Dienstag, 19. März 2024

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Luther-Ausstellung
"Es ging nicht darum, die Sprache zu vulgarisieren"

Nicht nur die Rechtschreibung - auch ganze Formulierungen und Sprichwörter würde es in unserer Sprache ohne Martin Luther nicht geben, sagt der Sprachwissenschaftler Hartmut Günther im DLF anlässlich der Luther-Ausstellung in Wartburg. Bei seiner Bibel-Übersetzung sei es Luther vor allem auch darum gegangen, dass möglichst viele Menschen seine Sprache verstehen.

Hartmut Günther im Gespräch mit Kathrin Hondl | 05.05.2016
    Porträt des Reformators Martin Luther, Ölgemälde auf Holz von Lukas Cranach d.Ae., 1528. Das Bild hängt in der Lutherhalle in Wittenberg, dem grössten reformationsgeschichtlichen Museum der Welt.
    Günther: Auch Bertolt Brecht und Heiner Müller waren von Luthers Sprache beeinflusst (picture-alliance / dpa / Norbert Neetz)
    Kathrin Hondl: Lückenbüßer und Lästermaul, Morgenland und Machtwort. Sehr unterschiedliche Wörter sind das, die aber eines gemeinsam haben sollen, nämlich ihre Herkunft. Alle stammen sie wohl aus der Sprachwerkstatt des großen Reformators, Bibelübersetzers und eben Wortschöpfers Martin Luther. Und der, der Wortschöpfer Luther, steht jetzt im Mittelpunkt einer Ausstellung am historischen Luther-Ort, der Wartburg – "Luther und die deutsche Sprache". Hartmut Günther ist Sprachwissenschaftler, emeritierter Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Köln, und hat Luthers Einfluss auf diese unsere Sprache intensiv erforscht. Ihn habe ich gefragt: Was, Herr Günther, würde uns außer Machtworten und Lästermäulern denn noch alles fehlen, wenn Luther nicht gewesen wäre?
    Hartmut Günther: Nicht nur einzelne Wörter, sondern auch ganze Formulierungen, Sprichwörter, auch ein Großteil der deutschen Rechtschreibung wäre heute möglicherweise anders, wenn es Luther nicht gegeben hätte und seine Schriften.
    Hondl: In der Rechtschreibung ist es vor allem die Großschreibung der Substantive, oder?
    Günther: Zum Beispiel. Aber auch die Interpunktion, auch die Art und Weise, wie der Kurzvokal markiert wird und ähnliches. Da gibt es also durchaus mehr, vor allem eben, dass man sich nach [...] – Luther hat sich selbst für eine, seine Rechtschreibung interessiert, und dass die auch von den Druckern und Setzern übernommen wurde, und die hat eben auch entsprechend Schule gemacht.
    "Er musste eine Sprache sprechen, die auch ankam"
    Hondl: Eine berühmte Forderung von Luther ist ja die, dass man dem Volk aufs Maul schauen müsse. Wie nahe dran an diesem Volksmaul war denn das Luther-Deutsch tatsächlich, oder wem im Volk genau hat er da aufs Maul geschaut? Also Jungen oder Alten, Bauern oder Aristokraten?
    Günther: Ich glaube, das muss man umgekehrt sehen. Luther war Zeit seines Lebens vor allem ein begeisterter Prediger, also in der mündlichen Sprache. Und er wollte, dass seine Zuhörer ihn verstehen, und dazu musste er eine Sprache sprechen, die auch ankam, und zwar nicht nur eben, weil es nicht Lateinisch war, sondern es durfte auch nicht eine hochgestochene akademische Sprache sein. Es ist aber oft gesagt worden oder behauptet worden, das sei also eben einfach die Gossensprache, auf die Luther geschaut habe – "Volk aufs Maul" hört sich ja so an – und das ist mitnichten der Fall. Darum ging es ihm nicht, die Sprache sozusagen zu vulgarisieren. Ganz im Gegenteil, an vielen Stellen schreibt er tatsächlich auch das Deutsch in einer Form, die damals möglicherweise so durchaus auffällig war. Also das "siehe, da geschah" oder "es begab sich aber" statt "es war einmal".
    Hondl: Also eine Sprache, die fesseln sollte?
    Günther: Unbedingt. Also vor allen Dingen, man merkt das sehr schön vor allen Dingen an den erzählenden Teilen in den Evangelien. Das sollte direkt so verstanden werden, aber es sollte durchaus angemessen sein in dem Sinne, dass es sich um Gottes Wort handelte und nicht um irgendeinen Räuberroman.
