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Luther lesen
"Luther ist ein Angstmensch – so wie viele heute"

Der "Spiegel"-Journalist und Buchautor Georg Diez ist Pastorensohn. Vom Glauben und von der Kirche hat er sich verabschiedet, vom ethischen Furor des Predigers nicht. In seinem neuen Buch setzt sich Georg Diez mit dem eigenen Vater und dem Reformator auseinander. "Ich sehe Luther auf der Seite der Macht und nicht des Mitleids", sagte er im Deutschlandfunk.

Georg Diez im Gespräch mit Christiane Florin | 26.10.2016
    Georg Diez , aufgenommen am 15.10.2009 auf der 61. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main.
    Georg Diez , aufgenommen am 15.10.2009 auf der 61. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main. (picture-alliance / dpa / Arno Burgi)
    Christiane Florin: Was ist das zwischen Ihnen und Martin Luther – eine Hassliebe, eine Ekelfaszination?
    Georg Diez: Erstmal eine unmittelbare Begegnung war das. Ich habe Luther einfach nur als Namen gekannt und nicht als Denkermenschen, als widerspenstigen Geist. Über den Umweg meines Vaters oder über das Nachdenken, wer ich im Verhältnis zu meinem Vater und zu dieser Kirche, deren Teil mein Vater sein Leben lang war, bin ich auf Luther gestoßen. Und am Ende ist es wahrscheinlich nicht eine Hassliebe, sondern eher ein respektvolles Auseinandergehen mit großen ambivalenten Gefühlen - und auch negativen Gefühlen. Die Begegnung war nicht rein vergnüglich.
    Florin: Mit Luther oder mit Ihrem Vater?
    Diez: Mit Luther.
    Florin: Sie beschreiben Martin Luther als sprachlichen Gewalttäter, als Wut- und auch als Angstbürger. Feiert Deutschland nächstes Jahr den Falschen?
    "Das Deutsche ist diese Mischung aus Wut und Glauben und Irrationalität"
    Diez: Wenn er gefeiert wird als der glatte Reformator, als der Mann, der das Land auf den Weg der Moderne oder damit verbunden der Rationalität gebracht hat, dann ist das die falsche Geschichte, die da gefeiert wird. Ich glaube, wenn man Martin Luther feiert, feiert man schon einen Menschen, der mitten in der deutschen Geschichte steht, in der ganzen Problematik der deutschen Geschichte. An Luther kann man schon feststellen, wie jemand widerständig, eigensinnig, oppositionell war. Das sind eigentlich Dinge, die mit dem Deutschen gar nicht so direkt verbunden werden, mit der deutschen Geschichte und was mich auch an Luther fasziniert. Aber Luthers Erbe ist eben gleichzeitig – und das ist die Ambivalenz – der Gehorsam, ist die Ordnung, ist die Irrationalität, ist ein gewisses antiwestliches Denken. Und das wünsche ich mir schon, dass man das gerade in einer Zeit wie heute versucht zu lesen, zu sehen und auch nutzbar zu machen. Man versteht schon vieles besser, glaube ich, über die sehr, sehr komplexe Situation, die gerade im Land herrscht mit, wie wir sagen, Wutbürgern, bis zur AfD, wenn man versucht, das Deutsche in diesem Mann zu verstehen. Das Deutsche ist diese Mischung aus Wut und Glauben und auch dann der Irrationalität, die mich umgehauen hat.
    Florin: Sie schreiben: "Luthers Glaube wurde aus Angst geboren und er wurde wieder zu Angst, die ihre Beruhigung im Himmel suchte, im Jenseits, im Leben nach dem Tod". Wovor hatte Luther Angst? Vor dem Papst offenbar nicht.
    Diez: Nein, aber vor allem sonst. Luther hatte Angst vor der Apokalypse. Luther hatte Angst vor dem Teufel. Luther hatte Angst vor Naturereignissen. Also, die Angst in Luther war die Angst seines Zeitalters. Abergläubisch ist ein schwieriges Wort, aber es war eine tiefe Gläubigkeit in die Anwesenheit und Realpräsenz des Teufels und in die Bestimmung, die der Teufel über das Leben des Menschen hat. Das ist eine Angst, die das Christentum einerseits versucht aufzunehmen und andererseits befeuert, weil die Angst Luthers wiederum die Angst vor dem im Gehorsamsgerüst der Kirche war. Und insofern ist Luther ein Angstmensch – so wie viele heute Angstmenschen sind – in einer Zeit, die damals sehr ähnlich war auf eine gewisse Weise wie heute – technologische Umbrüche, naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Ich glaube, die Angst, die man in Luther spürt, ist eine Angst, die man erst einmal sehen kann und muss, um durchaus heute besser zu verstehen.
