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Lyriker Jan Wagner
Frühe Lorbeeren

Es war eine Sensation: Vor einem Jahr gewann Jan Wagner den Preis der Leipziger Buchmesse - mit einem Lyrikband. Nun erscheint ein Band ausgewählter Gedichte, gleichzeitig widmet ihm die traditionsreiche Literaturwissenschaftsreihe "text + kritik" ein eigenes Themenheft. Eine gefährliche Konzentration, findet unser Rezensent.

Von Enno Stahl | 26.04.2016
    Der Schriftsteller Jan Wagner
    Der Schriftsteller Jan Wagner (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Jan Wagners "Regentonnenvariationen" gewann nicht nur als erster Gedichtband überhaupt den Preis der Leipziger Buchmesse, sondern entwickelte sich mit 40.000 verkauften Exemplaren zu einem veritablen (Lyrik-)Bestseller. Was also liegt näher, werden sich die Programmverantwortlichen seines Verlags Hanser Berlin gedacht haben, nun ein Resümee nachzulegen. "Selbstporträt mit Bienenschwarm", so nennt sich ein Band, der Wagner-Gedichte aus den ersten 15 Jahren des dritten Jahrtausends enthält, eine Blütenlese aus den bisherigen sechs Lyrikpublikationen. Gleichzeitig ehrt die literaturwissenschaftliche Reihe "text und kritik" den Autor mit einem Sonderheft, Jan Wagner scheint angekommen zu sein.
    Allerdings: Wenn man sich erinnert, ganz so unumstritten war die Preisverleihung damals nicht. In den Chor vieler begeisterter Stimmen mischten sich auch Kritiker. Das ist nur natürlich, wenn jemand so herausgestellt wird, schauen viele genauer hin. Manche meinten etwa, eine Auszeichnung für Lyrik gerne, aber warum ausgerechnet Jan Wagner? Harmlosigkeit warf man seinen Gedichten vor, ein besonders arger Kritiker sah darin einen "Offenbarungseid vor der Gegenwart" und bescheinigte Wagners Gedichten, sie feierten "Landlust und Versenkung", verklärten und verkitschten die Natur. Auch in der Lyrikerszene selbst gingen die Wogen hoch, einige äußerten unverhohlen, andere als Wagner hätten den Preis mehr verdient, die nächsten wiederum negierten das vehement und reklamierten die Auszeichnung an Wagner als Preis für die deutsche Lyrikszene insgesamt - so übrigens auch Wagner selbst.
    Die Gedichte leben vom Alltäglichen, nicht vom Politischen
    Was also ist dran am lyrischen Werk Jan Wagners? Die viel beschworene Formvollendetheit seiner Gedichte ist tatsächlich augenfällig, sie zeigt sich in den Texten seines ersten Bandes "probebohrung im himmel" bereits genauso wie in seinen späteren Veröffentlichungen. Die Sprache ist leichtfüßig und unbemüht, seine Metaphern sind ebenso einfach wie sinnfällig und treffend: "telegraphensurren des stechmückenschwarms", "der rostende colt des mondes" (zur Beschreibung des nächtlichen Las Vegas), der "bischofsstab des chamäleons". Dem Alltäglichen gewinnt er dadurch ungewöhnliche Sprachformeln ab, das gemeinsame Zusammenfalten von Laken wird so zum "wäschefoxtrott". Im Titelgedicht des preisgekrönten Bandes "Regentonnenvariationen" heißt es "ein barrel styx", die Wassertonne ein Fass, ein Barrel, das dunkelmoorige Wasser darin wie Öl, und das Ganze wie Styx der Höllenfluss. Solche Bilder produziert Wagner in Serie, ganz als wäre es nichts.
    Ein Kritiker hat gesagt, Wagner sei ein "Blickdichter", das trifft es ganz gut, seine Gedichte leben von der präzisen Wahrnehmung dessen, was da ist, das Gegenständliche, das Alltägliche - abstrakte Sachverhalte, Soziales oder gar Politisches sind ihre Sache nicht.
    Ihre Stärke liegt oft im Mittelteil, die Conclusio, der gedankliche Abschluss ist mitunter etwas enttäuschend. Tatsächlich finden sich - auch im aktuellen Auswahlband - zahlreiche Tier- und Pflanzengedichte, Harmonie herrscht vor, zumindest vordergründig. Regelrecht abgründig indes werden Wagners Gedichte eigentlich nie. Sie bleiben zumeist freundlich und eloquent, verstören nicht, beunruhigen nicht. Ihnen eignet keine Vehemenz oder radikal-subjektive Intensität. Wer das sucht, wer meint, solche Qualitäten seien letztlich der Sinn von Lyrik, ist hier falsch. Der muss zu etwas Anderem greifen. Wagner Lyrik kapriziert sich stark auf Form- und Sprachspiele, die Inhalte sind oft beinahe sekundär. Das verleiht ihr Leichtigkeit, mag manchem allerdings als Leerstelle wirken.
    Eine Kanonisierung, die das Feuilleton längst vollzogen hat
    Auch der "text + kritik"-Band lässt sich in weitesten Teilen über Form und Rahmung der Wagner’schen Lyrik aus, Äußerliches also, die Inhalte bleiben ausgespart. Ob Heinrich Deterings ungeschmälerte Eloge über den Vorstandskollegen der Darmstädter Akademie, Ernst Osterkamps gelehrte Meditationen über Wagners Pessoa-Hommage "Die Eulenhasser in den Hallenhäusern" oder Gustav Seibts Analyse der klassischen Fügung von Wagners "Canaletto"-Gedicht - bezeichnenderweise werden die Themen der Gedichte kaum verhandelt. Es geht um Autor-Subjekt-Beziehungen, um Wagner als Literaturübersetzer oder als Übersetzter. Über das innere Zentrum seiner Lyrik erfährt man erstaunlich wenig.
    Interessant in Sachen Rezeptionsästhetik ist Holger Pils' zusammenfassender Blick auf das gewaltige Echo nach der Verleihung des Leipziger Buchmessenpreises in Betrieb, Lyrikszene und Öffentlichkeit.
    Ein Fazit: Sowohl die ausgewählten Gedichte als auch das "text + kritik"-Sonderheft streben eine Kanonisierung an, die das Feuilleton schon längst vollzogen hat. Da Jan Wagner noch nicht einmal den Zenit seines Schaffens erreicht hat, ist das mehr als gefährlich - so etwas kann sich rächen, man denke an Durs Grünbein.
    Dass ein Autor, noch dazu ein Lyriker, angesichts so früher Lorbeeren konzentriert und im Sinne seiner werkimmanenten Schaffenslogik weiterarbeitet, ist ein schwieriges Unterfangen.
    Man darf darauf gespannt sein, wie es Jan Wagner gelingt.
    Jan Wagner: Selbstporträt mit Bienenschwarm. Ausgewählte Gedichte 2001-2015, 248 Seiten, 19,90 Euro.