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Lukas Rietzschel: „Mit der Faust in die Welt schlagen“
Im Osten wächst die blinde Wut

Der 24-jährige Lukas Rietzschel kehrte nach einem Politikstudium im Westen zurück nach Görlitz. In seinem Romandebüt erzählt er von Verwahrlosung und Perspektivlosigkeit in der sächsischen Provinz - und vom Hass junger Neonazis auf alles Fremde.

Von Holger Heimann | 01.02.2019
    Demonstranten der rechten Szene bei einer Veranstaltung im August in Chemnitz mit Deutschland-Fahnen und Schirmen
    Demonstranten der rechten Szene bei einer Veranstaltung im August in Chemnitz mit Deutschland-Fahnen und Schirmen (dpa / Jan Woitas)
    Für die Provinz entscheidet sich in der Regel kaum einer. Wer als Schriftsteller reüssieren will, der geht nach Berlin oder zumindest nach München, Köln oder Leipzig. Auch Lukas Rietzschel, der im ländlichen Sachsen aufgewachsen ist, hat seine Herkunftsregion verlassen und in Kassel Politikwissenschaft und Germanistik studiert. Aber er ist zurückgekehrt und lebt heute in Görlitz. Es war eine sehr bewusste Entscheidung:
    "Für mich wäre es viel einfacher zu sagen, ich bin Schriftsteller. Wenn man so ein Buch schreibt, ist man das vielleicht irgendwie. Und dann ist es in Berlin viel leichter und dann ist es in Leipzig viel leichter. Da hast du deine Netzwerke und da sind sowieso alle links und progressiv und aufgeklärt und tolerant. Aber am Ende ist mir das zu wenig und irgendwie auch zu langweilig. Und dann muss man da sein, wo es wehtut. Und das erwarte ich eigentlich von ganz vielen, die sich in Berlin vielleicht so ein bisschen eingenistet haben in ihrer Blase."
    Bedrohliche Melange
    Der Roman, den er geschrieben hat, wurde oft als Buch der Stunde bezeichnet, weil er erahnen ließ, welche dumpfen Aggressionen sich in Chemnitz Bahn brachen, als eine aufgestachelte Meute Hetz auf fremdländisch aussehende Menschen machte. Natürlich konnte Lukas Rietzschel so wenig wie andere die Ereignisse vom Frühherbst vorhersehen, überrascht haben dürften sie ihn dennoch nicht. Sein Roman jedenfalls erzählt von einer bedrohlichen Melange aus Verwahrlosung, Unsicherheit, Wut und Perspektivlosigkeit in der ostdeutschen Provinz.
    Es ist jedoch kein Buch, das im Ton und Gestus einer Anklage verfasst ist. Rietzschel will vielmehr möglichst genau abbilden, was ist. Zum Schauplatz hat er ein Dorf namens Neschwitz gemacht. Die Gemeinde ist namensgleich mit einem Ort, der sich tatsächlich auf der sächsischen Landkarte finden lässt. Der Autor aber erklärt:
    "Das Dorf, was da beschrieben ist, das entspricht nicht dem Grundriss von Neschwitz. Das sind auch nicht die Menschen, die da wohnen oder irgendwas. Sondern ich wollte einfach einen Ort, der sich geographisch durchaus finden lässt. Wo man sieht, ah okay, der liegt also bei Bautzen, Hoyerswerda, so in dieser Ecke, wenn man es gut meint, dann vielleicht noch im Dunstkreis irgendwie von Dresden. Das ist letztlich nur der Versuch, einen Namen für eine Hülle zu finden."
    Verlassene Braunkohlehalden
    Es ist mithin ein Ort wie andere auch in der Region, kein ländliches Idyll, sondern viel eher ein Platz der Trostlosigkeit. Das Schamottewerk, das den Menschen früher Arbeit gegeben hat, liegt verlassen und verkommt zur Ruine. Bevor er zusammenbricht, wird der dazugehörige Schornstein gesprengt. Ringsum liegen graue, verlassene Braunkohlehalden. Die Schule im Ort hat dicht gemacht, auch die Sparkasse, die Apotheke und den Bäcker gibt es nicht mehr. Überall Niedergang und Verluste. Wer klug ist, der lässt die randständige Region, in der es nur bergab zu gehen scheint, möglichst schnell hinter sich. Viele sind in den Westen gegangen.
    Ein Brüderpaar wächst hier in der Zeit nach der Jahrtausendwende heran. Ihre Eltern sind geblieben. Der Vater hat zwar den Job verloren, aber nach etlichen Umschulungen verdient er jetzt als Elektriker wieder Geld. Sogar ein Haus baut sich die junge Familie. Der Alltag in der Provinz aber bietet nicht viel für Tobias und Philipp. Die Ausflüge mit den Großeltern zählen schon zur aufregendsten Ablenkung:
    "’Du kannst Opa’, sagte Philipp. Großvater sah zur Kreuzung. Die Ampel wurde grün, er gab Gas, schaltete hoch, in den zweiten und sofort in den dritten Gang. ‚Da’, sagte Philipp. Auf der linken Straßenseite, in einem der Wohnblöcke, war der Balkon. Er war so weit oben, dass Philipp und Tobi sich zur Scheibe beugen mussten. Die Wand war gänzlich schwarz. Das Geländer verkohlt. Der ganze Block stand leer. Da wo die Fenster in Wurfweite waren, waren sie mit Steinen eingeschlagen worden. ... Großvater schaltete höher. Der Wohnblock wurde kleiner. An der Kreuzung zum Lausitzbad war er schon nicht mehr zu sehen. ‚Was ist da passiert?’ fragte Philipp. Großvater blickte starr durch die Windschutzscheibe."
