Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

M 100 Award an Deniz Yücel
Harte Worte gegenüber "Gangstern" und "Verbrechern"

Der Welt-Reporter Deniz Yücel nahm kein Blatt vor den Mund. Bei der Verleihung des M 100 Award kritisierte er nicht nur den türkischen Staatschef Erdogan. Seine Laudatorin Ines Pohl brach eine Lanze für streitbaren Journalismus.

Von Vanja Budde | 19.09.2018
    18.09.2018, Brandenburg, Potsdam: Deniz Yücel, deutsch-türkischer Journalist, lächelt vor der Verleihung des M100 Media Award 2018 . Yücel wird für seine mutige und unerschrockene Arbeit geehrt.
    Deniz Yücel beim M100 Media Award 2018 (dpa/ )
    Für Deniz Yücel war es "eine Pause von der Pause". Er hat sich vorübergehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, um sein Jahr ohne Anklage in türkischer Einzelhaft zu verdauen. Doch gestern Abend nutzte er seinen Auftritt bei der Preisverleihung: Erst dankte der 44-Jährige noch einmal seinen Unterstützern, auch Bundeskanzlerin Merkel. Dann teilte er nach allen Seiten kräftig aus.
    Deniz Yücel: Mit Erdogan reden – aber nicht beim Staatsempfang
    "Wenn demnächst der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen Verbrecher zum Staatsempfang empfangen wird, einen Verbrecher, der sich neben vielem anderen in meinem und in vielen weiteren Fällen des Menschenraubes schuldig gemacht hat, dann müssen unsere Werte da halt durch. So scheint es, als würde sich die Bundesregierung anschicken, ein weiteres Mal all jene Menschen in der Türkei zu verraten, die sich nach einer freiheitlichen demokratischen und säkularen Gesellschaft sehnen."
    Mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan reden? Ja, sagte Yücel. Aber nicht beim Staatsempfang Ende September hofieren, sondern in einer Sprache, die "Gangster" verstünden.
    "Diese Zusammenarbeit sollte Bedingungen folgen, zum Beispiel die gängige Praxis türkischer Gerichte, für die meistens schon ein Facebook-Eintrag genügen kann, die lautet: Erst verhaften, dann Beweise suchen, dann schmoren lassen und dann, na ja, dann ist irgendwie auch egal. Diese Praxis muss aufhören. Das wäre eine Forderung, an die die Bundesregierung zum Beispiel die Fragen nach Darlehen der Kreditanstalt für Wiederaufbau verknüpfen könnte."
    Ines Pohl: Journalismus – kein Beruf für Zartbesaitete
    Die Laudatio auf den streitbaren Reporter hielt die Chefredakteurin der Deutschen Welle, Ines Pohl. Bei der Tageszeitung "taz" war sie seine Chefin, erlebte Yücel als engagiert bis über die Schmerzgrenze hinaus, ohne Rücksicht auf sich selbst. Nehmerqualitäten, die Journalisten heutzutage nicht nur in der Türkei mitbringen müssten, sagte Pohl.
    "Leider müssen wir feststellen, dass es nicht nur mehr in Lateinamerika oder auch auf dem afrikanischen Kontinent so ist, dass Kolleginnen und Kollegen bei der Ausübung ihres Berufs wirklich gefährdet sind, sondern auch bei uns hier in Europa, sogar in Deutschland. Wenn wir jetzt gucken, was in Chemnitz mit Kollegen passiert ist, die rausgehen und wirklich reportieren."
    Journalismus sei noch nie ein Beruf für Zartbesaitete gewesen, sagte Pohl, doch mittlerweile müsse die Branche auch hier zu Lande vor allem auf zwei Fragen Antworten finden:
    "Die große Herausforderung ist, dass wir Strukturen schaffen, in denen wir unsere Kollegen schützen können. Das kostet Geld. Das ist sicher die eine große Bedrohung, ganz konkret, ganz physisch. Und die andere ist sicher auch eine mentale Bedrohung. Jeder Einzelne muss sich ja fragen: Was kann ich aushalten? Das ist dann nicht nur die Sorge, dass mir jemand eins auf die Mütze gibt, sondern wie kann ich die Anfeindungen in den Social Media ertragen?"
    Ines Pohl: Raus aus der Komfortzone
    Auf die immer heftiger wütenden Shitstorms im Internet müssten Journalisten reagieren, indem sie raus gehen zu den Menschen, forderte Pohl, mit den Leuten sprechen, Fragen stellen, ihnen zuhören.
    "Und auch Antworten zuzulassen, die vielleicht unserem liberalen Weltbild nicht unbedingt entsprechen - und damit dann umzugehen. Also das ist für mich die größte Herausforderung, dass wir alle, jeder Einzelne, sich aus der eigenen Komfortzone ganz bewusst rausbewegt und wirklich reportieren, reportieren, reportieren und nicht zurückgelehnt im Sessel kommentieren und befinden, sondern die Fakten suchen, recherchieren und mit den Menschen sprechen, auch jenen, die uns vielleicht erst mal fremd sind."
    Ähnlich argumentierte der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner, der die politische Hauptrede beim internationalen Medientreffen M 100 hielt. Kritischer Journalismus erfordere Mut, wie Deniz Yücel ihn aufgebracht habe, meinte Lindner.
    "Sich selbst auch Mut zur abweichenden Meinung zuzugestehen und das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern zu suchen, in dem es nicht eine festgelegte journalistische Linie gibt, sondern dass es mehr Vielfalt, Wettbewerb und Kontroverse im Journalismus gibt, weil das die beste Voraussetzung ist, innere Pressefreiheit zu leben und das Band in eine vielfältige Gesellschaft zu wahren."