    Hondl: Noch heute, Herr Günther, ist es ja für Norddeutsche zum Beispiel manchmal schwierig, Schwaben oder Bayern zu verstehen, und umgekehrt ja auch. Wie war das eigentlich zu Luthers Zeiten? Konnte er sich mit seiner Deutsch-Version, sage ich jetzt mal, überhaupt überall in Deutschland verständlich machen?
    Günther: Ja nun, er hat es offensichtlich. Allerdings, das ist eben die Besonderheit, dass er aufgewachsen ist auf der Grenze zwischen den damals beiden noch unterschiedlichen Arten von Deutsch, Niederdeutsch und Hochdeutsch. Das Niederdeutsche ist dann irgendwann ausgestorben. Und in Süddeutschland hatte man tatsächlich öfter Schwierigkeiten. Es sind also schon in kürzester Zeit nach der ersten Übersetzung des Evangeliums Glossare oder Anleitungen für süddeutsche Leser erschienen, was denn wohl die Lutherschen Wörter bedeuten. Die Herausgeber, also einer, der mir da bekannt ist, schreibt eben vorher, er möchte jetzt nicht das selber ersetzen in dem Text, es soll schon der Luther-Text bleiben, aber hier hast du ein Vokabelheft, was denn solche Ausdrücke bedeuten. Also zum Beispiel "Lippe" statt "Lefze". "Lefze" können Süddeutsche sicherlich immer noch verstehen, aber das norddeutsche "Lippe" hat sich eben durchgesetzt. Da gibt es eine ganze Menge solcher Ausdrücke.
    Hondl: Hat es dann womöglich auch mit der Sprache Luthers zu tun, dass gerade in Süddeutschland ja große Teile katholisch geblieben sind?
    Günther: Das glaube ich nicht, nein. Weil die Lutherschen Texte, also vor allen Dingen seine Bibelübersetzung, nun nicht nur im protestantischen Raum gewirkt hat. Die dann im katholischen Bereich herausgekommenen Bibeln von Dietenberger, von Eck und anderen, schreiben zum Teil hemmungslos bei Luther ab, also stellen so die Sätze ein bisschen um, bis auf die inkriminierten Stellen, an denen man sagt, nein, da hat der Luther falsch übersetzt, oder das darf so nicht sein. Aber auch die katholischen Bibeln ähneln dann den protestantischen Luther-Bibeln teilweise bis auf den Wortlaut.
    "Luther war ein Angehöriger einer etwas freieren Übersetzungstheorie"
    Hondl: Es gibt ja den Spruch, ich glaube, der ist auch im Zusammenhang mit Luther entstanden: Übersetzen heißt zwei Herren dienen. Passt der eigentlich auf Luther als Übersetzer? Was bedeutete das Übersetzen für Luther?
    Günther: Das kann man, glaube ich, wieder in diesen Bereich seiner Tätigkeit als Prediger einschieben. Er wollte den Text so gestalten als erstes, einmal war das Wesentliche, dass er in der Muttersprache der Leser und Hörer geschrieben war, und zweitens, dass sie ihn wirklich verstehen konnten. Dabei ist er ein Anhänger einer etwas freieren Übersetzungstheorie und kein so echter Philologe. Ich bin beispielsweise in meiner Ausbildung ein Philologe. Ich nenne Ihnen einfach als Beispiel das Ave Maria, das ist also ja vieldiskutiert, das auf Lateinisch heißt "Plena gratia", Maria voller Gnaden. Und er sagt, das kann man nicht ins Deutsche [... unverständlich], das ist kein Deutsch, "Maria voll Gnaden", und er übersetzt es dann "Maria, du Holdselige". Ein ordentlicher Lateinlehrer würde sagen: Dr. Luther, setzen, fünf. Da steht "Plena gratia", und es steht auch im Griechischen ein anderer Ausdruck. Das ist einfach falsch übersetzt. Wenn man philologisch vorgeht. Aber Luther hat gesagt, das verstehen die Leute nicht. "Voll Gnaden; Frau voll Gnaden", das passt einfach nicht. Und dieses "voll" hat damals wohl offensichtlich auch eine etwas andere, etwas derbere Bedeutung oder Konnotation gehabt als heute. Da sagt er, das geht nicht, und übersetzt "holdselige", und das steht effektiv weder im griechischen noch im lateinischen Urtext drin.
    "Ein sprachlich ungeheuer Kreativer"
    Hondl: Also, er war ein freier Übersetzer, einer, der wirklich die Bibel umgeschrieben hat, Wörter geschöpft hat, prägnante Sprüche geprägt hat. Fiel ihm das eigentlich leicht? Hat er das so mehr oder weniger aus dem Ärmel geschüttelt? Was weiß man über seine Arbeitsweise?