    "Ich weiß nicht, ob nicht dann doch sehr viele Pfarrerselemente in mir geblieben sind"
    Florin: Mit acht Jahren haben Sie, der Pfarrerssohn, den Glauben verloren. Sie beschreiben da eine Szene im im Auto. Sie schreiben, dass Sie im Glauben eine Verabredung zur Schwäche gesehen haben, auch einen Widerspruch zum menschlichen Drang nach Autonomie. Ich kann nicht ganz glauben, dass Sie schon mit acht Jahren an Autonomie gedacht haben – oder ist das so bei Pfarrerssöhnen?
    Diez: Nein, Schwäche. Ich glaube, Schwäche war das. Das ist natürlich ein wahnsinnig problematischer Gedanke. Ich habe nur gedacht: 'Was ist das für eine Religion, die den Menschen in der Schwäche hält.' Und das ist etwas, was ich als eines der Grundprobleme des Christentums sehe, was aber auch eine Stärke des Christentums gleichzeitig ist.
    Florin: Hat Ihr Vater das als Scheitern empfunden, dass er seinen Glauben nicht an Sie weitergeben konnte und das als Pfarrer?
    Diez: Ich glaube nicht, weil mein Vater schon sehr in Autonomie wiederum gedacht hat. Er hat mir sehr viel Raum gegeben, der zu werden, der ich bin. Ich weiß auch nicht, ob nicht dann doch sehr viele Pfarrerselemente in mir geblieben sind, die sich bloß nicht in der Weise äußern, wie sie sich bei ihm geäußert haben, also, dass ein gewisser ethischer Furor da ist, auch wenn ich als Kolumnist bestimmte Dinge beschreibe. Das ist, glaube ich, etwas, was ihm gefallen hätte und was wiederum bestimmten Leuten nicht gefällt, die ein Problem auch mit seinem Protestantismus haben. Das ist ein Teil dieser widersprüchlichen Geschichte, die das Buch auch wieder für mich hochgebracht hat und klar werden hat lassen, dass natürlich schon ein Teil Luther in mir steckt, der so gegen Autoritäten oder Wahrheiten oder angebliche Wahrheiten anrennt.
    "Mein Vater mochte den Sprachschöpfer Luther"
    Florin: Was bedeutete Martin Luther für Ihren Vater?
    Diez: Er mochte den Literaten Luther, den Sprachschöpfer Luther. Mein Vater war immer ein Prediger. Mein Vater hat sehr gerne und sehr bewusst in einer klaren Sprache gepredigt, in einer sehr gegenwartsnahen Sprache gepredigt. Und das war, glaube ich, das, was ihn mit Luther verbunden hat. Die Details oder die fundamentalen Fragen, wie der Abendmahlstreit – ist Gott real präsent beim Abendmahl? –, zu solchen Dingen hat er eine sehr große Distanz gehabt.
    Florin: Sie charakterisieren Ihren Vater als freien Geist in einer unfreien Institution, in der evangelischen Kirche. Warum ist die Kirche unfrei?
    Diez: Das war die Hierarchie, die er erlebt hat. Das hat er mir auch gesagt. Das war die Nachkriegszeit, das war die Nachkriegskirche, das war eine sehr hierarchische Institution. Der Einzelne war Verfügung der Landeskirchen. Das geht dann bis zu dem absurden Moment, dass mein Vater, als meine Mutter sich von ihm getrennt hat, also als sie sich geschieden haben, dass es eine Abstimmung gab in der Gemeinde, ob mein Vater da Pfarrer bleiben darf. Das heißt, es waren diese autoritären Strukturen, die sich dann eben durch '68 – "Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren" – verändert haben. Aber das war schon die Kirche, in die mein Vater hineingegangen ist, die mein Vater gewählt hat und mit der mein Vater seine Probleme hatte.
    "Es kann heute keine mächtigere Evangelische Kirche geben"
    Florin: Und heute ist diese Kirche besser?
    Diez: Heute ist diese Kirche, glaube ich, ratlos. Was sie auch sein muss, weil der metaphysische Teil, der Glaubensteil, durch die Aufklärung so einerseits gelöst und andererseits nicht gelöst wurde. Die Frage ist natürlich immer noch: Was ist der Menschen in dieser Welt? Und darauf gibt es seit der Aufklärung sehr viele plausiblere Antworten, als sie diese Kirche liefern kann. Trotzdem gibt es natürlich diese Sehnsucht danach, etwas Größeres zu finden. Aber die Kirche hat nicht mehr das Selbstverstrauen – so habe ich es erlebt –, diese existenziellen Fragen überhaupt zu benennen. Mir tut es heute fast leid, dass die Kirche keinen Weg findet, sich zu reformieren. Es wird tatsächlich sehr viel ziemlich weichgespült, übertüncht.
    Florin: Das heißt, Sie wünschen sich eine mächtigere evangelische Kirche?
