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Louise Erdrich: "Der Gott am Ende der Straße"
Seltsam vages Zukunftsmenetekel

Mary Potts erwartet ein Kind - aber das ist in der Welt, in der sie lebt, kein Segen. Denn die Menschheit ist in Gefahr und radikale Organisationen haben die Macht übernommen. Schwangere Frauen haben nur noch eine Funktion: Sie müssen als Produzentinnen von Menschenmaterial dienen.

Von Eberhard Falcke | 27.05.2019
Zu sehen ist Louise Erdrich und das Cover ihres Romans "Der Gott am Ende der Straße".
Louise Erdrich: „Der Gott am Ende der Straße“ (Autorenfoto: Paul Emmel/ Cover: Aufbau Verlag)
Irgend etwas läuft schief auf der Welt. Darauf deuten zahlreiche Anzeichen hin, die auch Mary Potts nicht entgangen sind. Trotzdem freut sie sich auf das Kind, mit dem sie schwanger geht. Doch als sie in der Klinik eine Ultraschalluntersuchung des Embryos machen lässt, spitzen sich die Dinge plötzlich zu. Auf einmal greift eine unbekannte Macht nach ihr, als der Arzt betreten murmelt, er müsse sie dabehalten. Dann aber schickt er seine Assistentinnen weg und zeigt sich als Menschenfreund. Er fordert Mary auf, die Flucht zu ergreifen:

"Schnell", sagt er.
Ich ziehe mich hinter dem Wandschirm an. Als ich wieder hervorkomme, drückt er mir eine Rolle Klebeband in die Hand und sagt, ich solle ihn an einen Stuhl fesseln. Er will offensichtlich, dass ich entkomme. Warum, ist mir jetzt egal.
"Wenn Sie draußen sind, erzählen Sie niemandem von Ihrer Schwangerschaft", sagt er.
Kirchliche Zwangsherrschaft
Von da an muss Mary Potts um Freiheit und Sicherheit fürchten, um ihre eigene wie die des ungeborenen Kindes. Eine Schwangere wird gejagt, der weibliche Körper wird der Zwangsbewirtschaftung unterworfen. Das ist schon für sich genommen ein Vorgang, der unter die Haut geht. Umso mehr, als der neue Roman von Louise Erdrich mit dem Titel "Der Gott am Ende der Straße" in einer Welt spielt, wo glückliche Wendungen nicht zu erwarten sind.
Was ist passiert? Große Dinge jedenfalls, die von der Autorin aber nur seltsam vage, fragmentarisch oder stichwortartig umrissen werden. Die Natur hat eine Kehrtwende vollzogen, die Evolution entwickelt sich zurück, die Menschheit ebenfalls, die Regierung der Vereinigten Staaten ist zusammengebrochen. In ihrem Haus, in dem sie sich inzwischen versteckt hat, erfährt Mary von ihrem Freund nur so viel: Er berichtet, dass alle Kirchen jetzt von einer Zentralinstanz gesteuert werden.
"Staatsübergreifend? Gibt es wieder eine Bundesregierung?"
"Eine kirchliche, ja. Sie nennt sich Church of the New Constitution."
Die Evolution vollzieht eine Kehrtwende
Ein dystopischer Roman also. In dem Zukunftsmenetekel, das Louise Erdrich hier an die Wand malt, hat sich die Natur gegen das Menschengeschlecht gewendet. Zugleich haben die nicht genauer bezeichneten Kirchen die Gelegenheit genutzt, um die Herrschaft im Staat zu übernehmen. Und weil die Evolution nun den Rückweg antritt, geht die menschliche Entwicklung wieder in Richtung der Primaten.
Darum versuchen die neuen Machthaber um jeden Preis, jene Embryonen, die noch ein unbeschädigtes menschliches Erbgut aufweisen, ihrem Regiment zu unterwerfen. Schwangere wie Mary Potts werden in bewachten Kliniken und umfunktionierten Gefängnissen interniert. Wenn sie sich fügsam zeigen und die Geburt ihrer Kinder überleben, müssen sie als Leihmütter dienen und weiteren Nachwuchs austragen. Von all dem und besonders von ihrem eigenen Schicksal will Mary Zeugnis ablegen. Darum schreibt sie den Bericht, der den Roman ausmacht, und adressiert ihn an ihr ungeborenes Kind:

"Historische Zeiten! Schon immer hat es Briefe und Tagebücher gegeben, die mitten im Umbruch geschrieben wurden. Mir ist schon klar, dass lexikalisches Wissen bald bedeutungslos werden könnte. Trotzdem sollst du diese Aufzeichnungen haben."
Zu viel der Botschaft
Durch die Form dieses Berichts wird das Romangeschehen stark auf die Perspektive der Protagonistin verengt. Deshalb erscheint die Logik des Gesamtgeschehens einigermaßen undurchsichtig und es bleiben viele Fragen, die sich bei der Lektüre stellen, offen. Umso mehr Raum nehmen die persönlichen Erfahrungen von Mary Potts in Anspruch: ihr Untertauchen, die Entdeckung, ihre Gefangenschaft in einer Geburtsklinik, die Flucht mit einer Zimmergenossin, die in einem unterirdischen Versteck eine Totgeburt erleidet. In diesen Passagen wird der Roman zum spannenden aber auch peinvollen Thriller.
Unterstützung erhält Mary Potts bei alledem von ihren Eltern, und damit kommt das zweite zentrale Thema des Romans ins Spiel. Denn sie hat gleich zwei Elternpaare, die ganz verschiedenen Milieus angehören. Da gibt es auf der einen Seite ihre biologische Abstammung aus einer indigenen Familie von Ojibwe, die in einem Reservat lebt. Und auf der anderen Seite ihre Adoptiveltern, ein wohlhabendes, liberal-alternativ gesonnenes Ehepaar, die beide als Anwälte tätig sind. Anders als diese setzt sich Mary auf der Suche nach einer eigenen Identität viel mit dem katholischen Glauben auseinander:

"Seit ich mich mit der Geschichte des Katholizismus befasse, glaube ich an einen gefolterten Gott, denn eins ist mir klar: Es gibt nichts, was Menschen einander nicht antun würden. Wir brauchen einen Gott, der sich auf die Seite der Bedrängten stellt."
Das klingt unmissverständlich nach einer zusammenfassenden Botschaft für die menschenfeindliche Zukunftswelt, die Louise Erdrich hier entworfen hat. Insgesamt aber gibt ihr Roman "Der Gott am Ende der Straße" ein eher unbefriedigendes Bild ab. Denn die Autorin hat zu viel hineingepackt, ohne den zahlreichen Themen, Motiven, großen Fragen und Handlungsfäden die nötige Aussagekraft zu verleihen. Vieles verschwimmt da in Andeutungen. Deshalb kommt zu kurz, was an Dystopien den entscheidenden Gewinn ausmacht: dass nämlich konkret fassbare Missstände und Gefahren der Gegenwart durch ihre Projektion in die Zukunft vergrößert und damit in ihrer ganzen Bedrohlichkeit deutlicher erkennbar werden.
Louise Erdrich: Der Gott am Ende der Straße
Aufbau Verlag, Berlin
360 Seiten 22,00 Euro