aber dies ist einer der wichtigsten Übergänge der Region. Auf der direkten Route aus dem Nordwesten Irlands quer durch Nordirland nach Dublin. Über diese Brücke erreicht auch der 35-jährige irische Anstreicher Paul zu Fuß die nordirische Seite.
    Sorge vor einer harten Grenze
    "Eine harte Grenze wird Chaos verursachen. Die Leute werden Geld und Jobs verlieren. Und eine harte Grenze wird einige Unruhe in der Bevölkerung auslösen. Meine Familie lebt in Strabane, ich gehe jeden Tag hin und her. Ich will dabei nicht kontrolliert werden. Das ist ein absoluter Witz. Sie sollten einfach alles so lassen wie es ist."
    In einer Autowerkstatt ein paar Meter neben der Brücke auf der irischen Seite lässt ein Nordire gerade Reifen aufziehen. "Mehr noch als um die Wirtschaft geht es um Frieden", sagt der 26-Jährige, obwohl er selbst gerade arbeitslos ist.
    "Niemand will, dass hier wieder eine harte Grenze entsteht", so der junge Nordire. "Hoffentlich klärt sich das bald", meint der Handwerker Paul. "Aber ich kann nicht sehen, wie es überhaupt einen Brexit geben soll."
    "Sie sollten den Brexit ganz abblasen, weil es einfach zu viel Uneinigkeit darüber gibt", sagt der Ire.