    Hakenkreuzschmierereien in der Schule
    Lukas Rietzschel weiß natürlich, dass er nicht viel erzählen muss und doch sofort die Erinnerungen an die rechtsextremen Ausschreitungen gegen ausländische Vertragsarbeiter und Flüchtlinge in Hoyerswerda aufgerufen werden. Die Stadt gelangte deswegen 1991 weltweit in die Schlagzeilen. Jahre danach will im Roman jedoch keiner darüber reden. Die Fragen der Kinder laufen ins Leere.
    Als auf dem Schulhof in der nahen Kleinstadt Hakenkreuzschmierereien auftauchen, verweigern selbst die Lehrer jegliches Gespräch. Diskutiert oder erklärt wird in dieser Welt nichts. Die Jugendlichen bleiben sich selbst überlassen. Halt und Erklärungen finden sie auch daheim nicht. Im Gegenteil: Das Haus, kaum fertig, bröckelt bald schon vor sich hin. Der melancholische Vater zieht aus und mit der Nachbarin zusammen. Die Mutter versinkt in ihrer Trauer. Philipp sucht anderswo Anschluss und landet beim Neonazi-Treff:
    "Er schätzte, wie alt sie alle waren. Um die zwanzig wahrscheinlich, einige jünger. Die meisten arbeiteten bestimmt längst. Adern an den Schläfen und Sehnen am Hals. Der Glatzkopf, die anderen nannten ihn ‚Menzel’, dieser seltsame Name, schlug dem Dicken auf den Hinterkopf. Es klatschte wie rohes Fleisch, das auf den Küchenboden fiel. Der Dicke erschrak. ‚Robert, du fettes Stück Scheiße’, sagte Menzel leise in sein Ohr."
    Afghanen oder Syrer - egal
    Lichtblicke oder Fluchtpunkte gibt es in diesem Roman nicht. Es ist dunkel in Sachsen, in manchen Ecken sogar dunkelbraun. Da ist keiner, der sich abhebt, der eine andere Haltung vorleben würde. Lukas Rietzschel erzählt von einem Häuflein Rechtsradikaler, vor allem aber von einem Dorf, das von Abgehängten und Gescheiterten bevölkert wird. Ihnen fehlt ein Ziel, ja auch nur eine Idee von Zukunft. Sie alle haben sich daher in einem Außenseitertum eingerichtet. Wo das Selbstwertgefühl ins Bodenlose sinkt, da werden bevorzugt Fremde als Feinde ausgemacht, denen man gern die eigene vermeintliche Stärke und Überlegenheit demonstriert.
    Mal sind es die Sorben, mal die "Polacken", die über die Grenze kommen und frech auf deutschen Autobahnen unterwegs sind. Einer Familie, die ein türkisches Mädchen adoptiert hat, wirft die rechtsradikale Gang einen Sack mit Fleischereiabfällen vor die Tür – eine unverhohlene Drohung. Auf einem Dorffest bleibt es nicht bloß dabei. Diesmal gibt es Verletzte, Afghanen oder Syrer – egal. Auch der jüngere Tobias gesellt sich zuletzt zu der Gruppe um Menzel, den Anführer, der ausspricht, was die anderen bloß denken:
    "’Und dann will ich auf alles einschlagen, richtig rein mit der Faust, bis alles blutet. Der ganze Mist, den einfach keiner rafft.’"
    Eine Sprache ohne Schmuck und Beiwerk
    Lukas Rietzschel treibt diese Geschichte einer Radikalisierung immer weiter voran. So wie er vom Heranwachsen von Philipp, Tobias und ihren gleichaltrigen Kumpanen erzählt, scheint deren Entwicklung nahezu zwangsläufig nur in eine Richtung weisen zu können. Sie werden nicht alle zu gewaltbereiten und dumpfen Ausländerhassern wie Menzel, aber zu jungen Männern ohne Perspektive, die nicht daran glauben, dass sie durch eigene Anstrengung etwas bewirken können.
    Wie es Rietzschel gelingt, diese umfassende Tristesse in einprägsame Bilder und Dialoge zu übersetzen, ist beklemmend und bemerkenswert zugleich. Er tut dies in einer einfachen Sprache, ohne Schmuck und Beiwerk, wie er sie womöglich den Menschen in seiner Heimat selbst abgelauscht hat. Der junge Autor, der sein Debüt mehrmals umgeschrieben hat, sieht sich selbst keineswegs als Außenstehenden:
    "Ich würde schon sagen, dass ich auf gar keinen Fall mit Verachtung auf diese Menschen blicke, sondern eher liebevoll. Alle diese Menschen, die straucheln und die träumen und scheitern irgendwie dabei. Aber ich versuch das schon auch mit einem fairen und liebevollen Blick zu machen, auf gar keinen Fall irgendjemanden zu schädigen oder verletzend sein zu wollen, sondern im Gegenteil – eine Stimme verleihen.
    Zu zeigen, ich bin eigentlich auf eurer Seite, ich bin ja da, wo ihr seid und wo es weh tut. Und ich will euch irgendwie auch helfen, dass das von außerhalb verstanden wird. Nicht weil ich der Osterklärer bin oder weil ich für euch eine Lobby bauen will, sondern weil ich will, dass man mit dem Osten spricht und nicht darüber."
    Lukas Rietzschel: "Mit der Faust in die Welt schlagen" Ullstein Verlag, Berlin, 320 Seiten, 20 Euro