Archiv

LSBTI-sensible Pflege
Sexuelle Vielfalt im Seniorenheim

Auch Lesben, Schwule, Bi-, trans- oder intersexuelle Menschen werden älter. In Berlin ist das bundesweit erste Seniorenheim ausgezeichnet worden, das sich auf die Pflege dieser Menschen spezialisiert hat. Dort muss sich manche Pflegerin erst einmal an die Fetische ihrer Bewohner gewöhnen.

Von Benjamin Dierks |
    Ein Piktogramm am Aufzug für Männer, Frauen und auch weitere mit *-Zeichen gekennzeichnete Menschen.
    Das Immanuel Seniorenzentrum bekommt ein Qualitätssiegel für sogenannte LSBTI*-sensible Pflege. (dpa / Paul Zinken)
    Im Tagesraum des Immanuel Seniorenzentrums in Berlin-Schöneberg sitzen einige Bewohner um einen Tisch versammelt und spielen Mensch-ärgere-dich-nicht. Durch die im Halbrund angelegten Fenster fällt viel Licht - und seit einigen Tagen ist dieses Licht etwas bunter, denn auf dem Glas prangt ein großer, runder, mit Fensterfarben gemalter Regenbogen - zur Freude von Bewohnerin Edith.
    "Es ist einfach schön, einfach toll. Das muss man einfach genießen."
    Edith sitzt neben ihrem Mann am Tisch, mit dem sie seit einem Jahr in einem Paarzimmer gemeinsam in dem Pflegezentrum wohnt. Sie kennt die Bedeutung des Regenbogens - und auch die gefällt ihr.
    "Dass das endlich mal aufhört, dass die so von der Seite angeguckt werden"
    "Man sagt, das ist für Schwule und Lesben. Ich finde das gut. Dass das endlich mal aufhört, dass die so von der Seite angeguckt werden. Die sind ja nichts Schlechteres als wir sind."
    Edith und ihr Mann leben mit 60 anderen Bewohnern in dem Altersheim. Vier von ihnen sind offen schwul oder lesbisch. Selbst darüber reden können sie wegen einer Demenzerkrankung nicht. Aber Ediths Offenheit sei typisch für die Bewohner des Altersheims, sagt Leiter Ralf Schäfer.
    "Wir haben eine offene Gesprächskultur. Wir machen regelmäßig Bewohnerversammlungen, Bewohnerinnenversammlungen, und wir sind seit Sommer schon dabei, mit allen über das Thema zu sprechen."
    120 Qualitätskriterien für LSBTI-sensible Pflege
    Der offen sichtbare Regenbogen in Aufenthaltsräumen ist eines von 120 Kriterien, die die Schwulenberatung Berlin aufgestellt hat, um dem Immanuel Seniorenzentrum als erster Einrichtung in Deutschland ihr Qualitätssiegel für Sensibilität in der Pflege von Schwulen, Lesben, Bi-, Trans- und Intersexuellen zu verleihen. Heimleiter Schäfer achtet schon lange darauf, dass sein Haus sich allen Menschen in Schöneberg öffnet, das für seine große schwul-lesbische Gemeinde bekannt ist.
    "Wir sind eine Pflegeeinrichtung wie andere Einrichtungen auch. Was wir anders machen, ist, dass wir unsere Mitarbeiter schon seit Jahren sensibilisieren in Themenkomplexen, die auch die LSBTI-Community betreffen, offener umzugehen, darüber zu reflektieren und sie auch zu sensibilisieren, dass es da nochmal zu besonderen Problemlagen kommen kann."
    Identität von Lesben und Schwulen respektieren
    Ganz einfach sei das nicht immer. Eine Pflegerin musste sich erst einmal an den Fetisch eines Bewohners gewöhnen, der auch nachts eine Gummihose tragen wollte, berichtet Schäfer. Meist geht es aber schlicht darum, die Biografie der LSBTI-Bewohner zu honorieren und bei Männern zum Beispiel nicht wie selbstverständlich nach Ehefrau oder Enkelkindern zu fragen. Forschung hat ergeben, dass die Identität von Lesben, Schwulen und Transpersonen in der Pflege oft übergangen wird. Das Projekt der Schwulenberatung Berlin soll das ändern. Ihr Siegel soll sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten signalisieren, dass sie willkommen sind.
    "Das spiegelt sich hier und da in den Regenbogenfarben wider, in der Beschriftung der Einrichtung, die haben wir jetzt genderneutral angepasst, wir haben Bewohner*innenzimmer in der Einrichtung, nicht nur Bewohnerzimmer", sagt Ralf Schäfer.
    Bewohner*innenzimmer
    Die Toilettenzeichen zeigen nicht nur Mann und Frau, sondern auch eine dritte Person mit Sternchen für Trans- und Intersexuelle. Es wird auch allen zugestanden, ihre Sexualität zu praktizieren. Die Offenheit helfe, um den Vorbehalten zu begegnen, die viele ältere Homosexuelle vor einer Pflegeeinrichtung hätten, sagt Marco Pulver von der Schwulenberatung Berlin.
    "Dass man in ein Haus kommt, wo man nicht weiß, auf wen man trifft und ob es da nicht Vorbehalte gegen Schwulsein, gegen Lesbischsein gibt, und dass man sich dann wieder verstecken muss, was man in früheren Jahren erlebt hat. Die Leute, die jetzt in ein Altersheim kommen, haben ihre Jugendzeit und ihr frühes Erwachsenenalter in einer Zeit verbracht, wo Homosexualität verboten war, wo sie kriminalisiert war."
    Beim Pilotprojekt in Schöneberg rannten Marco Pulver und seine Kollegen offene Türen ein. Viele Häuser reagierten aber auch verschlossen, berichtet Pulvers Kollegin Eva Obernauer, die die Verleihung des Qualitätssiegels verantwortet.
    Neues Qualitätssiegel
    "Wenn wir auf Einrichtungen zugehen oder unser Qualitätssiegel bewerben, dann ist meistens die Reaktion der Einrichtungen: 'Das Problem gibt es bei uns nicht.'"
    Wenn man aber etwa in Berlin von einem LSBTI-Anteil von geschätzten zehn Prozent ausgehe, sei sehr wohl damit zu rechnen, dass in den meisten Häusern welche lebten. Pulver und Obernauer gehen davon aus, dass sie in den drei Jahren, die das Projekt gefördert wird, rund 12 Einrichtungen ein Zertifikat verleihen können. Als nächstes wollen sie ein Heim in Dortmund auszeichnen.