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Märchen eines wahren Mordes

Im Hintergrund des ersten Romans von Chloe Hooper, einer jungen australischen Autorin, liegt ein ungeklärter Mordfall. Aus Eifersucht ersticht die Frau eines Tierarztes dessen junge Sprechstundenhilfe. Die Mörderin hinterlässt einen Ort der Verwüstung, aber keine weiteren Spuren. Sie verschwindet, ihr Auto wird später an einer Steilküste gefunden. Nicht alle Einwohner des tasmanischen Städtchens Endport glauben an den Selbstmord der Täterin. Margot Harvey könnte geflohen sein, vielleicht hat ihr Mann Graeme sie aus Rache umgebracht – oder sie lebt noch?

Tanya Lieske | 25.07.2003
    Die eigentliche Romanhandlung setzt zwölf Jahre später ein, wir befinden uns in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die 22 jährige Hauptfigur und Ich-Erzählerin Kate Byrne kommt nach Endport, um an der Grundschule zu unterrichten. Ehe sie sich versieht, findet sie sich in einem Dreiecksverhältnis wieder, dessen Konstellation an das vergangene Verbrechen erinnert. Kate beginnt eine Affäre mit dem smarten Anwalt Thomas, er ist Vater ihres Lieblingsschülers Lucien und befindet sich in seinen mittleren Lebensjahren, genau wie damals der Tierarzt. Die Frau des Anwalts, Veronica, hat soeben einen Tatsachenroman veröffentlicht, in dem sie unter dem Titel Mord in Black Swan Point das Verbrechen von damals literarisch aufbereitet. Kate hat diesen Roman gelesen, er wird zum Fokus ihrer fiebrigen Auseinandersetzung mit dem Eifersuchtsdrama und mit den Absichten der Ehefrau und Konkurrentin.

    In Veronicas Augen schlief Thomas also nur mit mir, weil es ihrer Arbeit nützte. Und vielleicht hatte sie sogar Recht ... Ich stellte mir vor, wie sie den schwierigsten Teil in Mord in Black Swan Point zu schreiben versuchte, wie sie sich bemühte Mordlust zu empfinden. Auftritt Thomas – zerzaust, mit wildem Blick, nach einem Nachmittag im Haus meiner Großeltern. Er beugt sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen, und sie fragt doppelzüngig: "War’s nett?".

    Bald wird Kates Verdacht Realität. Als sie von einem Rendezvous mit Thomas zurückkommt, versagen die Bremsen ihres alten Mercedes. Unweit der Selbstmörderklippen, wo einst die Messerstecherin Margot Harvey verschwunden war, kann Kate den Wagen in letzter Minute zum Stehen bringen. Jemand hat sich an ihrem Keilriemen zu schaffen gemacht. Kate verdächtigt Veronica, und der Leser rechnet damit, dass sich das Verbrechen von damals wiederholt. Die Autorin Chloe Hooper spielt mit dieser Lesererwartung, sie setzt auf untergründige Dialoge und doppelte Handlungsböden. Für weitere dramatische Effekte sorgt die harsche Kulisse, vor der all das geschieht. Die ehemalige Strafgefangenen-Kolonie Tasmanien ist bei Hooper der Ort, an dem ungezählte Verbrechen weiterleben.

    Tasmaniens Straßen- und Ortsnamen eröffnen einen schönen Einblick in die Gefühlslage unserer Siedler. Auf dem Spielbrett führt der Weg vom Kap der Unerbittlichkeit über Niemals-Nie zum See Namenlos, vielleicht vorbei an den Sympathie-Hügeln, dann weiter zu den Selbstmörderklippen und zu einem Abendessen am Fegefeuerstein oder, wahrscheinlicher, in Teufels Küche.

    Hinter der erzählten Zeit dieses Romans, die kaum mehr als zwei Tage beträgt, tut sich wie eine Theaterkulisse das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert der Sträflingskolonie auf. Die jungen australischen Autoren lieben diesen Stoff, aus ihm entstehen üppige Historiendramen oder auch Karikaturen derselben. Chloe Hopper wählt einen anderen, einen dritten Weg. In ihrem Roman "Märchen eines wahren Mordes" untersucht sie das geistige Erbe der Kolonialzeit. So stellt ihre Erzählerin Kate eine historische Entwurzelung der Generation ihrer Eltern fest. In einem Bild führt sie dies auf die Tatsache zurück, dass die Vorfahren Strafgefangene waren.

