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Machtpoker um EU-Spitzenposten
"Frau Merkel sollte nicht übertaktieren"

Die Grünen-Europaparlamentarierin Rebecca Harms geht davon aus, dass der Konservative Jean-Claude Juncker trotz Zögerlichkeiten in Berlin EU-Kommissionspräsident wird. Juncker könne sich auf die Absprachen des EU-Parlaments zugunsten der europäischen Demokratie verlassen, sagte Harms im Deutschlandfunk.

    Die Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen für die Europawahl Rebecca Harms spricht am 25.05.2014 beim Europawahlabend des deutschen Informationsbüros des EU-Parlaments in Berlin auf einer Pressekonferenz.
    Die Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen für die Europawahl Rebecca Harms (dpa picture alliance / Britta Pedersen)
    Harms erklärte, die Wähler hätten den Europaabgeordenten den Auftrag gegeben, den Lissabon-Vertrag so umzusetzen, dass er dem Wählerwillen entspriche. "Wir werden darauf bestehen, dass sich der Europäische Rat nicht über den Wählerwillen hinwegsetzt", sagte Harms im Deutschlandfunk. Die Europaparlamentarier müssten zu ihrem Wort stehen, das sie vor der Wahl gegeben hätten. Die Grünen-Politikerin sagte, sie habe den Eindruck, dass sich auch die Staats- und Regierungschefs darüber im Klaren seien, dass anderenfalls zusätzlicher Schaden für den Ruf der europäischen Institutionen entstehe.
    Laut Harms haben die Vorsitzenden von fünf Europaparteien am Dienstagmorgen nach der Wahl verabredet, keinem anderen Kandidaten die Stimmen zu geben als dem, der im EU-Parlament eine Mehrheit erlangt. Gemeinsam habe man Juncker den Auftrag gegeben, um Mehrheiten zu verhandeln. Bundeskanzlerin Merkel brauche vielleicht noch Zeit, um sich durchzusetzen, so Harms.