    Günther: Nein, nein. Da hat er selbst – vor allen Dingen, schwieriger war es ja noch, dass also im Alten Testament, wo der hebräische Urtext da mit hinzugezogen ist, schreibt dann, dass sie manchmal, Melanchthon und seine Freunde, bis zu drei Wochen oder vier Wochen um ein Wort gerungen haben und haben es trotzdem nicht gefunden. Also einerseits war er wirklich ein sprachlich ungeheuer Kreativer. Die Sprache war ihm ganz wichtig, und die beherrschte er großartig. Auf der anderen Seite war er sich auch der Aufgabe völlig bewusst, dass es eben nicht sein kann, dass das Wort Gottes falsch übersetzt wird. Da hatte er ja auch seine philologischen Freunde. Und das ging auch nicht. Und zwischen diesen beiden Herren, nicht wahr, der Genauigkeit der Übersetzung und der Tatsache, dass der Text auch wirklich verständlich ist, dazwischen ist er dann also sozusagen immer hin- und hergesprungen.
    Hondl: Wie nahe, Herr Günther, meinen Sie, ist uns denn heute dieses Luther-Deutsch noch, abgesehen von den berühmten Begriffen und Sprüchen vom Lästermaul und dem Machtwort?
    Günther: Also wir wollen mal sagen, erstens hat es ungeheuren Einfluss auf unsere Sprache insgesamt ausgeübt. Auch eine Reihe von wesentlichen, wichtigen Schriftstellern, moderneren Schriftstellern haben aus Luther-Sprache geschöpft. Am deutlichsten ist es wahrscheinlich bei Bertolt Brecht, der das auch selbst in einem Interview mal gesagt hat: "Sie werden lachen – am meisten gelernt habe ich aus der Bibel für meine Sprache." Aber auch Heiner Müller, also ein anderer DDR-Autor, da hört man den Luther-Text sozusagen im Hintergrund. Und diese Form der Sprache, da ist sehr viel eben in die moderne Sprache übergegangen, ohne dass wir heute noch Lutherisch sprächen. Das heißt, der Luther-Text, vor allen Dingen der alte Luther-Text in der Version, sagen wir mal, von 1961 oder auch die neuere Version, ist für viele Menschen in dieser Form sehr, sehr schwer zu verstehen.
    "Luther konnte die Sprach auch prächtig, deftig und heftig nutzen"
    Hondl: Und wie groß, würden Sie sagen, war nun sein Anteil an der Entwicklung unseres modernen Neuhochdeutschen, an unserer heutigen Sprache? Hat er da tatsächlich die Grundlage geschaffen, wie ja oft gesagt wird?
    Günther: Ich würde sagen, aufgrund der Situation, auch ein bedeutender Mann wie Luther steht in einer Situation, und die Forschung der letzten 20, 30 Jahre zur deutschen Sprachgeschichte hat eigentlich gezeigt, dass er das nicht allein gemacht hat, dass alles nur an seiner Bibelübersetzung lag. Übrigens nicht nur an der, sondern auch an seinen Flugschriften und dem kleinen Katechismus und seinen Kirchenliedern. Sondern es gehörte in diese Zeit, aber er hat sozusagen ganz zentrale Weichen gestellt, eben weil dieser zentrale Text, die Luther-Bibel eben, so verbreitet war. Man schätzt, noch zu Lebzeiten hunderttausend Exemplare. Das ist eine ungeheure Menge, wenn man bedenkt, wie wenig Leute damals lesen konnten, die dann aber vorgelesen wurden, diese Exemplare. Und dadurch sich diese Art von Sprache eben fortgesetzt hat nach außen und übernommen wurde.
    Hondl: Haben Sie, Herr Günther, das wäre die letzte Frage, ein Lieblings-Luther-Wort?
    Günther: Was soll ich jetzt sagen? Ich meine, es stimmt nicht ganz, aber: "Warum rülpset und furzet ihr nicht? Hat es euch nicht geschmacket?" Das ist aus seinen "Tischreden". Es ist aber etwas umstritten, ob es wirklich von ihm ist. Aber er war einer, der die Sprache auch prächtig, deftig, heftig benutzen konnte.
    Hondl: Vielen Dank! Der Sprachwissenschaftler Hartmut Günther war das über Martin Luther und die deutsche Sprache. Dazu gibt es ab heute auch eine Ausstellung auf der Wartburg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.