    Mein Vater besuchte dieselbe Knabenschule wie Doktor Harvey, allerdings drei Klassen unter ihm. Diese Schule stand auf einem ehemaligen Friedhof. Vor dem Bau des neuen Unterstufenflügels musste das Gelände planiert werden. In der aufgegrabenen Erde kamen Knochen zum Vorschein, und man sah, dass es nötig war, einige Särge zu exhumieren. Einmal rissen die Ketten der Winde, und ein Sarg stürzte krachend auf den Schulhof hinab. Ein Junge wurde der Schule verwiesen, weil er hingerannt war und versucht hatte, dem Skelett den Ehering vom Finger zu ziehen.

    Mit ihren 22 Jahren fühlt sich Kate noch nicht ganz zu den Erwachsenen gehörig. Als Lehrerin entwickelt sie eine besonders enge Beziehung zu ihren Schülern. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit steht, wie könnte es anders sein, Lucien, der neunjährige Sohn ihres Liebhabers Thomas. Kates Verhältnis zu dem Jungen ist nicht frei von erotischen Schwingungen. Zugleich will sie ihn schützen, ihn seinen Eltern entziehen mit dem Argument, Luciens Kindheit sei gefährdet durch deren akademische Ambitionen.

    Er war der gebildetste Neunjährige, dem ich je begegnet war. Im Gespräch mit Lucien vergaß man sein Alter. Er war ein kleiner Conquistador, der Wissen anhäufte, und seine Theorien über alles und jedes, von der Porträtmalerei bis zur Nichtexistenz Gottes, hatten die Klasse schon oft in Aufruhr versetzt.

    Das Thema der verlorenen, aber auch der verkannten Kindheit zieht sich wie ein roter Faden durch diesen Roman. Immer öfter nimmt Chloe Hooper Kates Erzählstimme zurück. Dann kommen ihre Schüler zu direkt Wort mit Diskussionen, in denen sich auf unheilvolle Art die komplizierte Welt der Erwachsenen spiegelt.

    ALASTAIR: Wenn einem jemand im Traum einen Tritt gibt, spürt man nichts.

    HENRY: Wenn einen jemand erschießt, spürt man auch nichts.

    ALASTAIR: Und manchmal, wenn jemand ein Messer hat und einen erstechen will, kann man das im Traum zwar nicht verhindern, aber man wacht auf.

    LUCIEN: Oder man schläft wieder ein.

    Zum Ende des Romans verdichten sich die Themen des Mords, der Suche nach der Kindheit und den Eltern wie in einem Albtraum. Das Halluzinatorische ist in Kates Figur schon angelegt. Als sie sich dann auch noch betrinkt, fallen die letzten Hemmungen. Sie sucht und findet ein langes Messer, macht sich dann auf den Weg, um mit Thomas und Veronica abzurechnen. Kate will die Geschichte nach ihrem Willen zu Ende bringen. Ein formales Ende findet dieser ungewöhnliche Roman in einem zweiten Buch. Als alles vorbei ist, schreibt Kate Byrne ihre Version der Ereignisse nieder. Sie wählt dafür die Form einer Tierfabel. Der geheime Adressat dieses "Märchen eines wahren Mordes" ist Lucien:

    Der alte Rieseneisvogel sah Miss Byrne um Luciens Haus stolpern. Sein Schnabel glänzte nicht mehr pechschwarz, auch das Königsblau seines Gefieders verblasste zusehends; aber noch immer erkannte er augenblicklich, wenn eine Situation brenzlig wurde. "Die Lehrerin dieses Jungen benimmt sich unmöglich", zischte Lachender Hans.

    Im Gegensatz zu Veronicas Roman, der durch Kates Lektüre gefiltert wird, stehen Kates Aufzeichnungen dem Leser direkt zur Verfügung. Mit ihrer Tierfabel kommentiert und karikiert die Erzählerin den Haupttext. Man wird so daran erinnert, dass das "Märchen eines wahren Mordes" trotz aller Spannung kein Kriminalroman ist, vielmehr die höchst raffinierte Bestandsaufnahme jener Zeit, in der man die Schwelle zum Erwachsenenleben überschreitet. Chloe Hoopers Debüt beeindruckt durch die Souveränität, mit der sie die vielen Themen und Erzählebenen ineinanderflicht. Das "Märchen eines wahren Mordes" ist ein erster Roman, der Erwartungen weckt.