    Das Interview in voller Länge:
    Gerd Breker: Zwei Spitzenkandidaten hat es gegeben bei dieser Europawahl, die Konservativen hatten Jean-Claude Juncker nominiert und die Sozialisten den Deutschen Martin Schulz. Dem Wähler wurde suggeriert, einer von diesen beiden wird der nächste Kommissionspräsident. Und da die Konservativen leicht in Führung liegen, müsste er eigentlich Jean-Claude Juncker heißen. Doch dann gab es den informellen Gipfel der Staats- und Regierungschefs und Frau Merkel vergibt einen Suchauftrag für den Ratspräsidenten Herman Van Rompuy nach einer für alle akzeptablen Lösung.
    Und am Telefon sind wir verbunden mit Rebecca Harms. Sie war die Spitzenkandidatin der deutschen Grünen. Guten Tag, Frau Harms!
    Rebecca Harms: Guten Tag!
    Breker: Da hatten die Wähler im Lichte dieser beiden Spitzenkandidaten gedacht, sie könnten etwas bestimmen, und dann kommen die Staats- und Regierungschefs und sagen: Allabätsch!
    Fortentwicklung der europäischen Demokratie
    Harms: Ja, es schien so. Das war nicht unbedingt unsere Absicht, als Europaparlamentarier. Es schien so, als würde diese Wahl in einem präsidentiellen System stattfinden und als würden die Spitzenkandidaten kandidieren als Präsidenten, die dann quasi die Europäische Kommission wie eine Regierung zusammenstellen können. So ist es nicht.
    Aber wie Frau Riedel richtig gesagt hat: Das Europäische Parlament hat sich eben der Erneuerung oder der Fortentwicklung der europäischen Demokratie verschrieben, wir haben uns festgelegt mit einer ganz großen Mehrheit im Europäischen Parlament, vor der Wahl und nach der Wahl, einer der Spitzenkandidaten, und zwar der, der die stärkste Fraktion hinter sich hat, der wird von uns beauftragt, eine Mehrheit zu bilden im Europäischen Parlament, damit wir ihn als Kommissionspräsidenten unterstützen können. Das ist im Moment Herr Juncker.
    Also, es wird ja im Moment gerne gewettet auf das, was da passiert, und ich bin trotz aller Zögerlichkeit in Berlin, der Meinung, dass Jean-Claude Juncker auch Kommissionspräsident werden wird, weil er sich auf diese Absprachen zugunsten europäischer Demokratie im Europäischen Parlament meiner Meinung nach verlassen kann.
    Breker: Frau Harms, war es nicht so: Die Europaparlamentarier sind die einen Akteure in diesem Spiel, die anderen sind aber doch die Wähler gewesen? Die haben doch gedacht, sie könnten da was bestimmen!
    Das Wählervotum respektieren
    Harms: Die Wähler haben uns ja jetzt sozusagen den Auftrag gegeben, den Lissabon-Vertrag so umzusetzen, dass dieser Vertrag dem Wählerwillen auch entspricht. Wir werden darauf bestehen, dass der Europäische Rat sich nicht über das Wählervotum zugunsten von Jean-Claude Juncker hinwegsetzt, sondern dass der Europäische Rat tatsächlich diesen Wählerwillen, so wie er am letzten Sonntag dann endgültig ermittelt worden ist, so wie dieser Wählerwille ausgefallen ist. Es ist wirklich so, dass wir als die direkt gewählte Institution, wir als Europaparlamentarier an dieser Stelle mehrheitlich zu dem Wort stehen müssen, das wir unserer Wählerschaft, den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union vor der Wahl gegeben haben. Und ich habe den Eindruck, dass auch Frau Merkel und andere Staats- und Regierungschefs verstanden haben, dass es ein zusätzlicher Schaden wäre für den Ruf der europäischen Institutionen, wenn das so nicht respektiert werden würde.
    Breker: Das klang allerdings in der Dienstagnacht etwas anders von der Bundeskanzlerin. Da wurde ein Suchauftrag an Herrn Van Rompuy vergeben: Irgendwie ist diese Wahl denn etwas ein Signal für mehr Demokratie in Europa gewesen oder eigentlich der Freifahrschein dafür, dass weiter in den Hinterzimmern Personalpakete geschnürt werden?
    Harms: EU-Parlament will Rad der Geschichte nicht zurückdrehen
    Harms: Ich finde, der Rat sollte sich wirklich ein Beispiel nehmen an dem, was wir als die Fraktionsvorsitzenden des scheidenden Parlaments, was wir bereits am Dienstagmorgen nach der Wahl verabredet hatten: Völlig unabhängig vom politischen Kalkül innerhalb von Fraktionen, von politischen Interessen haben wir mit den Vorsitzenden von fünf Fraktionen, also von links bis hin zur Europäischen Volkspartei, der Fraktion der Europäischen Volkspartei, haben wir keinem anderen Kandidaten als dem, der im Parlament eine Mehrheit erlangt, unsere Stimme geben werden. Wir haben Juncker zusammen diesen Verhandlungsauftrag gegeben um die Mehrheiten.
    Und Sie können sich, glaube ich, an dieser Stelle darauf verlassen, dass das Europäische Parlament in dieser Situation das Rad der Geschichte der Demokratie in der Europäischen Union nicht zurückdrehen will, sondern wirklich die Speichen ein bisschen weiter nach vorne drehen will. Ich habe eine solche Einmütigkeit und eine solche Entschiedenheit unter meinen Kollegen bisher nie erlebt.
    Breker: Nur, Frau Harms, das Parlament mag ja für Jean-Claude Juncker sein, aber der Rat ist es offenbar nicht. Ist das nicht schon jetzt angesichts der Mehrheitsverhältnisse eine Demütigung für ihn?
    Harms: Ich glaube, der Jean-Claude Juncker ist einiges gewöhnt, auch mit diesen Boys, wie die manchmal genannt werden, im Rat, also der konservativen Boygroup, die da manchmal unberechenbar ist. Ich glaube, dass tatsächlich in Großbritannien, wenn das so weiter läuft, von Cameron noch mehr Schaden angerichtet wird für den Ruf der Europäischen Institution. Der Cameron hat ja sowieso die Situation, dass er Europaskeptizismus gesät hat über viele Jahre und diese Europagegner und Nationalisten stark gemacht hat. Ich glaube, der sollte sich jetzt wirklich noch mal darauf besinnen, in welche Richtung er sein Land führen sollte. Aber ich würde mir eben auch wünschen, dass Frau Merkel sich von ihm nicht sozusagen in dieser für die europäische Demokratie so wichtigen Situation den Schneid abkaufen lässt. Also, der Suchauftrag, ich muss sagen, diese Vokabel, die hat mich auch gestört!
    Breker: Frau Merkel … Also, im Gesetz heißt es ja, eine qualifizierte Mehrheit des Rates. Frau Merkel könnte sich ja schlicht über das Votum von Großbritannien hinwegsetzen!
    Harms: Wenn man es alles positiv auslegt, dann würde ich sagen, vielleicht braucht Frau Merkel Zeit. Frau Merkel hat ja schon öfter – ich denke da zum Beispiel an die Lissabon-Situation, an den Vertrag von Lissabon, als da eine Mehrheit gebraucht wurde, auch als wir die erste Klimagesetzgebung gemacht haben –, also, Frau Merkel kann schon sich durchsetzen innerhalb des Rates. Vielleicht hat sie ein bisschen mehr Zeit sich jetzt genommen, aber sie sollte nicht übertaktieren. Es geht auch wirklich um Klarheit in einer Situation, in der in der Europäischen Union eben die wirklichen Gegner der europäischen Integration, diejenigen, die meinen, dass Bürger sich wieder im Nationalen einrichten sollen und in der Idee der Nation sich neu orientieren sollen, dass diese Leute eben Oberwasser gewinnen. Und die Auseinandersetzung um die Funktionstüchtigkeit eines demokratischen Systems in Europa, die leidet, wenn jetzt Juncker und seine Kandidatur nicht reflektiert werden im Rat.
    Breker: Im Deutschlandfunk war das die Spitzenkandidatin der deutschen Grünen für das Europaparlament Rebecca Harms. Frau Harms, ich danke für dieses Gespräch!
    Harms: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.