    Diez: Es kann keine mächtigere evangelische Kirche geben, weil das die Zeit ist, in der wir leben. Nein, ich wünsche mir einen Glauben, der für jeden Einzelnen da ist. Und das ist tatsächlich einfach sehr schwierig in einer Institution. Also, ich glaube, dass die Kirche, die Bach hervorgebracht hat und die Kathedralen geschaffen hat, dass das eine historische Periode war in Europa und dass das vor ungefähr 300 Jahren zu Ende gegangen ist. Insofern wäre 500 Jahre nach Luther schon die Frage: Wie kann man diese Kirche zerbrechen, um sie neu zu schaffen?
    Florin: Wenn die Sprache radikaler wäre oder kraftvoller wäre und auch die Klamotten der Mitglieder der evangelischen Kirche, so wie Sie es an einer Stelle beschreiben, wenn die etwas stilsicherer wären, wären Sie dann wieder dabei? Sie sind ja ausgetreten.
    Diez: Ja, Ich bin ausgetreten.
    "Wenn die Sprache kraftvoller wäre, dann wäre ich schon dabei"
    Florin: Ist da noch etwas in Ihnen, von dem Sie sagen würde: 'Ja, also eigentlich suche ich doch etwas, das nicht ganz von dieser Welt ist'?
    Diez: Wenn die Sprache kraftvoller und kontroverser wäre und klarer und wenn die Zusammenhänge weniger ritualisiert wären, dann wäre ich schon dabei. Wenn ich das Gefühl hätte, dort sind Persönlichkeiten, die mehr wissen über die Welt als ich oder die mir Demut lehren können, mir als Einzelnen, dann ja. Ich hatte immer das Problem – das ist vielleicht ein persönliches Problem oder auch ein generationelles Problem –, dass ich mich in dem Gottesdienst, dass ich mich in der Gruppe nicht so wohlgefühlt habe. Der Gottesdienst ist in der sonntäglichen Routine mir immer fremd gewesen und in den Abläufen selber. Gleichzeitig sehe ich die Schönheit in bestimmten Ritualen, die kirchliche sein können oder auch nicht kirchliche. Das war immer mein Verständnis auch von der Art, wie die Kirche zur Kirche geworden ist, dass der Mensch eine gewisse Ordnung braucht in dem Wochenrhythmus oder in dem Tagesrhythmus und dass das eigentlich sehr menschenzugewandte Abläufe sein können, die vom Gebet bis zum Abendmahl den Alltag gliedern und dem Alltag seine Normalität nehmen. Gleichzeitig finde ich eigentlich den Alltag das Menschlichste. Wenn es einen Glauben gäbe, der dann wahrscheinlich eher tatsächlich etwas Zenhaftes oder Buddhistisches ist, der eine Art von Unmittelbarkeit, eine Gegenwartsnähe in jedem Augenblick herstellt, wenn das die Kirche wäre, dann wäre ich schon interessiert.
    Florin: Aber Sie können ja auch in den Kirchen inzwischen Yoga machen oder sich um eine gestaltete Mitte versammeln.
    "Das Erbe zeigt sich in einer bürokratisch gefestigten Empathielosigkeit"
    Diez: Ja, das ist es halt dann auch nicht.
    Florin: Sie haben es vorhin selber schon gesagt: Sie predigen in Ihren "Spiegel"-Kolumnen ganz gerne. Eine Kolumne, die Sie geschrieben haben, hat den Untertitel: "Die Gesellschaft kippt, das Bürgertum schweigt". Es geht also um die Entwicklung der Rechten, um den Aufstieg der Rechten. Nun ergreifen die Kirchen Partei für Flüchtlinge. Wo sehen Sie Luther? In den Kirchen, im Bürgertum, in den Flüchtlingen oder im Hassmilieu?
    Diez: Ich sehe Luther leider schon auf der Seite der Macht und auf der Seite der Beharrung und nicht auf der Seite des Mitleids. Luther hat sich ab einem gewissen Punkt, relativ früh in seinem Leben – um 1525, da war er dann 40 – entschieden, mit den Deutschen, mit der Mehrheit gegen die Minderheiten zu sein, gegen die Türken und gegen die Juden. Das ist ein Erbe Luthers, was, glaube ich, in einer gewissen - Staatstreue ist das falsche Wort –, in einer bürokratisch gefestigten Empathielosigkeit sich zeigt. Es gibt gewisse Abläufe in der Flüchtlingskrise: "Wir brauchen Obergrenzen, wir brauchen irgendwie Strukturen, wir brauchen Ordnung, das ist das Wichtigste." Das fand ich nie. Ich fand nie, dass die Ordnung das Wichtigste ist, sondern dass die Menschlichkeit das Wichtigste ist. Und das ist etwas, was in Luther tatsächlich nicht zu finden ist. Insofern: Teile von Luther sind schon auf den Straßen von Dresden unterwegs und in manchen Parteien in einer Empathielosigkeit, die mir sehr fremd ist und die Luther nicht immer müsste, weil er am Anfang seines Lebens ein sehr revolutionärer und auch viel mehr den Menschen zugewandter Geist war als im späteren Verlauf seines Lebens.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Georg Diez: Martin Luther, mein Vater und ich.
    C. Bertelsmann Verlag, 17,99 Euro.