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Mahatma Gandhi
Der gewaltfreie Dschihadist

Sein Kampf gegen Gewalt machte ihn zum hinduistischen Helden. Was wenig bekannt ist: Gandhi setzte sich intensiv mit dem Koran auseinander, er bewunderte Mohammed und glaubte an das Verbindende beider Religionen. Die Konflikte zwischen dem hinduistischen Indien und dem muslimischen Pakistan ließen Gandhis Träume brutal platzen. Was nützt seine Botschaft heute?

Von Thomas Klatt |
    Gandhi sitzt in einer undatierten Aufnahme bei Muslimen in Neu-Delhi und versucht, die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Muslimen und den Hindus zu schlichten.
    Gandhi sitzt in einer undatierten Aufnahme bei Muslimen in Neu-Delhi und versucht, die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus zu schlichten. (picture-alliance / dpa)
    "Ich glaube fest daran, dass alle großen Religionen der Welt Wahrheit enthalten. Es wird keinen dauerhaften Frieden auf der Welt geben, solange wir nicht lernen, nicht nur anderen Glauben zu tolerieren, sondern als unseren eigenen zu respektieren", sagt die Historikerin Gita Dharampal-Frick vom Südostasien Institut der Universität Heidelberg. Sie zitiert aus den Schriften Mahatma Gandhis. Schon in seiner Kindheit im westindische Gujarat erlebte Gandhi den mütterlichen Pranami-Glauben als eine volkstümliche Durchmischung von Hinduismus und Islam. So las der Hindu-Priester sowohl aus dem Koran als auch aus der Bagavadgita.
    Dharampal-Frick erklärt: "Auf Grund dieser grundlegenden Erfahrung betonte Gandhis hindu-muslimische Religiosität die gemeinsame innere Bedeutung der Religion, die sich in der Stärke von individueller Verehrung äußert und weniger von der formellen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion abhängt. Orthopraxis statt Orthodoxie war es, was Gandhi wichtig war. Es war diese interreligiöse Volksfrömmigkeit, die vom Singen von Hymnen, dem Verwenden von Symbolen beiden Religionen bestimmt war, die die religiöse Dichtung Indiens darstellte. Daher wurde das Singen von Hymnen auch als tägliche Praxis in Gandhis Gebetstreffen aufgenommen, später in Südafrika und in Indien."
    Islamische Gleichheit gegen das Kastensystem
    Sowohl in seinen Studienjahren in London 1888-1891 als auch während seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt in Johannesburg und Durban 1893-1914 erfuhr Gandhi freundlichste Aufnahme insbesondere durch seine muslimischen Landsleute. Gandhi begann, den Koran und die Hadithe zu lesen. Er pries die Stärken des Islams. Gita Dharampal-Frick zitiert aus einem seiner Artikel in der südafrikanischen Presse.
    "Der Hauptgedanke des Islams war jedoch sein ausgleichender Geist. Er bot allen Gleichheit, wie es keine andere Religion auf der Welt tat. Die Doktrin der Gleichheit konnte für die Massen, die vom Kastengeist geplagt waren nur ansprechend sein."
    In Südafrika entwickelte Gandhi sein Konzept einer hindu-islamischen Geschwisterlichkeit und Nachbarschaftlichkeit gegen die südafrikanische Rassentrennung, später dann gegen die englische Kolonialherrschaft in seiner indischen Heimat. Gandhis Satyagraha, die gewaltfreie Kraft der Wahrheit, war immer auch muslimisch beeinflusst.
    Dschihad als innerer Kampf
    Dharampal-Frick sagt: "In der Tat darf man den islamischen Einfluss auf Gandhis Definition des satyagraha als einen spirituellen Kampf gegen strukturelle Gewalt nicht unterschätzen. Dschihad als innerer Kampf mit dem eigenen Gewissen nach Gandhis Interpretation inspirierte Gandhis begriffliche Erfassung von satyagraha, ein aktives Streben nach Wahrheit... In dieser Konstellation könnte Gandhi als gewaltfreier Dschihadist betrachtet werden."
    Durch Thomas Carlyle und sein Buch "Heroes and hero worship" beeinflusst wurde Mohammed zu einer persönlichen Leitfigur. Zitat Gandhi:
    "Ich las das Kapitel über den Helden als Propheten und lernte von der Größe, der Tapferkeit und der asketischen Lebensweise des Propheten." Dharampal-Frick fügt hinzu: "Es war ein glücklicher Zufall, dass er Carlyles Darstellung von 1841 kennenlernte, welche sich wohltuend unterschied von der bis dahin vorherrschenden negativen Stereotypisierung von Mohammed als Lügner und Hochstapler durch den christlichen Diskurs in Europa. Ein Mann von Wahrheit und Treue, verlässlich, brüderlich, ehrlich, leidenschaftlich, gerecht, der kleinen leisen Stimme gegenüber offen. (Ihm imponierte), dass der Prophet das bewusste Inkaufnehmen von Leid für sich selbst eben so praktizierte wie Fasten und Beten, und Gandhi versicherte: "Ich habe von ihm gelernt, dass nur der fasten kann, der einen unerschöpflichen Glauben an Gott hat und göttliche Nahrung erhalten wird."
    Auf der Suche nach Gewaltlosigkeit und Toleranz im Koran
    Die Nähe zwischen Hindus und Muslimen begründete er nicht nur im Kampf für die indische Unabhängigkeit. Gandhi suchte auch theologische Gemeinsamkeiten beider Weltreligionen, wollte er doch den zeitgenössischen Islam genau so regenerieren und revitalisieren wie den Hinduismus. So versuchte er das Sufi-Konzept der Einheit mit dem Pantheismus-Konzept der Upanishaden zu harmonisieren. Die Ideale von Gewaltlosigkeit und Toleranz wollte er auch im Koran finden. Stets versuchte Gandhi, das Gute der Religionen hervorzuheben und zu verbinden.
    Dharampal-Frick: "Der Ruhm des Islam ist nicht dem Schwert geschuldet, sondern dem Leiden, der Entsagung und der hohen Gesinnung seiner frühen Anhänger der frühen Kalifen. Der Islam ging nieder, als seine Anhänger Böses mit Gutem verwechselten."
    Fatalerweise ging das multireligiöse Konzept aber nicht dauerhaft auf. Die blutige Trennung zwischen dem hinduistischen Indien und dem muslimischen Pakistan ließen Gandhis Träume brutal zerplatzen. Ulrike Freitag, Direktorin des Berliner Zentrums Moderner Orient, ist daher auch vorsichtig, ob man Gandhis Ideen so ohne weiteres auf die heutigen Probleme übertragen kann.
    "Jede Reformbewegung ist stark in ihre Zeit eingebettet. Selbst wenn heute ein Diskurs über die Frage von Gewalt und Gewaltfreiheit unter Muslimen geführt wird, dann geschieht es vor dem Hintergrund des Kampfes gegen den Terror des 11. September, etc. Damals stand der Kampf gegen den britischen Kolonialismus im Vordergrund."
    Gandhis Idee eines multireligiösen Miteinanders sollte aber Anlass sein, auch auf das muslimische Leben in weiter entfernten Regionen der Welt zu schauen, meint die Berliner Historikerin Ulrike Freitag.