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Londons Denmark Street
Der schleichende Tod der Heimat der Musik

An kaum einem anderen Ort konzentriert sich so viel Londoner Pop-Geschichte wie in der berühmten Denmark Street. Jetzt ist sie vom Vorrücken der Baumaschinen bedroht. Ist schon alles vorbei oder bekommen die staubigen, alten Musikläden noch eine Chance?

Von Robert Rotifer | 14.10.2017
    Gemeinsam mit den "Bohemians 4 Soho" protestieren Unterstützer des berühmten 12 Bar Clubs in der Londoner Denmark Street gegen dessen Schließung - ohne Erfolg
    Gemeinsam mit den "Bohemians 4 Soho" protestieren Unterstützer des berühmten 12 Bar Clubs in der Londoner Denmark Street im Januar 2015 gegen dessen Schließung - ohne Erfolg (EPA)
    "Über London sammeln sich die dunklen Wolken", so heißt es in diesem aktuellen Song der Londoner Band The Rails. "Ich kann den Beat auf der Denmark Street nicht hören / Er wird übertönt vom Klang des neuen Betons."

    "Brick and Mortar" ist der Titel des Lieds. Ziegel und Mörtel. Phil Ryan hat in den Neunzigerjahren in der Denmark Street ein Konzertlokal aufgemacht: den mittlerweile verschwundenen 12 Bar Club. Er kann die Bedeutung dieser hier besungenen Gemäuer erklären.

    "Die Denmark Street, nach amerikanischem Vorbild Tin Pan Alley genannt, lebte Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Im Ersten Weltkrieg investierte die britische Regierung viel Geld in patriotische Lieder, und plötzlich machten jede Menge Musikverleger Büros in der Denmark Street auf. Sie wurde zur Heimat der britischen Musik."
    Eine Anti-Gentrifizierungskampagne: gescheitert
    Diese Straße der Musik, der die Kinks 1970 diesen Song namens "Denmark Street" widmeten, ist schon lang nicht mehr, was sie damals war. Statt Musikverlage und Studios gibt es da heute bloß noch Instrumentenhändler. Aber auch die sind nun gefährdet. Als Aktivist der Kampagne "Save Tin Pan Alley" versuchte Phil Ryan zu verhindern, dass an die Rückseiten der alten Gebäude ein Einkaufszentrum, ein Hotel und Luxuswohnungen angebaut werden. Mittlerweile hat er keine Hoffnung mehr.

    "Unsere Kampagne ist gescheitert, denn die Investoren, die die Straße aufgekauft hatten, haben die hintere Hälfte der Läden niedergerissen und die Reparaturwerkstätten aus den Obergeschossen vertrieben. Als Besucher aus Deutschland, Frankreich, Japan oder Amerika, der sich die berühmte britische Musikstraße ansehen will, wäre ich ziemlich enttäuscht."

    Tatsächlich stehen an der Denmark Street erschreckend viele Geschäftslokale leer. Einige der Schaufenster sind mit schwarzen Holzplatten vermacht, auf die die Eigentümer symbolische Graffiti-Porträts von Chuck Berry malen haben lassen. Aber ein paar Läden scheinen auch immer noch gut zu laufen, wie zum Beispiel "Regent Sounds" in der Hausnummer 4.
    "Die Geschichte dieses Orts ist unglaublich"
    Der von Gitarren und Verstärkern aller Marken und Preisklassen umringte Hausherr hier heißt Crispin Weir. Neben dem Gitarrenverkaufen sammelt er leidenschaftlich historische Fakten über die Geschichte seines Ladens.

    Weir erzählt von jenem berühmten "Regent Sounds Studio", das von 1949 bis in die Achtzigerjahre genau da beheimatet war, wo heute seine Gitarren hängen.

    "Die Stones machten hier ihre ersten zwei Platten, und dann kamen ihnen alle nach. John Paul Jones traf hier Jimmy Page, die Geschichte dieses Orts ist unglaublich."

    Crispin Weir nimmt uns mit in sein Büro, wo noch Ruhe herrscht, ehe demnächst die Baumaschinen anrücken und die hintere Hälfte des Gebäudes abreißen. Wie sich herausstellt, ist sein Interesse an der Geschichte der Denmark Street nicht bloß ein Hobby. Er sammelt vielmehr Argumente, um die Bau-Investoren vom einzigartigen Wert seines Ladens zu überzeugen.

    "Ursprünglich wollten sie das alles hier loswerden hier, und ich habe ihnen gesagt: Das hier ist ihr berühmtestes Haus. Dieses Studio ist legendär. Sie haben das berücksichtigt. Ich werde zwar zwei Jahre lang nur einen halben Laden haben, aber das ist besser als gar keinen Laden."
    Investorentricks auf einer Insel der Nostalgie
    Gleich gegenüber von Regents Sounds befindet sich "Hank's", ein auf Sammlerstücke spezialisierter Shop, in dem sich wahre Reliquien wie eine alte Gitarre von Bob Dylan, ehemalige Verstärker von Pink Floyd oder The Jam erstehen lassen. Der Besitzer Shane Gilliver will von einer Krise der Denmark Street nichts wissen.

    "Die Denmark Street ist überhaupt nicht am Ende. Der ganze Medienrummel darum ist mieser Journalismus. Die Existenz der Musikläden ist rechtlich geschützt, und die Kampagne zur Rettung der Denmark Street ist für uns sogar ziemlich negativ. Weil die Leute glauben, dass die Straße schon weg wäre."

    Phil Ryan von der Kampagne "Save Tin Pan Alley" lässt diese Vorwürfe nicht auf sich sitzen.

    Wir sagen den Leuten ständig: Die Denmark Street ist geöffnet. Wir sind traurig, dass sie ruiniert wird, aber gehen Sie da hin! Ich würde diesen Ladenbesitzer gern fragen, wie er sich denn erklärt, dass jetzt schon die Hälfte der Läden zu ist?

    Die Musikalienhändler sind gespalten. Laut Phil Ryan werden die Ladenbesitzer von den Investoren, einer Firma namens Consolidated Group, mittels falscher Versprechungen gegeneinander ausgespielt. Natürlich haben wir versucht, die Firma mit dieser Anschuldigung zu konfrontieren, aber ein Interview kam nie zustande ...

    Man darf hoffen, dass das Vertrauen der verbliebenen Geschäftsbesitzer in ihre Hausherren berechtigt ist. Im benachbarten Soho haben die Bulldozer längst reinen Tisch gemacht mit den Clubs, wo einst jene Musiker spielten, die tagsüber in der Denmark Street abhingen. Wenn also diese Straße tatsächlich bestehen sollte, dann bloß als Insel der Nostalgie. Symbolisch für die Londoner Rockkultur, oder was von ihr noch übrig ist.